Der Gottesmann, allein mit einer jungen Frau im teuren Hotelzimmer. Er sitzt im Sessel, telefoniert. Sie schiebt die Sonnenbrille hoch, dunkel geschminkte, große Augen, lange, dick getuschte Wimpern, pinkfarbener Lippenstift. Dann bringt sie den Selfie-Stick in Position. Der Geistliche warnt: „Sei vorsichtig. Du darfst nichts veröffentlichen, was unserer Würde oder unserem Ansehen schadet.“ Sie winkt ab: „Ich passe auf. Nichts geht online, das Probleme macht.“ Jetzt blickt Qandeel Baloch in die Handykamera, wendet sich an die Fans im Netz: „Wisst ihr, wen ich heute treffe? Mufti Abdul Qavi.“
Es ist ein ungewöhnliches Treffen. Qandeel Baloch, die so etwas ist wie die Kim Kardashian Pakistans, posiert auf der Sessellehne neben Qavi, der im ganzen Land bekannt ist als Gelehrter und TV-Moralapostel. Die beiden sind sich nahe, ihre Schultern berühren sich. Der Prediger spricht davon, dass er für sie beten, sie auf den rechten Pfad zurückführen will.
Vier Wochen nach dem Treffen ist Qandeel Baloch tot.
Wer sich auf die Suche nach den Hintergründen des Mordes begibt, erfährt einiges über eine unangepasste junge Frau, aber mindestens ebenso viel über eine zutiefst verwirrte Nation. Über ein Land, das sich die Atombombe leistet, aber bis heute Feudalismus und Leibeigenschaft kennt. Über einen Staat, der gegen die Taliban kämpft, die Terrorgruppe der Steinzeit-Islamisten aber mithilfe der CIA einst selbst geschaffen hat. Über ein Land, das als erster muslimischer Staat eine Regierungschefin hatte, in dem Frauen aber bis heute wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Pakistan sieht sich als ersten und einzig echten islamischen Staat der Moderne, als „Land der Reinen“. So rein, dass es für Frauen riskant ist, sich gegen die Tradition aufzulehnen. So rein, dass eine Frau sterben muss, weil sie die Islamgelehrten infrage stellt.
Qandeel Baloch wurde 26 Jahre alt. Ihr Leben war öffentlich, ihr Tod auch. Aufgeklärt ist nur die Tat: Qandeel wurde errmordet vom eigenen Bruder und einem Cousin. Als die Polizei den Bruder vorführt, wirft er der Toten vor, sie habe die Familienehre besudelt. Reue zeigt er keine: „In Pakistan werden Mädchen geboren, damit sie zu Hause bleiben.“
Wer den Mord angeordnet, wer die Verwandten aufgehetzt hat, Qandeel zu töten, das ist unklar. Vermuten, vielleicht sogar verstehen lässt es sich nur, wenn einer Pakistan betrachtet, ein Land voller Widersprüche und Brüche, so wie das Leben von Qandeel.
Im Land der Widersprüche
Mehr als die Hälfte der gut 190 Millionen Einwohner kann weder lesen noch schreiben. Mehr als die Hälfte der Menschen besitzt zwei Handys, jeder sechste hat ein Smartphone. Ein Mann, der es wagen würde, mit seiner Freundin im Park Händchen zu halten, würde von den Umstehenden Prügel beziehen. Vor allem auf dem Land herrscht ein strenger, ungeschriebener Moralkodex, hier sieht man selten Frauen auf der Straße. Und wenn, sind sie verschleiert. Aber Twitter, Instagram und Youtube erobern auch dieses Land. Die sozialen Netzwerke und ihre globale Bilderflut zeigen, was im prüden echten Leben verhüllt wird. Das Internet ist auch hier Sehnsuchtsort. In den Nutzerstatistiken der Schmuddelseiten ist Pakistan im weltweiten Vergleich weit oben: Die Männer googeln sehr häufig „Sex“ oder „Porno“.
Noch immer heiraten die meisten Frauen Männer, die ihre Familie ausgesucht hat: einen Verwandten, einen Jungen aus der Nachbarschaft, aus dem nächsten Dorf, den Sohn eines Geschäftspartners. Liebesheirat ist ein Fremdwort, Frauen zählen zum Besitz des Mannes. Und der sogenannte Ehrenmord ist hier kein Mord, sondern Ehrensache: Jährlich, so hält die pakistanische Menschenrechtskommission in ihrer Statistik fest, gibt es etwa tausend Fälle, in denen Väter oder Brüder ihre Töchter oder Schwestern erwürgen, erstechen, erschießen oder vergiften – weil sie sich gegen die ungeschriebenen Gesetze der Männer aufgelehnt haben.
