Karneval in Rio 

Helão!

Viel nackte Haut, Kruzifixe und ein unfassbares Chaos: All die Widersprüche Brasiliens prallen im Karneval aufeinander. Ein Jahr hinter den Kulissen.

Text: Boris Herrmann, Fotos und Videos: Evgeny Makarov

An einem Nachmittag im Januar lässt sich Chiquinho da Mangueira ins Sofa fallen. Dann schnappt er sich die Fernbedienung seiner Klimaanlage und drückt ein paar Mal auf den Knopf mit dem Minuszeichen. Ein ungeschriebenes brasilianisches Gesetz besagt, dass die wichtigsten Männer in den kältesten Büros residieren. Für den Präsidenten der Escola de Samba Estação Primeira de Mangueira, einer der traditionsreichsten Sambaschulen von Rio, erscheinen 16 Grad gerade angemessen. 

Chiquinho, 63, lehnt sich zurück. Sein Gesicht sieht so frisch gebügelt aus wie immer, aber in seinem Kopf, das spürt man sofort, geht gerade einiges durcheinander. Es sind jetzt nur noch wenige Wochen bis zum Karneval 2018, und wer die Mangueira-Schule ein Jahr lang bei der Vorbereitung begleitet hat, weiß, dass sich dabei Höhen und Tiefen abwechseln. Aber so verzweifelt hat man Chiquinho noch nie erlebt. „Ich schlafe sehr schlecht“, sagt er. Pause. „Wenn es nach mir ginge, würde es dieses Jahr keinen Karneval geben.“

Rios Bürgermeister sieht im Karneval ein Hochfest der Sünde – und streicht Zuschüsse

Der diplomierte Sportlehrer ist Abgeordneter im Landesparlament, Vizepräsident der Justiz-Kommission und er war Sekretär für Sport in einer Zeit, als sich die Stadt auf die Fußball-WM und Olympia vorbereitete. Unter seinem bürgerlichen Namen Francisco Manoel de Carvalho kennt ihn nur die engste Familie. Als Chiquinho baute er die „Vila Olimpica“ auf, eine Sportschule, die er als das „größte Sozialprojekt der Welt“ vermarktet. Sie liegt in der Favela Mangueira, fußläufig zum Maracanã-Stadion. Als Chiquinho empfing er dort Bill Clinton, Nelson Mandela, Pelé und Usain Bolt. Unter diesem Namen leitet er auch seinen Karnevalsgroßbetrieb mit Hunderten Angestellten. Es hat deshalb eine gewisse Dringlichkeit, wenn er jetzt alles hinwerfen will.

Den Karneval von Rio de Janeiro gibt es seit mehr als hundert Jahren, den Wettbewerb seiner Sambaschulen seit 1932. Er ist nie ausgefallen, weder im Zweiten Weltkrieg noch zu Diktaturzeiten oder in der tiefsten Wirtschaftskrise. Unvorstellbar. Chiquinho aber findet: „Aus finanzieller Sicht ist es unverantwortlich. Das Land ist pleite, die Stadt auch. Unser Bürgermeister macht uns das Leben zur Hölle. Es passiert ein Scheiß nach dem nächsten.“

Warten auf den Umzug: Die Kopie der monumentalen Cristo-Statue ist vom letzten Karneval übrig geblieben. Er wird an eine kleinere Sambaschule verkauft oder recycelt.

Evgeny Makarov  

Warten auf den Umzug: Die Kopie der monumentalen Cristo-Statue ist vom letzten Karneval übrig geblieben. Er wird an eine kleinere Sambaschule verkauft oder recycelt.

Tatsächlich liegt ein, freundlicher ausgedrückt, kompliziertes Jahr hinter Rio de Janeiro. Seit dem olympischen Kraftakt von 2016 wirkt die Stadt wie ausgeblutet. Lehrer, Professoren, Ärzte und Polizisten streiken, weil sie gar nicht oder unregelmäßig bezahlt werden. Schüler besetzen Schulen, um ihren eigenen Unterricht zu organisieren. In öffentlichen Krankenhäusern wird nur noch in Notfällen operiert. Im Zentrum steigen Passanten über eine wachsende Zahl von Obdachlosen hinweg. Seit Monaten steht die große Turmuhr am Bahnhof Central still, weil kein Geld mehr da ist, um die Zeiger zu reparieren. Nur dem organisierten Verbrechen geht es gut. 2017 wurden im Großraum Rio 6500 Menschen ermordet. „So, und mitten in diesem ganzen Wahnsinn sollen wir also die größte Show des Planeten organisieren“, sagt Chiquinho. „Das ist praktisch unmöglich.“ 

Klingt nachvollziehbar. Zumal die Sambaschulen besonders leiden, seit der einstige evangelikale Pastor Marcelo Crivella im Rathaus residiert. Dass er Karneval verabscheut, das Hochfest der Sünde, des Exzesses und der afrobrasilianischen Kultur, hat er oft bewiesen. 2017 ging er als erster Bürgermeister in die Stadtgeschichte ein, der die Eröffnungszeremonie schwänzte. Wenig später strich er die Hälfte der Karnevals-Subventionen. Seither herrscht Krieg zwischen Rathaus und Sambaschulen.

