18:35 Uhr
Eduard Höcherl rast mit seinem Roller durch den Olympiapark. Wenige Minuten zuvor hat das Klinikum Schwabing bei Chefarzt Höcherl angerufen: Es gab Schüsse am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ). Die Rettungsleitstelle rechnet mit bis zu 50 Schwerverletzten. Sie alarmiert Kliniken in ganz München, ruft einen „MANV“ aus: Massenanfall von Verletzten. Hunderte Ärzte und Pfleger werden einbestellt. Ausnahmezustand. Höcherl gibt Gas.
Keine zwei Kilometer nordwestlich versteckt sich David S. in einer Wohnanlage in der Henckystraße. Er hat seit etwa einer halben Stunde nicht mehr geschossen. Anwohner sehen ihn im Treppenhaus, er zückt seine Waffe nicht. Keiner von ihnen weiß, dass der 18 Jahre alte Schüler am OEZ neun Menschen getötet hat.
Der Amoklauf ist vorbei, doch der Terror, der in dieser Nacht München in Panik versetzen und die ganze Millionenstadt lahmlegen wird, der hat gerade erst begonnen.
18:49 Uhr
In der Einsatzzentrale des Polizeipräsidiums geht ein Notruf ein: Am Stachus, dem Karlsplatz im Herzen Münchens, seien Schüsse gefallen. Wenig später treffen erste Polizisten dort ein.
2300 Beamte sind in dieser Nacht in der Stadt unterwegs, darunter auch bewaffnete Zivilbeamte. Augenzeugen halten sie für Täter. Dieses Missverständnis trägt dazu bei, dass die Polizei am Ende bilanziert: 67 Einsätze an 67 Tatorten - und 66 Mal falscher Alarm.
Wie können aus einem Tatort 67 werden? Warum bricht Panik aus, als der Amoklauf des David S. schon lange vorbei ist? Warum verfallen die Bewohner dieser sonst so gemütlichen Stadt in eine kollektive Hysterie?
18:56 Uhr
Ein junger Mann, der sich online @JackieFakkinDaniels nennt, überträgt mit seinem Handy über die Internet-Plattform Periscope Live-Bilder vom Polizeieinsatz am OEZ ins Netz. Er spricht mit ruhiger Stimme. „Angeblich gab es einen Schützen”; „da, zwei Polizisten mit Maschinengewehren”; „es kommt eine Frau, die hat geweint”; „kranker Scheiß.” Bald sind mehr als 100 000 Menschen live dabei. Fernsehsender und Internetseiten stürzen sich auf das Material.
@JackieFakkinDaniels liefert in Echtzeit Bilder, dazu wenig Information, aber auch wenig Spekulation. In den sozialen Netzwerken wird da schon lange diskutiert: Ist das ein Terroranschlag?
Die Erinnerung an Nizza ist noch frisch. Erst acht Tage ist es her, dass ein Attentäter mit einem Lkw 86 Menschen getötet hat. Und dann der Junge, der mit einer Axt auf Menschen in einem Zug bei Würzburg losging. Täter, die töten wollen. Täter, die Terror verbreiten. Täter, die sich überall in der Stadt aufhalten könnten.
19:00 Uhr
Die Tochter von Marcus da Gloria Martins rennt in die Küche. „Papa, Papa, in München wird geschossen. Das hab ich gerade im Radio gehört.” Da Gloria Martins greift nach seinem Handy und muss es aufladen - der Akku ist leer. Kaum eingeschaltet, ploppen Dutzende Nachrichten im Display auf. Da Gloria Martins fährt sofort ins Polizeipräsidium.
Die Beamten der Münchner Polizei werden an diesem Abend unterstützt durch das Spezialeinsatzkommando der Polizei, die Antiterroreinheit GSG 9 der Bundespolizei, Polizeikräfte aus Österreich. Da Gloria Martins ist Pressesprecher - und der wichtigste Polizist in diesem Einsatz, weil er sich an diesem Abend mit den mächtigsten Gegnern auseinandersetzen muss: der Angst. Mit falschen Gerüchten, die echte Panik auslösen. Und mit der ungeheuerlichen Geschwindigkeit, mit der sich die Fehlinformationen verbreiten. Von Mund zu Mund. Von Smartphone zu Smartphone. Von sozialen Medien zu TV-Sendern und Nachrichtenseiten und zurück.
