Am Morgen des 9. Februar führt ein fataler Fehler zu einem Zugunfall nahe Bad Aibling mit zwölf Toten und 89 Verletzten. Chronologie eines vermeidbaren Unglücks
Von Christian Endt und Lisa Schnell
4.45 Uhr, Bad Aibling, Stellwerk
Ein Sturm zieht auf. Das hatte der Deutsche Wetterdienst noch in der Nacht gemeldet. Wohl deshalb hat sich Michael P. früher als sonst auf den Weg in die Arbeit gemacht. Eine dreiviertel Stunde dauert die Fahrt von dem Bauernhof, auf dem er mit seiner Familie lebt, bis zu seinem Arbeitsplatz am Bahnhof von Bad Aibling, zehn Kilometer westlich von Rosenheim. Noch vor Dienstbeginn um 5 Uhr erreicht P. das Stellwerk, das in einem Bahnhofsanbau untergebracht ist, direkt am Gleis 1. Als Fahrdienstleiter überwacht Michael P. die Gleise, er stellt die Weichen und setzt Signale. Er ist zuständig für die Strecke bis zu den Nachbarbahnhöfen Heufeld im Westen und Kolbermoor im Osten.
5.11 Uhr, Bad Aibling, Stellwerk
Michael P. startet auf seinem Smartphone das Videospiel „Dungeon Hunter 5“. In dem Fantasie-Rollenspiel jagt er als Kopfgeldjäger Monster und Schurken.
5.30 Uhr, Rosenheim
Yannik Elfers’ Wecker klingelt. Es ist Fasching, ganz Bayern hat frei. Yannik aber muss in die Arbeit, er macht eine Ausbildung zum Lageristen. Er quält sich aus dem Bett, geht ins Bad. Wasser ins Gesicht, Blick in den Spiegel: Er ist groß für seine 17 Jahre, aschblonde Haare, blasse Haut. Er zieht sich seinen grauen Kapuzenpulli an, die Arbeitsjeans, seine schwarze Jacke. Das Frühstück spart er sich, vielleicht erwischt er noch den frühen Zug, den er sonst immer sausen lässt. Er hofft, dass er früher heimfahren und am Abend noch in eine Bar gehen kann. Vielleicht hat er ja auch noch was von diesem Feiertag.
5.40 Uhr, Rosenheim
Michael Riffelmacher hat sich in der Küche einen Latte Macchiato mit vier Espressi gemacht. Der Anästhesist will früh in der Klinik sein, noch Schreibtischarbeit erledigen, bevor er in den OP geht. Ein Eingriff an der Wirbelsäule steht auf dem Plan. Riffelmacher trinkt seinen Kaffee aus, zieht die Jacke an, schnallt den schwarzen Piepser an den Gürtel und fährt in die Klinik.
6.27 Uhr, Rosenheim, Bahnhof
Yannik läuft die Treppe zum Gleis hoch. Er ist erleichtert, der Stress hat sich gelohnt: Sein Zug, Nummer M 79506, ist tatsächlich noch da. Der Triebfahrzeugführer raucht auf dem Bahnsteig noch eine Zigarette. Er wird den Tag nicht überleben.
Yannik steigt ein. Er hat einen Stammplatz, aber der ist besetzt. Also geht er weiter nach vorne. Ganz am Zuganfang, gleich hinter der Fahrerkabine, setzt er sich hin, gegen die Fahrtrichtung. Der Zug fährt los. Nächster Halt: Kolbermoor.
6.37 Uhr, Bad Aibling, Bahnhof
Jetzt sollte der Meridian 79505 aus Holzkirchen am Bahnhof Bad Aibling ankommen und eine Minute später in Richtung Kolbermoor weiterfahren. An einem normalen Tag sähe der Ablauf so aus:
Aber das Gleis ist leer. Auf der Anzeige, die über den Wartenden hängt, steht: Der Zug hat mindestens vier Minuten Verspätung.
6.38 Uhr, Bad Aibling, Stellwerk
Seit Dezember 2013 fahren auf der Mangfalltalbahn, einer Regionalverbindung zwischen Rosenheim und Holzkirchen, keine Züge der Deutschen Bahn mehr, sondern die der Bayerischen Oberlandbahn (BOB), einer Tochter des französischen Transdev-Konzerns. Für die Infrastruktur der Strecke ist weiter die Bahn-Tochter DB Netz zuständig. In den Dienstvorschriften der Bahn steht: Fahrdienstleiter dürfen ihre privaten Smartphones bei der Arbeit nutzen, wenn es für ihre Tätigkeit erforderlich ist. Spiele sind ausdrücklich verboten.
In der Spielbeschreibung zu „Dungeon Hunter 5“ steht: „In einer von Dunkelheit heimgesuchten Welt hat Gerechtigkeit einen hohen Preis.“
Der 39 Jahre alte Familienvater ist ein erfahrener Fahrdienstleiter, 1997 hat er seine Ausbildung abgeschlossen. Zuletzt arbeitete er für die DB Netz als Springer an unterschiedlichen Orten. An seinem Arbeitsplatz in Bad Aibling steht ein Tisch, auf dem die Gleise, Weichen und Signale der Strecke schematisch abgebildet sind.
Wo sollen die Züge aufeinander warten? In Kolbermoor oder in Bad Aibling? Er habe in einer Tabelle nachgeschaut und sei um eine Zeile verrutscht, wird P. später den Ermittlern sagen. Bad Aibling habe er da gelesen.