Manche Sambaschule wird wie ein Profi-Fußballklub geführt. Es geht um sehr viele Millionen

Andererseits erscheint es viel unmöglicher, diese Megaparty ausfallen zu lassen. Sie lockt mehr als eine Million Touristen an, schafft Zehntausende Arbeitsplätze und setzt über das gesamte Jahr hinweg fast eine Milliarde Euro um. Aydano Motta, einer der führenden Karnevalsexperten der Stadt, ist der Meinung: „Wenn wir das auch noch absagen, kann Rio zumachen.“

Evgeny Makarov
Die Schritte müssen sitzen, der Text auch: Mindestens zweimal die Woche proben die Bewohner der stolzen Favela Mangueira.

In der Stadt gibt es 102 Sambaschulen, die seit zwölf Monaten nichts anderes tun, als sich auf ihre Parade vorzubereiten.

Bei Mangueira haben sie sechs Festwagen von der Größe mehrstöckiger Häuser gebaut, rund drei Millionen Euro für eine knapp 90-minütige Show investiert. Auch Chiquinhos Schule wird in diesem Jahr wieder mit 3500 Menschen defilieren.   

Marcia Campos, 52, tanzt schon zum 15. Mal mit, sie wurde in der Favela geboren. Ihr Mann starb an Krebs, sie hat zwei Töchter und fünf Enkelkinder. Tagsüber putzt sie in einem Krankenhaus, ihre Nächte gehören dem Samba. Donnerstags und sonntags werden die Schrittfolgen für den Umzug geübt, und an den anderen Tagen findet sich meist auch ein Anlass, um zu tanzen. 

Marcia Campos, 52, (Bildmitte) stammt aus der Mangueira-Favela. Sie sagt: „Ich werde tanzen, bis ich tot umfalle.“

Evgeny Makarov    

Marcia Campos, 52, (Bildmitte) stammt aus der Mangueira-Favela. Sie sagt: „Ich werde tanzen, bis ich tot umfalle.“

Campos ist weder schlank noch geliftet oder langbeinig, sie entspricht so gar nicht dem brasilianischen Schönheitsklischee. Beim Umzug spielen Aussehen und Alter keine Rolle. Auch Campos’ Mutter, 67, defiliert für Mangueira. „Das ganze Nachbarschaftsleben richtet sich nach dem Kalender der Sambaschule“, sagt die Tochter.   

Vielerorts, etwa in Köln, beginnt die fünfte Jahreszeit am 11.11. In Rio gibt es nur eine Jahreszeit, hier ist immer Karneval. Der Wettbewerb in den Nächten zum Rosenmontag und Fastnachtsdienstag bildet den dramaturgischen Höhepunkt. Dabei treten die 13 größten Schulen an, darunter auch Mangueira, der neunzehnmalige Champion. Am Aschermittwoch wird abgerechnet. Noch am selben Tag fängt die Arbeit fürs nächste Jahr an.

Am Aschermittwoch des Jahres 2017 ist im Sambódromo, in Rios Karnevalsstadion, zunächst noch ein deutlich besser gelaunter Chiquinho anzutreffen. Er sitzt unter einem Sonnenschirm, nippt Cola aus einem Plastikbecher und notiert sich die Punkte der Wertungsrichter. Mangueira, der Titelverteidiger, erhält in der Kategorie Umzugswagen 30 Punkte, das ist das Maximum. Schlagzeuggruppe: 30 Punkte. Kostüme: 30 Punkte. Samba-Thema: 30 Punkte. Läuft. Chiquinho ballt die Fäuste. Wenn er für den Umzug seiner Schule schon Millionen ausgeben muss, will er wenigstens den 20. Titel. 

Für Chiquinho zählt nur der Titel. Aber das Geschäft mit dem Samba wird immer schwieriger: „Am liebsten würde ich morgen aufhören.“
Für Chiquinho zählt nur der Titel. Aber das Geschäft mit dem Samba wird immer schwieriger: „Am liebsten würde ich morgen aufhören.“

Wahrscheinlich konnte nur ein Mensch aus Rio auf die Idee kommen, den Karneval wie eine Sportveranstaltung zu organisieren. Es war Mário Filho, der Namenspatron des Estadio Mário Filho, besser bekannt als Maracanã. Der Sportjournalist regte in den 1930er-Jahren an, aus dem bis dahin recht unkoordinierten Treiben der Sambaschulen einen Wettkampf zu machen. Erster Preisträger 1932 war die Gruppe vom Mangueira-Hügel.