Bei der Polizei München laufen an diesem Abend im Schnitt mehr als 700 Anrufe pro Stunde ein, viermal so viel wie an einem normalen Tag. Dazu mehr als 113 000 Kurznachrichten bei Twitter. Und eine noch viel größere Zahl an Kommentaren und Nachrichten bei Facebook, bei Whatsapp, Instagram und Snapchat.
Allein um 19:00 Uhr, als noch nichts über den Täter oder seine Motive klar ist, mutmaßen 40 Nutzer auf Twitter, dass es sich bei der Tat um einen Akt des Terrors handelt, drei weitere fragen: Terror oder Amok? Im weiteren Verlauf der Nacht - das zeigt eine Twitter-Analyse - wird von einem Amoklauf kaum noch gesprochen. Der Terror hat, zumindest für einige Stunden, gewonnen. In den sozialen Medien. Und in den Köpfen der Menschen.
19:02 Uhr
@itsflyingbird* ist am Stachus und diskutiert mit einer Freundin auf Twitter. Sie schimpft über Leute wie @JackieFakkinDaniels, die während des Polizeieinsatzes mit ihren Smartphones den Polizeieinsatz live ins Netz übertragen und fordert sie auf: „Geht nach Hause!” @itsflyingbird antwortet: „Manche haben es halt nötig, aber so erfährt man wenigstens bevor es die im Fernsehen bringen.” Ob man auf Twitter Fakten erfährt? Sie schreibt: „Fakten wird man so nicht bekommen. Nur noch mehr Unruhe.“ @itsflyingbird stimmt ihr zu. Dann schreibt er diese Kurznachricht:
Es ist der erste Tweet, der Schüsse am Stachus erwähnt.
@itsflyingbird beschreibt sich selbst als „Social Media Guy“. Auf Selfies trägt er die Haare lässig zur Seite gekämmt. Er zeigt sich beim Sprung in den Pool oder mit schwarzer Kapuze auf dem Kopf. Heute, zwei Monate später, möchte er nicht darüber reden, wo und wie er die Schüsse gehört haben will. „Das Ganze nennt man Social Media, und Wahrheiten sind da nicht unbedingt auf dem Tagesplan“, sagt er. Nur so viel: Man solle seinen Tweets nicht glauben. Die Wahrheit werde man ohnehin nicht erfahren. Dann beendet er das Gespräch. Und löscht seinen Tweet von damals.
Ist @itsflyingbird der „Patient null“ im Netz für das Gerücht, am Stachus werde geschossen? Er ist auf Twitter nicht besonders einflussreich, hat nur 116 Follower, niemand teilt seinen Tweet. Aber jeder, der auf Twitter in der Amoknacht nach dem Stachus sucht, kann seine Nachricht finden und auf anderen Wegen verbreiten.
Bis zum nächsten Morgen wird der Stachus in 1600 Tweets erwähnt werden.
Unter diesen 1600 Tweets sind auch viele, die nur Fragen stellen, ob es wirklich Schüsse gegeben habe und viele, die das Gerücht bezweifeln. Doch bis offiziell dementiert wird, dass am Stachus geschossen wurde, wuchert das Gerücht tausendfach durchs Netz.
19:04 Uhr
Der Journalist Marc Müller steht in einem Hochhaus direkt über dem Olympia-Einkaufszentrum. Die Polizei hat ihn aus Sicherheitsgründen dorthin gebracht. Noch ist unklar, wo sich der Täter befindet - Passanten, Gaffer, Journalisten müssen weg vom Tatort, weg von den Straßen um das OEZ herum.
Müller hatte bereits wenige Minuten nach den Schüssen im McDonald’s an der Hanauer Straße von Informanten einen Tipp bekommen, seine schusssichere Weste angelegt und war mit dem Auto in Richtung Olympia-Einkaufszentrum gefahren. Müller ist kurz nach seiner Ankunft über eine Wohnsiedlung hinauf auf das erste Deck des Parkhauses gerannt und hat die Kamera auf einen Seiteneingang des Einkaufszentrums gehalten. Was er nicht wusste: Wenige Minuten zuvor befand sich der Täter David S. nur wenige Meter Luftlinie entfernt auf dem Parkdeck über ihm.
Jetzt sitzt Müller im Hochhaus fest. Der Nachrichtensender n-tv sucht einen Augenzeugen und bittet ihn um eine Schilderung der Situation übers Telefon, live auf Sendung. Müller wirft eine Minute vor Beginn des Interviews noch einen Blick in eine Whatsapp-Gruppe mit Informanten. Dort schreibt einer, es gebe Schüsse am Stachus. Müller hat wenige Sekunden Zeit, zu überlegen, ob er diese Information weitergibt.