6.40 Uhr, Kolbermoor, Bahnhof
Yanniks Zug erreicht den Bahnhof in Kolbermoor. Da die Strecke eingleisig ist, muss der Zug auf den entgegenkommenden M 79505 aus Holzkirchen warten. Im Fahrplan stehen fünf Minuten Aufenthalt bis zur Weiterfahrt.
6.40 Uhr, Bad Aibling, Stellwerk
P.’s Handy ist letztmalig mit dem Internet verbunden, wie später eine Auswertung der Mobilfunkdaten zeigen wird.
Mit einem roten Knopf stellt er die Signale um, in Kolbermoor sieht der Führer von Yanniks Zug ein grünes Licht. Er kann losfahren in Richtung Bad Aibling. Direkt nach dem Bahnhof liegt eine Weiche, an der die beiden Gleise zusammenfließen.
6.41 Uhr, Bad Aibling, Gleis 2
Der Zug aus Holzkirchen kommt in Bad Aibling an, mit vier Minuten Verspätung. Laut Fahrplan ginge es jetzt direkt weiter in Richtung Rosenheim. Weil Michael P. aber den Ablauf geändert hat, bekommt der Zugführer keine Freigabe zur Ausfahrt. Das Signal zeigt automatisch rot. Die eingleisige Strecke ist belegt vom entgegenkommenden Zug M 79506, Yanniks Zug.
6.43 Uhr, Bad Aibling, Stellwerk
Doch Michael P. will nun auch den anderen Zug auf die Strecke schicken. Der Fahrdienstleiter kann das Signal indes nicht einfach auf Grün stellen – die Technik des Stellwerks erlaubt es eigentlich nicht, zwei Züge auf dasselbe Gleis zu schicken.
Manchmal kommt es aber vor, dass ein Zug liegen bleibt und ihm ein zweiter zu Hilfe kommen muss. Oder dass ein Systemfehler die Strecke irrtümlich sperrt. Für solche Fälle hat der Fahrdienstleiter die Möglichkeit, in die Automatik einzugreifen. Er kann den Zugführer anweisen, in eine gesperrte Strecke einzufahren.
Genau das macht Michael P. nun. Der Zugführer des in Bad Aibling wartenden M 79505 Richtung Rosenheim sieht nun unterhalb des roten Haltesignals drei weiße Lämpchen. Die Anweisung zur Abfahrt.
Bevor ein Fahrdienstleiter ein solches Signal setzt, muss er sich versichern, dass die Strecke frei ist. P. hätte wissen müssen, dass dies nicht der Fall ist – hat er doch vor wenigen Minuten eigenhändig dem anderen Zug die Freigabe erteilt. Nun sind zwei Züge auf der eingleisigen Strecke.
In modernen, elektronischen Stellwerken wäre P. deutlicher auf seine erste Freigabe hingewiesen worden: durch einen dicken, leuchtenden Pfeil. Im Bad Aiblinger Stellwerk aber fehlt eine solche Anzeige. Ein Sicherheitsrisiko, das der Deutschen Bahn seit Langem bekannt ist, wie eine mit der Unfalluntersuchung vertraute Person sagt. Eine interne Richtlinie empfehle seit den 80er-Jahren, alte Relaisstellwerke entsprechend nachzurüsten. In Bad Aibling ist das nie geschehen. Die Bahn möchte sich dazu nicht äußern.
Yannik blickt aus dem Fenster. Leere Gleise. Seltsam. Normalerweise steht hier immer der Zug, der ihm von Holzkirchen entgegenkommt. Ist der vielleicht noch in Bad Aibling? Wartet der? Fällt der aus?
6.45 Uhr, Kolbermoor, Gleis 2
Yanniks Zug fährt pünktlich los in Richtung Bad Aibling. Yannik hat seine Kopfhörer im Ohr, er tippt auf dem Handy herum.
6.45 Uhr, Bad Aibling, Kurpark
800 Meter nach dem Bahnhof erreicht M 79505 eine zweite Haltestelle. Auch hier setzt der Fahrdienstleiter das Signal zur Weiterfahrt. Ohne diese Anweisung wäre der Zug einfach stehen geblieben.
Der Zugführer passiert das Signal und beschleunigt. Jetzt fahren beide Züge auf direktem Kollisionskurs aufeinander zu.
6.46 Uhr, Bad Aibling, Stellwerk
P. setzt einen Notruf ab. Über Funk will er die Lokführer der beiden aufeinander zurasenden Züge alarmieren: „Achtung, Betriebsgefahr zwischen Kolbermoor und Bad Aibling. Züge sofort anhalten!“ Doch die Zugführer hören ihn nicht – weil Michael P. den falschen Knopf gedrückt hat. Sein Funkruf erreicht nicht die Lokführer, sondern andere Fahrdienstleiter. Die sitzen weit weg und können nicht eingreifen.
6.46 Uhr, Mangfalltal
Ein nasskalter Morgen im Mangfalltal. Fahrdienstleiter Michael P. hat folgenschwere Fehler begangen. Von nun an ist er machtlos. Es beginnt die Geschichte derer, die von den Folgen erfasst werden. Noch ahnen sie nichts.
Lesen Sie Teil 2 der Reportage mit SZ Plus.
6.47 Uhr, Zug M 79506
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