Inzwischen gibt es ein fünfgliedriges Ligasystem, von der Champions League bis zur Kreisklasse. Auf allen Ebenen wird um den Meisterpokal, um Aufstieg und Abstieg gekämpft. Ganz oben geht es um Millionen. Die besten Schulen unterhalten Fanclubs und Fanshops, Trainings- und Nachwuchsleistungszentren. Sie werden geführt wie professionelle Fußballvereine und zahlen entsprechende Gehälter an ihre Diven, Musen und Sänger.

Vor allem aber an ihren künstlerischen Leiter, den sogenannten Carnevalesco. Das ist der wichtigste Job im Karnevalssport. Der Carnevalesco von Mangueira ist der 37-jährige Leandro Vieira, der Nachwuchsstar der Szene. Chiquinho hatte ihn in akuter Finanznot aus einer der unteren Ligen verpflichtet, nicht, weil er renommiert, sondern weil er bezahlbar war. Gleich im ersten Anlauf führte Leandro seine Mangueira zum Titelgewinn 2016. Und jetzt, genau ein Jahr später, sieht es wieder ziemlich gut aus. Bis die Wertungskategorien „Ablauf“ und „Harmonie“ an der Reihe sind.   

Chiquinho kaut Fingernägel, er scheint das Unheil zu ahnen. Bei der Mangueira-Parade zwei Tage zuvor war der Motor eines Festwagens abgesoffen. Dadurch bildete sich für einen kleinen Augenblick eine knapp 80 Meter lange Lücke zwischen den Tänzerinnen und Tänzern. Dummerweise genau in der Mitte der Stadiongeraden, dort, wo die Jury sitzt. Ablauf: 29,9. Harmonie: 29,9. Chiquinho und Leandro wissen: Damit ist der Titel weg. Diesmal reicht es nur für den vierten Platz.

„Trotzdem okay“, sagt Chiquinho, bevor er hinter den getönten Scheiben seines Dienstwagens verschwindet. „Ein Jahr Arbeit für die Katz“, wird Leandro beim nächsten Treffen sagen.

Die Arbeit des Carnevalescos ist ein Wettlauf mit der Zeit, von Anfang an. Am 12. Februar 2018, gegen drei Uhr, wird das Startsignal für die nächste Mangueira-Parade ertönen. Und Leandro weiß: Bei der Frage, ob alles rechtzeitig fertig wird, geht es am Ende nicht um Tage, sondern um Stunden, vielleicht Minuten. Er liebt diesen Kick. Er glaubt an die „Magie der Improvisation“. Man muss sich solch ein Defilee wie ein mobiles Broadway-Musical vorstellen. Am Broadway wird allerdings viel geübt vor der Premiere. Beim Karneval in Rio fügen sich die unzähligen Puzzleteile erst in letzter Sekunde zusammen. Es passiert alles zum ersten Mal im Moment der Aufführung – wenn 80 000 Menschen im Sambastadion zuschauen und Millionen in aller Welt vor den Fernsehern sitzen.

Im April sind die Schulen noch mit dem Abbau der riesigen Umzugswagen beschäftigt. Alleine das dauert mehrere Wochen. Die Karren werden auseinandergenommen, bis nur noch die Chassis übrig sind, die Unterbauten ausrangierter Reisebusse. 

Der Karneval gehört den Favelas, unter denen in den Werkshallen an Fabelgestalten gesägt wird.

Evgeny Makarov  

Der Karneval gehört den Favelas, unter denen in den Werkshallen an Fabelgestalten gesägt wird.

Der Karneval ist ein Fest, das sich jedes Jahr selbst zerstört, um neu entstehen zu können. Jetzt geht es auch darum zu entscheiden, was wiederverwendet wird für die nächste Parade. Aus Hunden lassen sich Drachen basteln. Aus Pferden Zebras. Aus Spaniern Indios. „Wir sind Recycling-Künstler“, sagt Leandro.   

In Rio gibt es für diese Arbeiten einen eigenen Stadtteil, die Cidade do Samba. Sie besteht aus 14 Werkshallen, eine für jede Erstligaschule sowie eine zur Reserve. Jede Halle hat vier Stockwerke und 7000 Quadratmeter Produktionsfläche. Unten werden Karren zusammengeschweißt, im zweiten Stock sitzt die Verwaltung, im dritten werden 3500 Kostüme genäht, ganz oben arbeiten die Styropor-Schnitzer und die Kunstfaser-Gießer. „Das läuft hier in Fließbandarbeit wie in einer Autofabrik“, sagt Leandro. 