Müller wird später sagen: „Ich musste abwägen: Schütze ich damit Menschen, weil sie vom Stachus fernbleiben oder löse ich eine Massenpanik aus?” Die Medien hätten die Hysterie vielleicht verbreitet, aber ausgelöst habe sie jemand vor Ort. Deswegen bereue er seinen Satz auch nicht: „Hätte ich die Information nicht weitergetragen, hätte es spätestens fünf Minuten später ein anderer Journalist getan.“
In den sozialen Netzwerken wird seine Aussage sofort weiterverbreitet, auch auf Twitter:
Müller sagt, seine Quelle habe eine Durchsage abgehört, die in einem Rettungswagen über Funk einging, und dort von der Schießerei am Stachus erfahren. Da ist er nicht der Einzige.
Das Münchner Boulevardblatt tz will über Polizeifunk von Schüssen am Stachus erfahren haben und schreibt das auch in seinen Liveblog. Aus der Nachricht, „es soll Schüsse gegeben haben“, wird in wenigen Minuten eine „schwere Schießerei“.
Auch auf Twitter verbreitet sich das Gerücht rasant. Einige Nutzer wollen wissen, ob es stimmt und schreiben die Polizei direkt an. Andere spekulieren. Ein Journalist, der sich auf Twitter einen „Senior Investigative Correspondent” nennt, tippt: „Unconfirmed: Suspect could have escaped towards central station.” (Unbestätigt: Der Täter könnte zum Hauptbahnhof geflüchtet sein.)
Auf das Gerücht Stachus folgt so das Gerücht Hauptbahnhof. Dazu werden unzählige Fotos aus der Innenstadt verbreitet: ein Polizeihubschrauber vor grauem Himmel, Polizeibusse an der Sonnenstraße, schwerbewaffnete Polizisten mit Waffen am Anschlag, Blaulicht überall. Und eine leergefegte Kaufingerstraße.
19:05 Uhr
Gudrun Riedl steigt am Hauptbahnhof in ein Taxi. Die Journalistin des Bayerischen Rundfunks hat über Twitter von den Geschehnissen erfahren und will schnellstmöglich in ihre Redaktion. Kurz nachdem sie losgefahren ist, erhält der Taxifahrer die Nachricht aus seiner Zentrale, den Stachus weiträumig zu meiden. Die Nachricht leuchtet auf seinem kleinen Mitteilungsbildschirm auf. Gudrun Riedl twittert ein Foto, das fast 400 Nutzer weiterverbreiten. Damit ist Riedels Tweet einer der meist verbreiteten des Abends zum Stichwort Stachus:
Er wird insgesamt mehr als eine Million mal auf Twitter gesehen werden. Mit dieser Wirkung hat die Journalistin nicht gerechnet. „Mein Gefühl war, dass es richtig war zu twittern, damit die Leute die Innenstadt meiden”, sagt Riedl später.
Die Menschen, die in dieser Nacht Gerüchte verbreiten, wollen damit in den seltensten Fällen Panik schüren, sondern Information weitergeben, letztlich: helfen.
Grund für die Nachricht des Isarfunks an alle Taxifahrer waren die Meldungen zahlreicher Mitarbeiter, die der Zentrale Unruhen am Stachus gemeldet hatten. Etwa zur selben Zeit stellt die Münchner Verkehrsgesellschaft die Fahrten aller U-Bahnen, Busse und Straßenbahnen im Stadtgebiet ein.
19:08 Uhr
Zehn Minuten nachdem da Gloria Martins’ Tochter ihren Vater auf die Schießerei in München aufmerksam gemacht hat, postet die Social-Media-Abteilung der Polizei zum ersten Mal eine Nachricht zu den Schüssen am OEZ auf Facebook.
26 314 Menschen teilen diesen Post, mehr als 1242 schreiben einen Kommentar darunter. Sie wünschen der Polizei alles Gute. Sie geben Hinweise. Sie verbreiten Gerüchte. Und wollen wissen was los ist.
19:15 Uhr
Herbert Ebner sitzt bei seinen Stammgästen im Münchner Hofbräuhaus. Einige haben ihre Smartphones gezückt und lesen sich die neuesten Opferzahlen vor: zwei Tote, drei Tote, vier Tote. Ebner, der Verwaltungschef der Großwirtschaft, kommt sich vor wie in einer morbiden Gameshow. „Jetzt packt halt eure Handys weg“, sagt er. Ebner hat gerade einen Wurstsalat bestellt, als eine aufgebrachte Gruppe in den Wirtssaal platzt.