Die Filmemacherin Sharmeen Obaid-Chinoy, die für ihre Dokumentation über Ehrenmorde einen Oscar gewonnen hat, geht sogar von 4000 Fällen im Jahr aus. Demnach wird in Pakistan alle zwei Stunden eine Frau im Namen der vermeintlich befleckten Ehre der Familie ermordet. Qandeels Tod ist auf erschreckende Art normal. Ehrenmorde, sagt Obaid-Chinoy, hätten nichts mit dem Islam zu tun: „Es ist ein Machtspiel. Es geht darum, Kontrolle über Frauen auszuüben.“
Es gibt auch ein anderes, ein modernes Pakistan. Es ist nicht liberal, aber es ist liberaler. In Karatschi, dem dampfend schwülen 15-Millionen-Moloch am Indischen Ozean, laufen mehr Frauen ohne jedes Kopftuch über die Straßen als Vollverschleierte. Hier, in der lärmigen Großstadt, lästern die Menschen in ihren vier Wänden laut über die selbstgefälligen Religionsgelehrten. Die Oberklasse-Kids studieren an teuren Universitäten in England oder den USA, spielen Polo, auf ihren Partys wird gekokst und gesoffen.
In den großen Städten dürfen Frauen in Büros arbeiten. Sie heiraten Männer, die sie sich ausgesucht haben. Manche Frauen leben unverheiratet, allein. Aber dieses Pakistan der gebildeten, gut gestellten Schichten existiert nur in einer Nische, in einem Land, das gezeichnet ist von Armut, Gewalt und der Unterdrückung der Frauen.
Das Mädchen vom Land
Qandeel stammt aus dem Pakistan jenseits der komfortablen Nische. Ihr Leben beginnt so wie das Leben von Millionen anderen Mädchen im Land. 1990 als Fouzia Azeem geboren, wächst sie in einem kleinen Dorf auf, im Punjab, dem Brotkorb des Landes. Der Vater ist, wie so viele, Bauer. Er hat zwei Frauen, sie ist das jüngste seiner 13 Kinder. Schon als kleines Mädchen ist sie: anders. Sie will den Vater öffentlich umarmen, aber das ziemt sich nicht. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzt, verfolgt sie es mit größter Wucht, sie fährt später sogar Motorrad in einem Land, in dem schon das Fahrrad ein Tabu ist für viele Frauen.
Als Fouzia die 7. Klasse beendet, verheiraten die Eltern die 13-Jährige. Ein hungriger Magen weniger, der gefüllt werden muss. Der Bräutigam ist ein entfernter Verwandter, die Pubertierende bekommt bald einen Sohn, die Ehe wird zur Tortur. Ihr Mann habe sie geschlagen und gepeinigt, wird Fouzia ihren Eltern erst viel später erzählen. Irgendwann hält sie es nicht mehr aus, läuft davon, wird ihren Ehemann und ihr Kind nie wiedersehen. Sie bricht mit dem Dorf, flieht in die Anonymität einer Stadt, schlägt sich mit Jobs durch. Zu Beginn ihres neuen Lebens gibt sie sich auch einen neuen Namen – Qandeel Baloch. Qandeel heißt „die Blume“.
Die Blume will ins Showbusiness. Model werden, Moderatorin, Schauspielerin. Die Zukunft liegt in Karatschi, der einzigen Stadt mit Glamour-Faktor. Das Mädchen vom Dorf, es will dazugehören zur exklusiven Szene. Partys in Clubs und Nobelrestaurants, bei denen die Gäste dicke Zigarren rauchen und Rinderfilet für umgerechnet 25 Euro bestellen. Von 25 Euro leben Qandeels Eltern einen Monat lang.
In der Welt der Reichen und Schönen
Es ist eine Welt, in der Frauen sich so zeigen dürfen, wie sie es möchten. Bei den Partys werfen sich Models kurz für die Fotografen der Modemagazine in Positur, bevor sie tun, was in dieser Welt wirklich wichtig ist: Selbstvermarktung. Stundenlang knipsen sie Selfies, gefühlt sind es Tausende Fotos, immer dieselbe Optik, immer dieselbe Botschaft. Die Handybilder und Videos auf Twitter, Facebook, Instagram und Youtube zeigen Schönheiten mit Puppennasen, verführerisch vollen Lippen, blendend weißen Zähnen. Diese Schnappschüsse in den sozialen Medien sind für die jungen Frauen weit wichtiger als die Bilderstrecken in den Hochglanzmagazinen: Sie erscheinen nicht nach Tagen oder Wochen, sie stehen in Sekunden online. Wer die Follower der Karatschi-Stars, die Fans der Schönen und Reichen, zusammenzählt, kommt auf eine Millionenzahl. Millionen Menschen, die sich nach Einblicken in die Glitzerwelt hinter hohen Zäunen und Mauern sehnen. Es ist eine Parallelwelt, nur im Internet steht sie allen offen. Im echten Leben endet sie am Eingang des Restaurants, vor dem der Sicherheitsmann steht, mit Schrotgewehr.