In 14 riesigen Werkshallen schuften die Arbeiter, um die Kostüme und Styropor-Figuren rechtzeitig zu liefern.

Evgeny Makarov  

In 14 riesigen Werkshallen schuften die Arbeiter, um die Kostüme und Styropor-Figuren rechtzeitig zu liefern.

Bevor das Fließband anlaufen kann, muss er seine wichtigste Entscheidung treffen, das Oberthema des nächsten Umzugs. Die Sambaschule steckt hier in einem Interessenkonflikt. Aus Sicht des Carnevalesco gilt: je früher, desto besser. Erst wenn es ein Thema gibt, kann er anfangen, die Wagen und die Prototypen für seine Kostüme zu entwerfen. Aus Sicht von Präsident Chiquinho gilt jedoch: je später, desto besser. Solange das Thema offen ist, hat er die Chance, einen Themensponsor zu finden. Ein bis zwei Millionen Euro wurden dafür schon bezahlt, damit wäre die Finanzierung der Parade gesichert. Aber im Krisenjahr 2017? „So schwer war es noch nie“, stöhnt Chiquinho.

Der Samba ist die Musik der Schwarzen, und das bedeutet in Brasilien: der Armen, der Unterdrückten

Mitte Juni hat er immer noch keinen Sponsor. Dafür eskaliert jetzt der Streit mit dem Bürgermeister. Crivella hat gerade einen Sparplan vorgelegt. Jeder Sambaschule will er knapp 300 000 Euro an Zulagen streichen. Das Geld soll in Kitas und Schulen fließen. „Reiner Populismus“, schimpft Chiquinho. Die Präsidenten der Sambaschulen drohen Ende Juni mit Streik. Zieht Crivella den Sparplan durch, fällt 2018 der Karneval aus! Die Lage ist ernst. O Globo, die führende Zeitung des Landes, fragt: „Wenn Brasilien morgen ausradiert wird, was war dann sein Beitrag zur Menschheitsgeschichte?“ Klare Antwort: Rios Samba-Wettkampf. Aber die Menschheit hat noch einmal Glück. Mitte Juli einigen sich die Schulen mit Crivella auf einen Kompromiss. Er kürzt ihre Subventionen um 25, nicht um 50 Prozent. Streik abgewendet. 

Kurz zuvor hat Leandro erfahren, dass er freie Hand bei der Themenwahl hat. Die Sponsorensuche wurde erfolglos abgebrochen. Für Leandro ist das ein Segen. Er kann nun das Thema bekanntgeben, das er seit Wochen mit sich herumträgt: Die Krise selbst! Er wird seiner Show den Titel geben: „Com dinheiro ou sem dinheiro, eu brinco.“ Frei übersetzt: Mit oder ohne Geld, ich amüsiere mich.

Leandro ist künstlerischer Leiter der Sambaschule „Mangueira“. Das ist der wichtigste Job im Karnevalssport.

Evgeny Makarov    

Leandro ist künstlerischer Leiter der Sambaschule „Mangueira“. Das ist der wichtigste Job im Karnevalssport.

Das Defilee einer Sambaschule erzählt im besten Fall eine gute Geschichte. 2018 möchte Leandro die Geschichte des Karnevals erzählen, der einmal dem einfachen Volk gehörte und in den Favelas erfunden wurde und der sich unter dem Einfluss der Kommerzialisierung selbst verraten hat. In der aktuellen Finanzkrise sieht er sogar eine Chance – weniger Geld fördere vielleicht die Kreativität. „Leandro“, sagt eine einflussreiche Vermarkterin des Karnevals, „ist halt ein Kommunist.“ Er lächelt, wenn er so etwas hört. Seine Parade soll durchaus auch ein Manifest sein. Gegen den Rechtsruck in Brasilien, gegen die wachsende Intoleranz. Gegen Bürgermeister Crivella. „Zeit, anzuklagen“, sagt er.   

Leandro Vieira, hohe Stirn, Fünftagebart, stammt aus Rios Mittelschicht. Er studierte Kunst, trommelte beim Straßenkarneval und schämt sich eher dafür, dass er jetzt mit seiner Ehefrau als närrisches Traumpaar die Titelseiten der Hochglanzmagazine schmückt. Er ist mit Squel Jorgea verheiratet, einer der großen Diven des Sambabetriebs. Leandro kommt täglich im grün-rosafarbenen Mangueira-T-Shirt und in Shorts zur Arbeit. Er sieht aus wie einer von Zehntausenden Fans seiner eigenen Schule. Dabei ist es in seinem Atelier auch nicht wärmer als 17 Grad. 