Ein Mann schreit „Shooting, Shooting“ und rennt Richtung Biergarten. Die Stimmung kippt. Gäste stolpern vom Haupteingang zu den hinteren Notausgängen, einige rennen in Panik in die oberen Stockwerke. Tische fallen um, Krüge gehen zu Bruch, Portemonnaies, Handys und Rucksäcke bleiben auf den Bänken liegen. Ein Kind lässt seinen Puppenwagen stehen. Mehrere Gäste schlagen mit Maßkrügen und einer Bank die Fensterscheibe ein.
Ungewissheit erzeugt Angst. Und in der Angst kann ein einfaches Türenknallen zu einem Schuss anwachsen und ein einfacher Regenschirm zu einer Schusswaffe werden. Wo einer rennt, rennen wenige Sekunden später Dutzende oder verbarrikadieren sich in Toiletten.
19:16 Uhr
Auf Twitter taucht ein erstes Dementi des Stachus-Gerüchts auf, zunächst mit dem TV-Sender RTL als Quelle. Es folgen mehrere Tweets von Münchner Reportern, die sich auf die Polizei oder ihre Kollegen vor Ort beziehen. Dass sich das Gerücht weiter hartnäckig verbreitet, liegt wohl auch daran, dass es die Polizei in den sozialen Netzwerken zunächst nicht selbst dementiert – und einige Medien weiter von der angeblichen Schießerei berichten. Auch die SZ schreibt: „Die Polizei bestätigt Augenzeugenberichte, wonach es zu Schüssen auch in der Münchner Fußgängerzone gekommen ist” und dementiert das Gerücht erst eineinhalb Stunden später.
Was in München in diesen Stunden passiert, kann Elodie Fichet von der University of Washington einordnen. Sie erforscht seit drei Jahren, wie Gerüchte in sozialen Netzwerken wirken.
„Twitter und Facebook ersetzen uns live die Augenzeugen“, sagt sie. Gerüchte stifteten Sinn und füllten ein Informations-Vakuum: „Besonders erfolgreich sind Gerüchte immer dann, wenn sie eine akute Wissenslücke stopfen.“
Übertragen auf den Münchner Amoklauf heißt das: Die Münchner wussten von einer Schießerei und von Toten. Aber sie hatten natürlich Fragen. Sie wollten wissen, wer der oder die Täter sind, wo die Angreifer sich befinden und welche Gefahr bestand – ganz konkret, in diesem Moment, für sie selbst, für Familie und Freunde. Die Gerüchte über Terror-Attacken in der ganzen Stadt haben nicht nur Panik verbreitet. Sie waren – wenigstens für einen Augenblick – auch Antworten. Ein Erklärungsangebot, das am Ende natürlich gar nichts erklärte.
19:20 Uhr
Chefarzt Höcherl verfolgt den Verlauf der Ereignisse auf einem großen Bildschirm im Klinikum Schwabing. Der Monitor hängt in der operativen Zentrale gleich über der Glastür, durch die Höcherl den Eingang im Blick hat, über den die Notfälle ankommen. Der Nachrichtensender N24 läuft. Immer wieder schauen Mitarbeiter vorbei, die in leeren OP-Sälen auf Verletzte warten und unruhig die Meldungen auf ihren Smartphones checken. Höcherl sagt ihnen, die Rettungsdienstleitstelle bestätige bisher keine weiteren Ereignisse.
19:25 Uhr
Marta Völkers* steigt am Isartor aus der S-Bahn. „Schüsse, Schüsse“, schreit ein Mann. Sie bricht das Telefonat mit ihrem Freund ab, „hier wird geschossen“, sagt sie noch. Sie rennt in einer Gruppe über die Zweibrückenstraße zum nächsten Geschäft, wo sich alle für zehn Minuten hinter einer Tür verschanzen. Sie sagt: „In so einem Moment bist du nicht rational, du rennst einfach mit.“
Facebook hat inzwischen wie schon bei den Terroranschlägen in Paris und Nizza seinen „safety check” aktiviert. 315 000 Nutzer werden im Laufe der Nacht so ein Lebenszeichen an Freunde und Verwandte senden. Der „safety check” mag beruhigend auf das Umfeld von denen wirken, die ihn aktivieren. Er kehrt aber auch die Beweislast um: Ist nicht jeder in Gefahr, der sich nicht als sicher markiert hat?