Qandeel, das Landei, wird hier nur belächelt. Doch sie ist längst selbst ein Youtube-Star, bekommt so viele Klicks wie die Supermodels. Ein Modedesigner sagt: „Sie hat es geschafft, immer Gesprächsthema zu sein. Die Menschen haben sie geliebt – oder sie haben es geliebt, sie zu hassen.“ Und diese Frau ist hemmungslos, sich selbst und anderen gegenüber. Es gibt einen Mitschnitt von einem ihrer ersten TV-Auftritte, bei „Pakistan sucht den Superstar“: pinkfarbene Leggins, pinkfarbene Lippen, die pinken High Heels so hoch, das sie nur strauchelnd vorwärtskommt. Ihr Gesicht eine einzige Leinwand, grell bemalt. Qandeel stimmt ein Lied an, sie darf länger singen als die anderen. Aber nur, damit die Jury ausgiebiger über sie lachen kann, Dieter Bohlen in Pakistan.
Das Urteil über das Mädchen, das nach oben will: ausgeschieden mangels Talent. Ihr neuer Spitzname im Netz: „Pinkie“. Aber aufgeben wird Pinkie nicht. Sie will so sein wie Anoushey Ashraf, der Fernsehstar aus der Glitzer-Metropole, Moderatorin der Sendung, bei der Qandeel krachend gescheitert ist. Sie wird da längst ahnen, dass sie dieser Frau niemals ähneln wird: Anoushey kommt aus besten Verhältnissen. Ein mehrstöckiges Haus in einem teuren Viertel, edle Holzfußböden, eine Angestellte serviert den Tee. Der TV-Star lebt mit 33 Jahren noch bei den Eltern, für eine unverheiratete Frau in Pakistan nicht ungewöhnlich. Manche ihrer Freundinnen, die alleine lebten, seien unglücklich: „Sie werden belästigt. Die Männer sagen, Alleinleben sei nicht angebracht für eine Frau.“
Anousheys Karriere ist, im Gegensatz zum schrillen Aufstieg und brutalen Ende von Qandeel, als Erfolgsgeschichte vorgezeichnet. Anoushey war die erste MTV-Moderatorin des Landes. Sie hat jetzt eine eigene Morgenshow, wird auf der Straße erkannt, genießt das Promi-Dasein, lässt Selfie-Wünsche ihrer Fans im Restaurant routiniert über sich ergehen. Anders als Qandeel weiß diese Frau, wo die Grenzen in Pakistan verlaufen. Sie weiß, wie aus einer Frau, die wegen ihrer Rolle im Rampenlicht abfällige Bemerkungen wegzustecken hat, eine Frau wird, die um ihr Leben fürchten muss. Auch Anoushey zeigt Haut und trägt kein Kopftuch. Aber darauf kommt es gar nicht an: Die Fernsehfrau kennt die richtigen Leute in der Branche.
Das unerreichbare Vorbild
Auch Anoushey trifft sich mit den Geistlichen, diskutiert mit den predigenden Hardlinern. Aber nicht im Hotelzimmer, sondern in Talkshows. Dort wirbt sie für die Rechte der Frau, wohldosiert. Sie ist klug genug, nur behutsamen Wandel zu fordern. Sie hat Zeit, sie war immer oben, sie wird es immer bleiben. Eine wie sie muss keine Grenzen übertreten, um gesehen zu werden: „Qandeel wollte auf eine Art Aufmerksamkeit erregen, bei der klar war, dass sie Probleme bekommt“, sagt Anoushey.
Eine Pakistanerin riskiert ihr Leben, wenn sie Tabus bricht. Aber wer sagt, wie weit Frauen gehen dürfen? Wo verlaufen die roten Linien? Bestimmen wirklich halbgebildete Muftis und radikale Taliban allein die Regeln im Land? Entscheiden nur sie, wer ein guter Muslim ist? Oder geht es auch um etwas anderes, um Herkunft, Familie, sozialen Status?
