Der Fehltritt

Im Herbst 2015 stellt eine ungarische Kamerafrau einem Flüchtling ein Bein. Das Video geht um die Welt. Die Geschichte zweier Leben.

Text von Friedemann Karig und Liza Marie Niesmak, Illustrationen: Marc Herold

Osama Mohsen läuft um sein Leben. Seinen Sohn auf dem Arm, eine Plastiktüte in der Hand, den Rucksack auf dem Rücken. Um ihn herum Kameras, Flüchtlinge, Polizisten. Ein Beamter packt ihn, Mohsen reißt sich los, er lässt sich nicht aufhalten. Die ungarische Kamerafrau Petra László filmt die Szene. Als Mohsen vorbeirennt, macht sie einen Schritt nach vorn, stellt dem Mann mit dem Kind auf dem Arm ein Bein. Mohsen fällt. Begräbt seinen Sohn halb unter sich. Steht mühsam auf. Das Kind weint. Mohsen flucht. Dann bricht das Video ab.

Es ist der 8. September 2015. Röszke, ein ungarischer Grenzort. Wenige Häuser, Bahngleise, Felder. ein Zaun. Auf der einen Seite Serbien, auf der anderen Ungarn. Zehntausende Flüchtlinge überqueren hier eine der Grenzen auf der sogenannten Balkanroute. Im Rücken die Vergangenheit, vor sich eine erhoffte Zukunft. Einer dieser Menschen ist Osama Mohsen. Er fällt, steht auf, geht weiter. Schafft es über Budapest und Wien bis nach München. Dort angekommen, ist er bereits ein Star.

Die Bilder von seinem Sturz, veröffentlicht vom deutschen RTL-Reporter Stephan Richter, gehen um die Welt. Sie zeigen eine der verstörendsten Szenen des an solchen Szenen reichen Sommers 2015. Mohsen wird zur Symbolgestalt von Millionen syrischen Flüchtlingen, die an Europas Grenzen gestrandet sind. Erst in München, später in Madrid, wird er empfangen, interviewt, hofiert. Sein siebenjähriger Sohn Zaid bekommt ein Foto mit Cristiano Ronaldo, dem Weltstar. Sein Vater kriegt einen Job bei einer Fußballschule. Nach der qualvollen Flucht aus dem Krieg scheint Osamas neues Leben zu beginnen.

Die Kamerafrau Petra László hingegen steht für ein Südosteuropa, das Flüchtlinge nicht will. Millionen Menschen weltweit hassen Petra László für ihre Haltung und für ihr Verhalten . Sie verliert ihren Job, am selben Tag. Ihre Entschuldigung verhallt, ungehört. Petra Lászlós Leben scheint zerstört zu sein.

Hier könnte die Geschichte von Petra und Osama enden. Wenn die Welt so einfach wäre. Wenn zehn Sekunden Video die Menschen in gute und böse einteilen könnten.

„Ich habe diese Hexenjagd nicht verdient“, sagt Petra László heute.

„Ich wünschte, es hätte dieses Video nie gegeben“, sagt Osama Mohsen.

„Ich denke jeden Tag an Röszke“, sagt Stephan Richter.

  

Spricht man heute mit diesen drei Menschen, werden aus den zornigen Ausrufezeichen, mit denen Tausende Twitter-User das Video damals kommentierten, Fragezeichen: Warum hat Petra László getan, was sie getan hat? Was hat das Video mit ihr und Osama gemacht? Was hat Stephan Richter zu erzählen? Und: Wie viele Leben hat ein Mensch? Denn seit dem 8. September 2015 gibt es Petra László und Osama Mohsen quasi zweimal. Einmal davor, einmal danach. Einmal privat, einmal öffentlich. Dies ist die Geschichte ihrer zweiten Leben.

Der Zeuge - Stephan Richter

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