19:28 Uhr
Im Hofbräuhaus versucht Herbert Ebner mit seinen Mitarbeitern, die Gäste von den oberen Stockwerken zu den Notausgängen zu leiten. „Die Leute sind wie Elefanten im Porzellanladen geflüchtet. Da wäre ich mit Reden nicht weitergekommen, auch wenn ich nicht an die Schüsse geglaubt habe.“ Etwa 1500 Gäste drängeln aus der Gaststätte. Eine mazedonische Touristin fällt in dem Tumult aus dem Fenster und bricht sich mehrere Knochen.
19:30 Uhr
Tausende Gäste verlassen das Open-Air-Festival Tollwood, das nur etwa zwei Kilometer vom OEZ stattfindet. Grund dafür ist der unsichere Aufenthaltsort des Täters. Panik bricht hier nicht aus. Auf Twitter setzen User mehr als 172 Tweets zum Stichwort Tollwood ab, einige berichten auch hier von Schüssen, es gibt aber auch auffallend viele Dementis. Der meistgeteilte Tweet, in dem das Tollwood erwähnt wird, ist mit 117 Retweets der von @nacht_falter_2, einer Frau, die für ihre Schwester, die nicht mehr vom Festival-Gelände wegkommt, einen Unterschlupf sucht. Später schreibt @nacht_falter_2, ihre Schwester sei doch sicher daheim angekommen. Der Twitter-Nutzer, der am zweithäufigsten geteilt wurde, bietet unter #offenetuer eine Übernachtung an..
19:35 Uhr
Holger Schmidt nennt sich auf Twitter @terrorismus, bei der ARD ist er Terrorexperte. Eine halbe Stunde nach der ersten Erwähnung der angeblichen Stachus-Schießerei schreibt er:
Schmidt sagt, die Nachricht habe ihn von zwei unterschiedlichen Personen aus Polizeikreisen erreicht. „Eine meiner Quellen hatte die Motivation, die Leute zu warnen, sie ist davon ausgegangen, dass die Gefahrenlage sehr akut ist.“ Ob er den Tweet so noch einmal absetzen würde? Schmidt: „Das ist eine schwierige Frage, ich hatte ja zwei Quellen, die ich gut kenne und denen ich vertraut habe.“
19:40 Uhr
Eine Frau, die sich in dem Tumult am OEZ den Arm gebrochen hat, wird im Klinikum Schwabing auf innere Blutungen untersucht. Massenanfall von Verletzten, das heißt auch: Sofort behandelt werden darf nur, wer mit inneren oder äußeren Blutungen in Lebensgefahr schwebt. Sechs Operationssäle stehen leer. Aber der gebrochene Arm der Frau darf erst am nächsten Tag operiert werden.
Währenddessen fahndet die Polizei nach mehreren Tätern. Augenzeugen haben über die Notrufzentrale von zwei Männern berichtet, die in einem roten Mercedes vom OEZ weggerast seien. Und auch von Männern mit Waffen. Später wird sich herausstellen: Die Bewaffneten waren Beamte in Zivil.
Die Unklarheit über die Anzahl der Täter verunsichert die Menschen, die in der Stadt unterwegs sind oder die Nachrichten im Netz oder im Fernsehen verfolgen. Wenn es wirklich mehrere Täter sind – ist dann nicht ein Terroranschlag wahrscheinlich?
19:41 Uhr
In den beiden Stunden nach dem Amoklauf kommuniziert die Polizei auf Twitter und Facebook sehr zurückhaltend. Erst 39 Minuten nachdem das Stachus-Gerücht zum ersten Mal aufgekommen ist, erwähnt sie zum ersten Mal die angebliche Schießerei in der Innenstadt und schreibt:
Die Polizei steckt in einer Zwickmühle: Wenn sie Informationen zurückhält, hält die Panik an. Gibt sie aber falsche Informationen raus, untergräbt das ihre Glaubwürdigkeit.
„Wir kamen mit der Prüfung der Notrufe nicht hinterher. Gleichzeitig wussten wir, dass es die Möglichkeit eines Zweit- oder Dritt-Anschlages gab, so wie in Frankreich“, sagt Marcus da Gloria Martins. „Wir mussten von mehreren Tätern ausgehen und konnten nicht von der Hand weisen, dass es sich grundsätzlich um einen terroristischen Akt handelt. Wie wollen Sie entwarnen, wenn Sie selber nicht wissen: War es ein Täter, waren es zwei oder drei?“
Nur wenige Minuten nachdem die Polizei ihren Tweet über die unklare Lage am Stachus abgesetzt hat, dementiert der Bayerische Rundfunk über den Twitterkanal @BR24 das Stachus-Gerücht über die Schießerei mit Verweis auf die Polizei.