Für Qandeel, das Mädchen vom Dorf, war die Provokation Geschäftsmodell. Grenzen verschieben, immer weiter, die Aufmerksamkeit steigern, immer schneller, im Gespräch bleiben, um jeden Preis. Sie setzte auf ihren Körper, online. Wenig Stoff, lasziver Blick, die Hände fahren über die Brüste. Schließlich das Versprechen, sich nackt zu zeigen, falls die Cricket-Nationalmannschaft den Erzfeind Indien schlägt. Pakistan verliert zwar, aber allein schon das Angebot versetzt die Männer in Ekstase: In diesem Land werden sogar Kuss-Szenen im Kino wegzensiert.
Nach diesem Coup ist Qandeel auch in den Mainstream-Medien präsent. Allerdings nicht so, wie sie es sich erträumt hat. Sie ist jetzt die Trash-Queen. Mit diesem Etikett garantiert sie Auflage, Quote, Klicks. Sie spielt mit. Sie setzt sich während einer Live-Sendung bei einem Comedian auf den Schoß und flirtet so hitzig mit ihm, dass eine schockierte Anoushey, die ebenfalls Gast in der Show ist, aus dem Studio läuft: „Ich wusste, dass sie zu weit geht. Das hier ist immer noch Pakistan.“
"Wie seh ich aus?"
Da ist das Video, in dem sie im Whirlpool badet, das Filmchen, in dem sie sich auf der Couch räkelt, ihr Dekolleté zur Schau stellt. Geklickt wird all das millionenfach, trotz oder gerade wegen des Tabubruchs. Qandeels Spieglein-Spieglein-an-der-Wand-Frage „Wie seh’ ich aus?“, wird zum Code, zum Kennwort unter Jugendlichen. Bekannte Schauspielerinnen ahmen sie nach, selbst konservative Paare schauen sich Qandeels Filme an. Die Skandalnudel liefere immerhin gute Unterhaltung, sagt eine vollverschleierte Frau.
Qandeel polarisiert. Bis zum Äußersten. In den Monaten vor ihrem Tod wird ihre Botschaft unmissverständlich: Ich mache, was ich will. Auf Facebook garniert sie ihre Provokationen mit politischen Parolen. „Ich glaube, ich bin eine moderne Feministin. Ich glaube an die Gleichheit.“ Und weiter: „Ich bin einfach eine Frau mit freien Gedanken und einem freien Geist. ICH LIEBE DIE ART, WIE ICH BIN.“ Einige Frauenrechtlerinnen applaudieren – endlich biete eine Frau dem Patriarchat die Stirn, bestimme selbst über ihren Körper. Andere Feministinnen zürnen ihr: Da spiele eine mit ihren Rollenklischees genau diesem verhassten Patriarchat in die Hände.
Die Fernsehmoderatorin Anoushey bezweifelt, dass Qandeel wegen ihrer Freizügigkeit sterben musste. „Diejenigen, die dir nach dem Leben trachten, kommen entweder aus politischen Gründen oder weil du sie extrem beleidigt hast.“ So, wie mit dem Video im Hotelzimmer? Der Social-Media-Star hat den Mufti wie einen lüsternen Bock aussehen lassen. Vielleicht, weil er einer ist, wie ihre Eltern behaupten, vielleicht aber auch nur im Interesse ihrer Klickzahlen. Qandeels Mutter meint, ihre Tochter habe den Geistlichen entlarvt. Sie habe ihn gefragt: „Sie sind Mufti. Wie kann es sein, dass sie eine schöne Frau treffen und sich nicht beherrschen können?“ Nach dem Treffen legt Qandeel in Interviews nach. Als die Kamera aus war, habe der Mufti sie berühren, sie küssen wollen.
Der Mufti und der Bauer
Der Geistliche selbst bestreitet das. Er hockt auf dem Boden seiner Koranschule in Multan, einer Millionenstadt im Herzen des Landes. Um sich herum eine Handvoll junger Männer, sie hängen an seinen Lippen, sind überzeugt von seiner Unschuld. Qavi weist zurück, was die Medien über ihn berichten: Nie im Leben habe er gesagt, die Ermordete habe doch nur bekommen, was sie verdiene. Er erzählt eine ganz andere Geschichte. Er habe Qandeel bei einer TV-Sendung kennengelernt, das Starlet habe danach gefragt, ob sie ihn privat treffen könne. Er, der Seelsorger, habe natürlich zugestimmt: „Als islamischer Gelehrter war es meine Pflicht, sie zu bessern und ihr im Lichte des Islam Hilfe anzubieten.“ Sie habe ihn, den Arglosen, dann mit dem Video im Hotel hinters Licht geführt, sich später auch dafür entschuldigt. Der Mord sei zweifellos ein Verbrechen, gehöre bestraft. Aber er, der Mufti, habe damit nichts zu tun.
