Besser mitreden –
im Democracy Lab

"Alles" oder eben: "Nichts". Das waren zwei Antworten, die uns im Democracy Lab einige Male begegnet sind. Was also muss sich in Deutschland ändern? Zwischen diesen beiden extremen Polen des ungerichteten Ärgers und der satten Zufriedenheit gab es fromme Wünsche, klare Forderungen, konkrete Ideen. Wir haben im Netz und auf der Deutschland-Tour der Süddeutschen Zeitung diese Antworten gesammelt.

Insgesamt etwa zwei Dutzend SZ-Redakteure haben sich, in mehreren Teams, auf die Reise durch Deutschland begeben. 3000 Kilometer haben sie zurückgelegt. Ein „Democracy Lab“ sollte es werden in den Wochen vor der Bundestagswahl, auf den Marktplätzen und zeitgleich im Netz, wo Bürger ihre eigenen Wahlplakate gestalten konnten.

Insgesamt sind so mehr als 5000 Antworten seit dem Start des neuen SZ-Projekts vor drei Wochen zusammengekommen. Aus diesen haben wir zehn Themenbündel geschnürt und sie anschließend zur Wahl gestellt - mit einem eindeutigen Ergebnis:

Die Teilnehmer an der Online-Abstimmung waren der Meinung, dass sich in Deutschland vielleicht nicht alles ändern muss, aber doch mehr als nichts. Wichtig war, wie aus den mehr als 7500 abgegebenen Stimmen hervorgeht, vor allem die Frage, wie man das Land sozial gerechter machen kann - mit einem Anteil von 48 Prozent entfielen die meisten Stimmen darauf. Knapp dahinter rangieren die Schul- und die Umweltpolitik, die 44 und 43 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielten. Ebenfalls auf hohes Interesse stießen die Themenfelder Werte/besseres Miteinander und Asylfragen - mit jeweils 32 Prozent sehr nah beieinander.

Ausblick auf Phase zwei im Democracy Lab

Uns geht es im Democracy Lab um mehr als Stimmungsbilder. Wir haben auf unserer Deutschlandreise und über die Online-Plakataktion nicht nur Antworten gesammelt, weil wir wissen wollten, was das Land und die Menschen darin bewegt, sondern weil wir diese Themen in der zweiten Phase unseres Projekts mit Leben füllen wollen.

Im August und September planen wir mehrere Diskussionsveranstaltungen, online und offline, bei denen wir mit Ihnen und allen Interessierten debattieren wollen - über die fünf Themen, für die Sie gestimmt haben. Auf manche haben wir gesetzt, andere haben uns überrascht. Aber das Democracy Lab ist ein Experiment - als Ganzes, thematisch und auch strukturell: Bei den geplanten fünf Veranstaltungen wollen wir gemeinsam mit Ihnen auch verschiedene Formate jenseits der traditionellen Podiumsdiskussion ausprobieren.

Zu allen Diskussionrunden laden wir zeitnah ein - für die erste, am 2. August in München, können Sie sich auch jetzt schon anmelden. Wir möchten dabei und auch bei den Veranstaltungen im September, Menschen aus verschiedenen Schichten und Altersgruppen, mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlicher Herkunft zusammenbringen. Zu den ausgewählten Themen erstellen wir dann Dossiers mit den wichtigsten Informationen - als Grundlage für die Debatte. Denn Ziel ist es, nicht bei der Problembeschreibung aufzuhören, sondern konstruktiv nach Lösungen zu suchen und diese auch darzustellen.

Phase eins des Democracy Labs: Die Deutschlandtour und die Plakataktion

München, Wolfratshausen, Gelsenkirchen, dann nach Mannheim, Bremen, Bremerhaven und am Ende nach Frankfurt/Oder, Beeskow, Jena, Ronneburg und Schmölln. Einmal die Republik im Uhrzeigersinn. Mit Leuten vor Ort ins Gespräch kommen, erfahren, was sie bewegt. Unsere zentrale Frage: „Was muss sich in Deutschland ändern“. Die stellen wir auch im Netz, wo Bürger ihre eigenen Wahlplakate gestalten konnten. Wir haben in der ersten Runde des Democracy Labs, online und offline, viel erlebt, viel erfahren. Hier ein paar Eindrücke:

„Was macht ihr eigentlich hier?“ Ein Mann mit Strohhut, Biobauer von Beruf, will das wissen, er hat uns auf dem Markt in Beeskow entdeckt, das liegt kurz vor Polen. In Zeiten, da zwar viel geredet wird, aber oft sehr ruppig und unversöhnlich, will die SZ direkt von den Bürgern hören, was sie ärgert und freut. Bewusst lassen wir die großen Metropolen links liegen und steuern Städte an, die nicht jeden Tag in der Tagesschau vorkommen und kleinere Orte an der Peripherie. Beeskow zum Beispiel, gelegen im Landkreis Oder-Spree, 8000 Einwohner. Dort erzählt der Bauer mit dem Strohhut, wie gut er die Demokratie findet, dass die Zeit der Abwanderung gen Westen zu Ende sei und viele wieder zurückkämen. Was muss sich ändern in Deutschland? Darüber denken an zwölf Stationen des Democracy Labs Hunderte Menschen nach - und geben kluge, überraschende, konstruktive Antworten:

Süddeutsche Zeitung

Jeden Tag, kurz vor zehn Uhr, wenn wir den Sonnenschirm aufspannen, werden wir beobachtet. SZ-Leser sind über unser Kommen informiert, manche reisen viele Kilometer an, um dann Punkt zehn auf der Bierbank Platz zu nehmen. Sie sind mitunter akribisch vorbereitet. In Wolfratshausen informiert eine junge Frau über den Mangel an Hebammen, in München plädiert ein Mann für die Abschaffung des Mittwochs, um übers Jahr mehr Wochenenden zu haben. Sie notieren Stichworte, sie argumentieren und fordern. Manche schimpfen, natürlich auch über unsere Zunft. „Erziehungsjournalismus“, sagt einer in Jena. Quatsch! Oder?

Mehr aus Jena und darüber, was die Menschen dort bewegt, lesen Sie in dieser Reportage:

Ein Labor stellt man sich vor als Wirrwarr von dampfenden Kesseln und rauchenden Röhren, aus denen farbige Substanzen quellen. So ähnlich funktioniert auch das Democracy Lab, es liefert Produktives und Unverschämtes, so kunterbunt und durcheinander wie die Republik. Gewiss, es kommen keine Prozentzahlen dabei heraus, das „Labor“ arbeitet nicht wissenschaftlich, und doch lässt sich in zwei Wochen der Gemütszustand des Landes erspüren.

Auf Seite eins der Zeitungen steht es nur noch selten, aber auf der Straße ist es weiterhin das Thema: Flüchtlinge, Migranten. In Gelsenkirchen vor allem, wo die Fassaden nicht so glänzen wie in München, dominiert es den Diskurs. Einer, schon etwas älter, sagt: „Die Leute reden untereinander darüber, aber nicht offen. Weil sie Angst haben, dass man sie für Nazis hält.“ Das SZ-Lab ist das Gegenteil von Schweigen. Viele reden offen, verbinden ihre Kritik an der Asyl-Politik aber mit der Bitte, sie nicht gleich in die rechte Ecke zu stellen.

Mehr aus Gelsenkirchen und darüber, was die Menschen dort bewegt, lesen Sie in dieser Reportage:

Asyl. Bei keinem anderen Thema kommen die inneren Widersprüche so zum Vorschein. Da beschimpft einer die Schiffs-Retter im Mittelmeer als „SA der Grünen“, um eine Viertelstunde später zu betonen, wie stolz er sei, dass Deutschland Flüchtlinge aufnehme, „echte Flüchtlinge“. Eine Frau schiebt ihr Rad über den Wormser Obermarkt und sagt, dass es zu viele Ausländer in Deutschland gebe, sie spricht von Bomben und Terroristen. „Ich habe Angst.“ Ihr Deutsch ist nicht perfekt, sie lebt seit 27 Jahren hier, und nun überlegt sie zurückzukehren. Die Frau stammt aus der Dominikanischen Republik. Hier die Angst, dort die Konkurrenz: Viele fühlen sich angesichts der Hilfe für Flüchtlinge vom Staat benachteiligt. Man müsse mehr für die „eigenen Leute“ tun, das hören wir immer wieder. Von hier aus ist es nicht weit zu jenem Thema, das im Wahlkampf als Schlagwort von der „sozialen Gerechtigkeit“ daherkommt und nichts mit Migranten zu tun hat. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Das führt zu Verdruss.

Im echten Labor dampft es erst dann so richtig, wenn verschiedene Substanzen miteinander reagieren. Im SZ-Lab kommen in den Kessel die Meinungen von Linken wie Rechten, von Alt und Jung. In Frankfurt/Oder beklagen sich zwei Teenager, wie miserabel ihre Schule ausgestattet sei, ein Computer nur, und der sei uralt. Sarah, Kathrin und Alexis, alle drei aus Bremen, notieren: „Wir wehren uns gegen kaputte Schultoiletten.“ Sie beklagen, dass es in ihrer Schule nur drei Reagenzgläser gebe, und denken an das große Ganze, wünschen sich ein neues Unterrichtsfach: „VadL“ nennen sie es, „Vorbereitung auf das Leben“. Darin soll es um Buchführung gehen und gute Ernährung, ein Anti-Mobbing-Training sollte dabei sein, und auch was zur Gleichstellung von Schwulen und Lesben.