Die Nachricht wird 677 Mal retweetet - keine andere Nachricht zum Stichwort Stachus verbreitet sich an dem Abend so oft. Das Gerücht hat sich damit aber noch nicht erledigt: Viele Medien berichten weiter über die Schüsse am Stachus, darunter auch die SZ.
Auf Twitter ebbt das Gerücht aber langsam ab. Die Polizei dementiert erst eineinhalb Stunden später: Man könne keinen weiteren Tatort bestätigen. Reporter, die hartnäckig den aktuellen Stand erfragen, sind schneller als die Polizei auf ihren Kanälen im Netz. Da Gloria Martins sagt, man habe aufgrund der Vielzahl an Gerüchten um Tatorte und dem personellen Engpass nicht jedes Gerücht einzeln im Netz dementiert.
19:44 Uhr
Die Verwirrung über die Zahl der Täter ist groß. Die Polizei spricht von ihnen im Plural. Karsten Riechers, ein Redakteur der Bild in München, ist der Erste, der auf Twitter von „mindestens drei Tätern“ auf der Flucht berichtet.
@KarstenRiechers, wie der Journalist auf Twitter heißt, hat mehr als 500 Follower, sein Tweet wird 31 Mal geteilt. Riechers möchte sich heute nicht mehr zu seiner Nachricht äußern. Der damals von ihm zitierte bayerische Innenminister Joachim Herrmann teilt mit, er habe sich in seinen Formulierungen an die Information der Polizei gehalten: drei Täter auf Basis von Augenzeugenberichten.
In den folgenden Stunden ist immer wieder von „mindestens drei Tätern” die Rede. Das ist das fatale an dieser Echtzeitkommunikation mit unbegrenzt vielen Teilnehmern. Eine kleine Ungenauigkeit, ein kleiner Fehler multipliziert sich in kurzer Zeit. Aus „Schüssen” wird eine „Schießerei” und dann eine „schwere Schießerei”. Aus „einem Täter” werden „die Täter” und dann „mindestens drei Täter”.
19:47 Uhr
Die Polizei setzt eine der erfolgreichsten Kurznachrichten dieses Abends ab.
7000 Retweets - mehr erzielen an diesem Abend nur die Bitten der Polizei, keine Videos zu posten; sie werden zusammengerechnet mehr als 47 000 Mal verbreitet.
Zur selben Zeit mehren sich Gerüchte um weitere Schüsse in der Innenstadt: am Isartor, am Marienplatz, in der Kaufingerstraße und im Hofbräuhaus. @Coertes*, 15, aus Stuttgart, der sich auf Twitter als „Mensch mit schwarzem Humor“ beschreibt, der „gern Löcher in die Luft starrt“, verfolgt die Ereignisse in München über das Internet. Parallel kommuniziert er über den Internet-Telefondienst Skype mit einem Freund, der in München lebt. Dann schreibt er auf Twitter:
Später kann @Coertes nicht mehr sicher sagen, woher er die Information hatte. Er glaubt, sie in einem Liveblog gelesen zu haben oder bei einem anderen Twitterer. Es könne gut sein, dass er die Quelle vielleicht nicht so gut überprüft habe.
„Viele nutzen Twitter so, als würden sie laut denken”, sagt die Forscherin Fichet.
All das, was auf dem öffentlichen Kanal Twitter läuft, ist aber nur ein winziger Teil der Kommunikation, die an dem Abend Panik und Angst verbreitet hat. Marcus da Gloria Martins sagt, dass gerade in den ersten Stunden nach dem Amoklauf ein Großteil der Gerüchte über Messengerdienste wie Whatsapp gelaufen sei. Er nennt es das „Stille-Post-Syndrom 2.0”: Eine Information läuft über mehrere Gruppen von Chat zu Chat. Fakten werden unsauber weitergegeben, es wird diskutiert. Und am Ende der Kette steht jemand, der die Lage als absolute Katastrophe empfindet und bei der Polizei anruft. Auch im Hofbräuhaus ist nach Informationen der Polizei auf diesem Weg ein Notruf entstanden. Aus einer Frau, die auf der Toilette sitzt und von der Schießerei in der Innenstadt berichtet, wurde nach mehreren Verbreitungen in diversen Chats: Eine Frau sitzt im Hofbräuhaus auf der Toilette fest, dort wird geschossen.