Mohammed Azeem, der Vater, hat wie Millionen anderer Bauern in Pakistan sein Leben lang ein und demselben Feudalherren gedient, auf dessen Acker geschuftet, als Lohn sein Essen, eine winzige Behausung im Dorf, ein paar Almosen an den Feiertagen bekommen. Qandeels Vater ist um die 80, eine Geburtsurkunde hat er nicht. Und wenn, könnte er sie nicht lesen. Der Alte geht an Krücken, bei einem Unfall hat er einen Unterschenkel verloren. Wovon er und seine Frau in Zukunft leben sollen, weiß er nicht: Die Tochter hatte in den vergangenen Jahren für die Eltern gesorgt, ihnen in Multan, nicht weit von der Koranschule von Mufti Qavi, ein bescheidenes Apartment gemietet.
Es war der schiere Luxus. Oder das, was Luxus für Menschen wie Qandeels Eltern heißt in einem Land, in dem ein Drittel der Menschen von der Hand in den Mund leben muss. Wohnen in einer Großstadt, eine Toilette im Apartment statt des Gangs aufs Feld. In jedem Zimmer Strom aus der Steckdose. Ein Kühlschrank statt Eisblöcke im Bottich. Kochen auf dem Gasherd, der einem das Feuer mit dem selbstgesammelten Holz erspart. Der Vater sagt: „Die Zeit in Multan war ein Traum.“
Die Eltern wollen nicht wissen, woher das Geld dafür kommt. Die Tochter sagt, sie bezahle die Miete mit den Gagen, die sie als Model oder in Talkshows bekomme; in der Entertainment-Branche behaupten sie, Qandeel habe ihr Geld als Escort-Girl verdient. Genau weiß es keiner. Das Apartment jedenfalls hat weder den Eltern noch der Tochter Glück gebracht. Im Juli, zum Fest des Fastenbrechens, besucht Qandeel ihre Eltern. Sie ist fahrig, unruhig, hat Angst. Seit der Sache mit dem Mufti und dem Video fühlt sie sich bedroht, von ihren eigenen Brüdern.
Da ist ihr Schicksal längst entschieden. Qandeels Bruder Waseem besucht seine Schwester am Abend des 15. Juli bei den Eltern, bleibt. Mitten in der Nacht schleicht er ins Schlafzimmer der Schwester , betäubt Qandeel, hält sie an Armen und Beinen fest, während sein Cousin Haq sie erwürgt. Bruder Arif, der in Saudi-Arabien lebt, soll den Mord in Auftrag gegeben haben. Telefonisch. Mufti Qavi, der wegen des zweideutigen Hotel-Videos seinen Posten in einem hohen islamischen Rat verloren hat, stand vor dem Mord in Kontakt mit den Söhnen, jedenfalls behaupten dies Qandeels Eltern.
„Ich habe eine Tochter verloren, eine Freundin und einen Sohn“, sagt der Vater heute. Dass er die Tochter einen „Sohn“ nennt, drückt in der Welt des Dorfes allerhöchste Wertschätzung aus. Die Armen müssen darauf vertrauen, dass ihre Söhne sie im Alter versorgen, der Staat kümmert sich nicht.
In Pakistan musste ein Mann, der im Namen der Ehre mordet, bisher auch keine Strafe befürchten. Das Gesetz erlaubte den Familien, ihm zu vergeben. Die meisten taten es: Die Mörder ihrer Frauen und Töchter waren die eigenen Väter, Söhne, Brüder. Vor allem wegen Qandeels Fall handelte die Regierung jetzt – Vergebung ist in Zukunft ausgeschlossen bei Ehrenmord. Nach mehr als zehn Jahren erbitterter Debatten über den Mord an den eigenen Frauen und Töchtern hat sich Pakistan entschieden.
Jedenfalls dem Gesetz nach. Doch die Menschen in Qandeels Dorf geben nicht viel auf den Staat, geschweige denn auf sein Rechtssystem. Sie fordern weiter, dass der Vater den Mördern seines Kindes verzeiht. So haben Qandeels Eltern alles verloren: die Tochter, die sie ernährt hat, den Sohn, auf den das Gefängnis wartet. Das Ansehen im Dorf, wo sie sich nun wie Aussätzige fühlen, das bequeme Altern im bescheidenen Luxus des Apartments in Multan. Und nun sieht Qandeels Mutter auch noch ihr Leben in Gefahr durch den ewigen Fluch des Ehrenmords: „Die Verwandten drohen. Sie wollen uns töten, wenn wir nicht vergeben.“