An einem Montag im Juli stehen vor seiner Tür gut 30 Musiker Schlange. Sie alle haben vor, sich mit ihren Kompositionen um den offiziellen Mangueira-Samba zu bewerben. Das Lied, zu dem die Schule durchs Sambódromo defilieren wird. Wer am Ende den Zuschlag erhält, wird in einem aufwendigen Gesangswettbewerb ermittelt. Heute bietet der Carnevalesco eine Fragestunde für die Komponisten an, ihr Samba soll zu seinem Thema passen. Je zehn Minuten gewährt Leandro den Musikern, die zu den berühmtesten Stars der Branche gehören. Dann geht die Tür auf, ein eisiger Luftzug weht aus dem Atelier. „Der Nächste bitte!“

Als sich in der Schlange abzeichnet, dass die Samba-Produzenten Lequinho und Alemão do Cavaco in diesem Jahr gemeinsame Sache machen, verabschieden sich die Ersten gleich wieder, „nichts zu holen dieses Jahr“. Lequinho und Alemão gelten als unschlagbar. Sie lassen sich von Leandro solche Sätze in den Block diktieren: „Spielt mit der Krise!“, „Schreibt mir ein Protestlied!“, „Nieder mit dem Kommerz!“

Eine Ode an die Improvisationskunst und den Karneval des kleinen Mannes soll der Samba sein, den sich Leandro wünscht.

Evgeny Makarov  

Eine Ode an die Improvisationskunst und den Karneval des kleinen Mannes soll der Samba sein, den sich Leandro wünscht.

Im Sambódromo gilt ein strenges Werbeverbot, das auf sehr brasilianische Weise umgangen wird. Der TV-Monopolist Globo, der die Übertragungsrechte besitzt, duldet kein Namenssponsoring auf den Kostümen und Wagen. So hat sich das Themensponsoring etabliert. 1985 ging es los mit einem Umzug der Traditionsschule Império Serrano, der von der Brauerei Brahma bezahlt wurde. Getanzt wurde dann zu dem Refrain: „Samba, Schweiß und Bier, der Treibstoff der Illusion.“ Diesem Beispiel folgend gab es auch schon einen Joghurt-Samba (freundlich unterstützt von Danone). Sehr beliebt ist die Staatenvermarktung. 2015 gewann die Schule Beija-Flor mit einer Ode an den Diktatorenstaat Äquatorialguinea den Titel. Im selben Jahr kam es beim Thema Schweiz zu einer kleinen Panne. Die Schule Unidos da Tijuca stammt aus der Favela Borel, was der Komponist des Sambas zum Anlass nahm, Borel auf Nobel zu reimen. Erst als das Lied aufgenommen und die CD auf dem Markt war, stellte sich heraus, dass er die Schweiz (portugiesisch: Suíça) mit Schweden (Suéçia) verwechselt hatte. Im Sambódromo wurden dann halt schweizerische Nobelpreisträger gefeiert.

Leandro kann sich über so etwas mitreißend aufregen. Als Leistungsschau internationaler Sponsoren verrate der Karneval seine Wurzeln und seinen Sinn, findet er. „Das ist eher Las Vegas und Disney.“ 

Neben all den mythischen und religiösen Symbolen  kommt im Karneval auch jede Menge nackte Haut dazu.

Leo Correa/AP

Neben all den mythischen und religiösen Symbolen kommt im Karneval auch jede Menge nackte Haut dazu.

Die Wurzeln, der Sinn. Da muss man ein bisschen ausholen. Der Samba ist die Musik der Schwarzen, und das bedeutet in Brasilien: der Armen, der Unterdrückten. Rio ist wie keine andere neuzeitliche Großstadt durch die Ausbeutung afrikanischer Sklaven groß geworden. Ihre Nachfahren stellen heute mehr als die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung, aber keinen Bundesminister. Weit überdurchschnittlich repräsentiert sind sie in der Mordopfer-Statistik, in den Gefängnissen und vor allem in Rios Armenvierteln, den rund tausend Favelas. Von dort stammen auch die Sambaschulen. Es gehört zu den großen Paradoxien Brasiliens, dass nahezu alles, was seine Gegenwartskultur ausmacht – die Gastronomie, der Fußball, der treibende Rhythmus – von jenen Menschen geprägt wurde, die einst gegen ihren Willen ins Land kamen. 

1960 zog eine Samba-Schule mit Brasiliens Sklavengeschichte ins Sambódromo – eine Revolution

Bis ins 20. Jahrhundert hinein war der Samba in Brasilien verboten. Sein Ursprung liegt im Klagelied gegen den Rassismus. „Seine Essenz ist das Subversive“, sagt Leandro. Es mag an dieser Stelle vielleicht interessant sein, dass seine Haut weiß ist. „Ich liebe Leandros Ansatz“, sagt die schwarze Tänzerin Marcia Campos. „Er thematisiert das, was wir auf dem Hügel durchmachen.“ In der Mangueira leben knapp 20 000 Menschen. Es ist einer der ärmsten Orte von Rio, aber auch einer der stolzesten, dank der Sambaschule. „Wieso kennt man uns? Drogendealer und Karneval“, sagt Campos.