19:50 Uhr
Ein Krankenwagen fährt die verletzte Mazedonierin aus dem Hofbräuhaus ins Klinikum Schwabing. Sie wird das Krankenhaus erst Tage später wieder verlassen. Und sie ist die zweite und damit letzte Patientin des befürchteten Massenanfalls - zumindest im Schwabinger Krankenhaus. Insgesamt verletzten sich an diesem Abend 36 Menschen aufgrund des Amoklaufes. Darunter sind die schwer Verwundeten aus der Schießerei am OEZ, aber auch viele, die sich in Paniksituationen weit weg vom Tatort verletzten.
20:28 Uhr
Der Täter David S. erschießt sich
vor den Augen von Polizisten
in einer Parkanlage an der Henckystraße 3, einer Sackgasse wenige hundert Meter vom Olympia-Einkaufszentrum entfernt. Die Beamten wissen noch nicht, dass es sich dabei um den einen Täter handelt.
Immer noch gehen Notrufe bei der Polizei ein. Auffällig oft haben sie den Inhalt „Schüsse”. Marcus da Gloria Martins erklärt sich das so: „Ich glaube, das war ein gruppendynamischer Prozess. Die Menschen sind in ihrer Verunsicherung in ein archaisches Grundprogramm zurückgefallen und haben harmlose Dinge als Bedrohung empfunden.”
20:29 Uhr
Die Polizei veröffentlicht eine Pressemitteilung mit dem Titel „Terrorverdacht in München”. Darin beschreibt sie Details zum Beginn des Vorfalls und verweist auf Zeugen, die „bis zu drei verschiedene Personen mit Schusswaffen” gemeldet hätten. In dieser Minute enthalten 108 Tweets den Begriff „Terror”. Jetzt nimmt die Fehlinformation an Fahrt auf. Wenige Minuten später erreicht die Aufregung auf Twitter mit 366 Tweets pro Minute ihren Höhepunkt. Um 20:36 Uhr fällt der Begriff Terror in 196 Tweets.
21:17 Uhr
Marcus da Gloria Martins tritt zum ersten Mal persönlich vor die Kameras, in einem provisorisch eingerichteten Medienzentrum im Autohaus Wickenhäuser am OEZ.
Da Gloria Martins spricht auch über die vielen Notrufe, die von anderen Tatorten berichten, und sagt, „dass sich diese zweiten Schauplätze in dieser Form nicht bestätigt haben”. Eine Journalistin hakt nach: “Es heißt, einer der Täter sei erschossen oder habe sich erschossen?”
„Da kann ich Ihnen momentan keine Auskunft geben.”
Warum hält da Gloria Martins die Information über den Toten zurück? „Das wirkt vielleicht zögerlich, aber wir wussten noch nicht, ob es der Täter ist, und ich wollte keine Deutung festlegen“, sagt der Polizeisprecher heute. Die Beamten nähern sich der Leiche von David S. derweil nur langsam und vorsichtig, weil sie in seinem Rucksack eine Sprengfalle befürchten.
21:30 Uhr
Herbert Ebners Mannschaft bereitet im leer gefegten Hofbräuhaus alles für den nächsten Tag vor. Scherben landen im Mülleimer, die Tische werden wieder aufgestellt und neu gedeckt. Die Fundsachen, darunter Handys, Jacken, Flipflops und zig Geldbeutel, landen fein säuberlich aufgereiht auf einer Tischreihe.
22.00 Uhr
Chefarzt Höcherl schlägt vor, eine Pizza zu bestellen. Seine Kollegen lachen: „Meinst du wirklich, dass uns jetzt einer Pizza liefert?“
22:30 Uhr
Viele Passanten warten seit Stunden in Kaufhäusern und Cafés in der Innenstadt darauf, dass die Polizei entwarnt. Sie wollen nach Hause. @itsflyingbird, der vor mehr als vier Stunden auf Twitter als Erster über Schüsse am Stachus gesprochen hatte, twittert:
23:30 Uhr
Höcherl will die ersten Ärzte und Schwestern nach Hause schicken. Er braucht sie am nächsten Tag, sie sollen noch ein wenig schlafen. Genau in dem Moment ruft eine Mitarbeiterin der Klinik an. Ihr Bruder habe in der Düsseldorfer Straße Schüsse gehört, keine 100 Meter vom Klinikum entfernt. Die Belegschaft bleibt freiwillig.
23:42 Uhr
Da Gloria Martins spricht wieder vor Journalisten. Bekannt sind jetzt acht tote Opfer und ein weiterer Toter, ein Mann, der sich in der Nähe des OEZ erschossen hat. War das der Täter? Oder jedenfalls einer der Täter?