Mehr aus Frankfurt an der Oder und darüber, was die Menschen dort bewegt, lesen Sie in dieser Reportage:

In Bremen verlegt eine Uni-Dozentin ihre Seminarsitzung sogar an unseren Bus, es beginnen zwei Stunden Intensivdiskussion mit 15 Studenten. Die Forderungen der Jungen an die Politik lauten: Verbessert die politische Bildung für alle! Gebt den Schülern mehr Informationen über die Politik mit! Erklärt besser! Befähigt die Jugendlichen zum Mitreden und Mitgestalten! Das sagen sie in München wie in Bremen. Ein Lehrer aus Mainz, der eigens nach Worms gefahren ist, wünscht sich Demokratiebildung im Lehrplan, denn eines kommt ihm zu kurz: Dass Lehrer ihren Schülern Lust auf Demokratie machen.

Mehr aus Bremen und darüber, was die Menschen dort bewegt, lesen Sie in dieser Reportage:

Was muss sich ändern in Deutschland? „Alles!“, hören wir immer wieder, gerade im Osten. Ändern? Nein, nichts, sagt ein älterer Mann im Vorbeigehen, er verbringt den Sonntag im Mannheimer Luisenpark. „Ich bin mit unserem Land, so wie es ist, zufrieden. Es geht uns gut.“ Ändern? „Nichts“, sagen zwei junge Männer in Jena, „alles ist gut. Wir sind hier angekommen.“ Sie sind aus Syrien geflohen. Zwischen alles und nichts, zwischen gut und böse kommen viele Themen zur Sprache, nicht neu, aber drängend: Die Sorge um die Rente gehört dazu wie die ums Klima, der Ärger vieler Familien in Ballungszentren, die eine bezahlbare Wohnung suchen.

Der Wohnungsmarkt ist besonders in München ein Thema - lesen Sie in dieser Reportage mehr dazu:

Wir hören große, gewichtige Worte: Freiheit, Gleichheit, Menschlichkeit – viele machen sich Gedanken über das Zusammenleben. Und viele Menschen hätten das Gefühl, ihre Meinung nicht mehr sagen zu dürfen, meint ein SPD-Mitglied aus Frankfurt/Oder. Nach einem langen Gespräch über Putin, Steuern und Flüchtlinge bittet er, dies zu notieren: „Political Correctness wird zu hoch gehängt. Das verhindert eine offene Diskussion.“

Das ausführliche Reisetagebuch zur Deutschlandtour des Democracy Labs finden Sie zum Nachlesen hier:

Immer wieder wird er laut: der Wunsch nach offener, fairer Debatte. Danach zu sagen, was einem wichtig ist, was einen umtreibt. Die Menschen, die wir unterwegs nicht getroffen haben, konnten uns online ihre Meinung sagen - oder vielmehr malen. Mit einem neuen Tool konnten Interessierte ein eigenes Plakat gestalten - und so uns und allen Lesern mitteilen, was Ihre Antwort auf die Frage ist: Was muss sich in Deutschland ändern? Herausgekommen sind dabei mehr als 5000 kleine Kunstwerke und große Botschaften - wie diese hier:

Alle Plakate können Sie sich auf dieser Seite anschauen:

Die SZ solle öfter rausgehen, ihre Diskurs-Werkstatt intensivieren, das Democracy Lab größer aufziehen, wünscht sich ein Leser. Ein Mann in Frankfurt an der Oder fragt überrascht: „Ihr wollt wirklich meine Meinung hören?“ Wollten wir -  und wollen wir auch weiterhin. Denn die Deutschlandreise und die Online-Plakataktion waren nur der Anfang. Das Democracy Lab hat im Juni und Juli im Wortsinn Fahrt aufgenommen, im August und September geht es weiter. Nachdem wir zugehört, Meinungen, Forderungen und Ideen gesammelt haben, wollen wir jetzt darüber mit Ihnen diskutieren. Im besten Fall lernen wir bei diesem Projekt nicht nur etwas über die politischen Inhalte, sondern auch über die Frage, wie wir wieder besser miteinander ins Gespräch kommen und debattieren können. Das Democracy Lab ist wie gesagt ein Experiment. Machen Sie mit!

Und wenn Sie noch Fragen oder Anregungen zum Projekt haben - schreiben Sie uns: democracylab@sz.de

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