Die Vergessenen: In den Armenviertel Rios wie hier in Mangueira wurde einst der Karneval erfunden.

Mario Tama/Getty Images

Die Vergessenen: In den Armenviertel Rios wie hier in Mangueira wurde einst der Karneval erfunden.

Die Müllabfuhr traut sich erst seit wenigen Jahren hierher, die Polizei hat schon wieder aufgegeben. Vor Olympia zogen Pazifizierungseinheiten in der Favela ein. Ein gesetzloser Schandfleck in Rufweite zum Maracanã passte nicht ins Image. Seit der olympischen Schlussfeier knallt es wieder häufiger.

Evgeny Makarov
Viele schicken ihre Kinder und Enkel auch deshalb zum Samba, weil sie Angst um sie haben.

Neulich sagte sie einem Enkel: „Der Tote hier, der liegt da, weil er den falschen Weg eingeschlagen hat.“ Auch die Kinder einiger Drogenbosse kommen in die Sambaschule. Chiquinho bestreitet aber, dass es irgendeine Form von Arrangement mit den Banditen gebe. „Wir lassen uns gegenseitig in Ruhe.“   

 Was Rios Karneval so besonders macht, ist die Verbindung der schwarzen Sambamusik mit den Bräuchen und Symbolen der portugiesischen Adelskultur, der Könige, Prinzessinnen und Tambourmajoren, der Sklavenhalter. Laut dem Karnevalshistoriker Motta hatten die ersten Sambaschulen der 1920er- und 1930er-Jahre schlichtweg keine andere Wahl, als in ihren Umzügen die offizielle brasilianische Geschichte zu erzählen, also die Geschichte der weißen Oberschicht. Alles andere wäre sofort unterbunden worden. Erst im Jahr 1960 wagte die Schule Salgueiro eine Revolution und zog mit einer Parade über die Sklaven-Historie ins Sambódromo. Erstmals erzählte der Karneval damit eine Geschichte, in der seine Erfinder vorkamen.

Für die Schulen ist das der nächste Beweis, dass Bürgermeister Crivella den Karneval sabotieren will

Alte Kamellen? Seit einiger Zeit werden von Rios Touristen-Information nur noch Stadtpläne ausgegeben, in die keine Favelas eingezeichnet sind. Dabei ist das Event, das mit Abstand die meisten Touristen anzieht, das Fest der Favela-Kultur. Wer meint, es gäbe in Brasilien keinen Rassismus mehr, der irrt. Er ist allenfalls ein bisschen subtiler als früher. 

Die interne Samba-Ausscheidung bei Mangueira („Eliminatorias“) findet im Zentrum der Schule statt. Acht Wochen zieht sich das hin. Mitte September sind noch sechs Sambas im Rennen. Alle Komponisten bringen 50 bis 100 Claqueure mit, um die Jury zu beeinflussen. Die Musiker zahlen Anfahrt, Grillwürste und viel Bier. Wenn ihr Einsatz kommt, müssen die Fans gut gelaunt sein. Alle großen Sambaschulen veranstalten in dieser Jahreszeit an einem anderen Wochentag solche Eliminatorias. Fünf Monate vor dem Karneval ist in Rio schon jede Nacht Karneval.  

Bürokratisch wird der Karneval geplant. Am Ende mündet alles in ein unfassbares Chaos 

Ein Samba, der beim großen Wettbewerb im Februar Siegeschancen haben will, muss viele Kriterien erfüllen. Das wichtigste ist aber ein ausgewogenes Tempo. Wenn der Samba zu langsam ist, reißt er keinen mit. Wenn er zu schnell ist, hält ihn kein Mensch durch. Ein Defilee im Sambódromo dauert 75 Minuten. So lange läuft das Lied in Dauerschleife. So lange muss es am Stück gesungen und getanzt werden.

Am 7. Oktober steht fest: Mangueira geht 2018 mit dem Samba von Lequinho und Alemão ins Rennen. Es ist, ganz nach Leandros Wünschen, eine Ode an die Improvisationskunst, die Flickschusterei und den Karneval des kleinen Mannes. „Glanz und Reichtum interessieren uns nicht“, heißt es da. „Aus Gabeln und Tellern machen wir unsere Tamburine.“ 

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Ganze Lastwagenlieferungen voller Trommeln kommen für die Musiker an.