Die Polizei hat mit dem, was sie an dem Abend öffentlich sagt, eine enorme Schlagkraft. Das zeigen nicht nur Abertausende geteilte Tweets und Facebook-Posts an diesem Abend. Auch inhaltlich färbt die Polizei mit ihren Nachrichten die öffentliche Diskussion. Auf Twitter zeigt sich das deutlich. Da Gloria Martins’ Aussage, dass es sich um „bis zu“ drei Täter handelt, verdrängt die Annahme vieler Twitter-User, es seien drei Täter.
Das Forscherteam um Elodie Fichet hat den Einfluss von offiziellen Stellen auf Gerüchte im Netz untersucht. Das Ergebnis: Offizielle Stellen können die Ereignisse in Echtzeit auf Twitter formen und so beruhigend auf die Diskussion einwirken.
Auch beim Terroranschlag in Nizza kursierten auf Twitter Fehlinformationen über drei Geiselnahmen. Der Kommunikationswissenschaftler Nicolas Vanderbiest von der belgischen Universität Louvain hat sie erforscht und belegt, wie sie erst in sich zusammenfielen, als das französische Innenministerium sie in einem Tweet entkräftete.
00:00 Uhr
Die Rettungsleitstelle entwarnt alle Krankenhäuser. Die Lage sei stabil, man brauche die Notfallkapazitäten nicht mehr. Basis dafür ist nach Angaben der Leitstelle die von der Polizei übermittelte Information, es sei ein Einzeltäter gewesen. Öffentlich kommuniziert die Polizei das zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Marcus da Gloria Martins sagt, die Information sei erst später wirklich sicher gewesen.
00:45 Uhr
Höcherl schickt seine Ärzte und Krankenschwestern nach Hause. Dann fährt er mit einem mulmigen Gefühl auf seinem Roller über die Ackermannstraße heim. Er denkt: Was wäre, wenn sich in den Schrebergärten noch ein Täter versteckt?
1:00 Uhr
Die öffentlichen Verkehrsmittel in München fahren wieder.
1:26 Uhr
Die Polizei gibt Entwarnung über Twitter:
Am Ende der Nacht werden sich Twitter-Nutzer in 113 000 Tweets mit den Ereignissen in München beschäftigt haben. Sie haben nach Antworten gesucht und nicht immer die richtige gefunden. Sie haben Gerüchte verbreitet und dementiert. Wie groß die Verunsicherung war, zeigt sich auch in dieser Kurve:
2:24 Uhr
Beinahe sechs Stunden sind vergangen, seit sich David S. vor den Augen der Polizeibeamten erschossen hat. Und fast eineinhalb Stunden, seit die Rettungsleitstelle die Ärzte in den Krankenhäusern entwarnt hat. Jetzt stellt sich auch Polizeipräsident Hubertus Andrä der Presse. Erst jetzt sagt er, dass es nach aktuellen Ermittlungen nur ein Täter gewesen sei, der alleine gehandelt habe und tot sei. Damit beendet er die Zweifel und Ängste, mit denen Zehntausende in dieser Nacht gerungen haben.
München atmet auf. Die gute Nachricht, dass die Gefahr gebannt ist, verbreitet sich rasant in den sozialen Netzwerken. Was oft mitschwingt: ein seltsames Gefühl der Erleichterung, weil es „nur“ ein Amoklauf war. Und kein Terroranschlag.
Fast acht Stunden nachdem er von seiner Tochter über Schüsse in der Stadt informiert wurde, endet der Arbeitstag für Marcus da Gloria Martins. Er wird viel Lob ernten für sein sachliches, unaufgeregtes Auftreten. Für die Arbeit seines Teams, das die sozialen Medien versteht und ernst nimmt.
3:00 Uhr
Herbert Ebner liegt im Bett, hellwach, Bilder im Kopf: Menschen, die panisch Tische umrennen und Masskrüge zerschlagen. Er denkt: „Unfassbar, dass es ein Mann schafft, eine Millionenstadt für sechs Stunden außer Kraft zu setzen.“ Ein Bild immerhin hat etwas Beruhigendes für ihn in dieser Nacht: Als die aufgebrachte Meute in das Hofbräuhaus stürmte, fiel Ebners Blick auf einen alten Mann mit weißem Bart, der am Eingang saß. Als um ihn herum das Chaos ausbrach, blieb er einfach auf seiner Bank sitzen.
*Name von der Redaktion geändert