Von Mitte Oktober bis Mitte November wird die Cidade do Samba auf Anordnung der Behörden geschlossen. In einer Werkshalle war ein Bauarbeiter abgestürzt und sofort tot. Erst wenn alle Sicherheitsrichtlinien erfüllt seien, dürfe weitergearbeitet werden, heißt es. Für die Schulen ist das der nächste Beweis, dass Bürgermeister Crivella den Karneval sabotieren will. Viele sind mit dem Bau ihrer Festwagen im Verzug. O Globo schreibt: „Es sieht in den Hallen immer noch wie am Aschermittwoch aus.“ Alle sind am Klagen, nur Leandro nicht. Er sagt: „Einmal sind im Januar die Hallen von vier Schulen abgebrannt. Sie haben ihren Umzug dann in vier Wochen organisiert. Irgendwie geht es immer.“ 

Nicht einmal das Buffet ist bezahlt worden   

Seine Festwagen dürfen vorab nicht fotografiert werden, wegen des Überraschungseffekts. Auf einem der Karren wird vorne eine Figur mit dicken, nackten Brüsten thronen, eine Hommage an die Transvestitin Laura de Vision. Bürgermeister Crivella hält Homosexualität für eine Krankheit. Genau deshalb hat Leandro stadtbekannte Dragqueens, Schwule und Lesben zu seiner Show eingeladen. Alles, was die Stadtverwaltung unterdrücken will, erhebt er zum Prinzip.

Zum Jahreswechsel ist Leandro siegessicher: „Ich brauche nicht viel Geld, um zu gewinnen.“ Es ist nicht zuletzt dieser Satz, der Chiquinho zur Verzweiflung treibt, als er auf seiner Bürocouch liegt und alles absagen möchte. „Leandro ist der Künstler. Ich bin derjenige, der die Rechnungen zahlen muss“, sagt der Präsident. Drei halbwegs sichere Einnahmequellen gibt es: das Fernsehgeld von Globo, den Ticketverkauf und das Jogo do Bicho, eine halblegale Lotterie. Sie wird von sogenannten Bicheiros organisiert, die von den Favelas aus den Glückspielmarkt kontrollieren. Der Karneval ist eng verknüpft mit den Bicheiros, ohne sie wären viele Sambaschulen längst pleite. Aber auch mit ihnen reicht es nicht. Das liegt auch an systematischer Misswirtschaft. „Ich habe hier einen Sauhaufen mit Millionen an Schulden übernommen“, erzählt Chiquinho. Gerade habe er wieder eine acht Jahre alte Rechnung beglichen für die Dekoration einer VIP-Lounge. Nicht einmal das Buffet sei bezahlt gewesen. 

Auf die Subventionen der Stadt wartet er auch im Januar noch. Außerdem wird der Müll in der Cidade do Samba nicht abgeholt, wo gerade 13 Schulen mit jeweils 300 Angestellten arbeiten. Das riecht man, draußen sind fast 40 Grad. „Crivella lässt uns einfach im Abfall ersticken.“ Chiquinho bleckt seine Zähne. „Ich kann es nicht erwarten, bis mein Mandat zu Ende ist. Am liebsten würde ich morgen aufhören.“ Die Tänzerin Campos kann es kaum abwarten, dass es losgeht. Acht Tage vor der Parade ist ihr Kostüm fertig, mit Plüsch und Federn wiegt es mehrere Kilo. „Der Umzug ist unglaublich anstrengend, aber ich tanze mit, bis ich tot umfalle“, sagt sie. 

Das Sambódromo wird im Volksmund Sapucaí genannt, nach der Straße, die sich einmal dort befand, wo es heute steht – eingepfercht zwischen Wohnblocks, einer Müllhalde und einem regelmäßig überlaufenden Abwasserkanal.

Eine fantastische Fehlkonstruktion: das Sambódromo, in das zu Karneval 70 000 Menschen strömen. An den restlichen Tagen fließt ungerührt der Verkehr durch.
Eine fantastische Fehlkonstruktion: das Sambódromo, in das zu Karneval 70 000 Menschen strömen. An den restlichen Tagen fließt ungerührt der Verkehr durch.

Als der Architekt Oscar Niemeyer dieses Stadion im Jahr 1983 entwarf, kokettierte er damit, nie in seinem Leben eine Samba-Parade gesehen zu haben. Karnevalisten der Gegenwart sagen, daran kann es keinen Zweifel geben.   

Der 2012 verstorbene Niemeyer gehört zu den wenigen unumstrittenen Nationalhelden Brasiliens – vermutlich aber nicht wegen, sondern trotz seines Sambódromos. Es handelt sich um die vielleicht charmanteste Fehlkonstruktion von Rio. Unbegreiflich ist, wie Niemeyer bloß die Umkleidekabinen vergessen konnte. Gibt es einen Ort, an dem sich mehr Menschen gleichzeitig umziehen müssen? Wenn sieben Sambaschulen hintereinander defilieren, macht das circa 25 000 Leute pro Nacht. Sie rücken mit Kostümen, Masken, Panierkleidern und mit sehr vielen Federn an, alles in Plastiksäcke gepackt, die so groß sind, dass man sie zu zweit tragen muss. Und weil ihnen nichts anderes übrig bleibt, ziehen sich alle am Straßenrand zu beiden Seiten des Haupteingangs um. Wer einmal 25 000 Brasilianerinnen und Brasilianer in Unterwäsche sehen will, muss kurz vor der Show zum Sapucaí kommen. 

Irre eigentlich, aber Niemeyer war halt nie beim Karneval

Aber besser nicht mit dem Auto. Niemeyer hatte nämlich auch keinen einzigen Parkplatz eingeplant. Die Nachwelt muss sich jedes Jahr aufs Neue mit dem Rätsel beschäftigen, wie 25 000 Artisten und 80 000 Zuschauer zum Veranstaltungsort gelangen sollen. Einer der unkomplizierteren Wege führt über eine Schnellstraße hinter der Tribüne. Kurz vor dem Viadukt muss man den Taxifahrer zu einer Vollbremsung im Halteverbot animieren und dann die Böschung runterklettern.

Dieser Viadukt ist ein Segen für An- und Abreisende, aber leider auch ein blödes Hindernis für die Sambaschulen. Ihre Festwagen passen nicht unter der Brücke hindurch. Sie müssen daher auf dem Weg zum Stadion kilometerweite Umwege durch die Stadt nehmen. Möglich ist auch, sie in mehreren Teilen anzutransportieren und die Endmontage am Eingang zu erledigen. Dafür steht ein Baukran zur Verfügung.

Das Hauptproblem ist aber der Eingang selbst: eine 90-Grad-Kurve, die mit einem Lkw und ein bisschen Fahrgeschick sicherlich gut zu meistern wäre. Handelsübliche Lkw sehen neben Rios Umzugswagen allerdings wie Spielzeugautos aus. Es sind fahrende Wackelbühnen, die mit tonnenweise Holz, Hartschaum und Styropor beladen sind und auf denen mitunter Hunderte herumtanzen. Der bemitleidenswerte Fahrer ist weder von außen zu sehen, noch sieht er nach draußen. Er lenkt auf Zuruf. Es ist praktisch unmöglich, mit so einem Gefährt unfallfrei in die 620 Meter lange Gerade des Sambódromos einzubiegen. Kein Defilee passt dort komplett hinein. Wenn der letzte Wagen um die Kurve biegt, ist der erste längst wieder raus. Das Sambódromo ist viel zu klein für seinen einzigen Daseinszweck. Irre eigentlich, aber Niemeyer war halt nie beim Karneval. 

Die meisten Tänzer können sich den Eintritt ins Sambódromo selbst gar nicht leisten.

Evgeny Makarov  

Die meisten Tänzer können sich den Eintritt ins Sambódromo selbst gar nicht leisten.

Die ganzen Widersprüche Brasiliens begegnen sich in dieser Nacht. Der Rhythmus der Armut treibt ein Milliardengeschäft an. Auf den Festwagen schwingen blanke Hintern um Kruzifixe herum. Nichts in diesem Land wird so bürokratisch organisiert wie der Karnevalswettkampf. Am Ende mündet aber alles in ein unfassbares Chaos aus 25 000 Halbnackten, die sich auf der Straße kostümieren, sich warmtrommeln und einsingen, während die obersten Stockwerke auf Wagen montiert werden, die ohnehin kaum ins Stadion passen.

Concentracão nennt sich dieses Schauspiel. Und Rio wäre nicht Rio, wenn sich daraus nicht eine eigene Party entwickelt hätte. Draußen vor dem Karnevalsstadion werden dafür mobile Tribünen errichtet – für die Leute, die sich die Tickets nicht leisten können und stattdessen die Concentracão gucken. Auch die Tänzerin Marcia Campos wird auf diesen kostenlosen Rängen sitzen, um den größten Teil der Show zu verfolgen. Ins Sambódromo kommt sie nur in jenen 75 Minuten hinein, in denen sie selbst auftritt. Von den VIP-Logen aus (Eintritt 800 Euro aufwärts) werden ihr dann Menschen zujubeln, die niemals einen Fuß in die Mangueira setzen würden. Für Campos ist der Karneval deshalb nicht nur eine fröhliche, sondern auch eine melancholische Veranstaltung. Sie sagt: „Er lässt uns für eine kurzen Moment daran glauben, dass wir wichtig sind.“

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