Karneval in Rio   

  Helão!  

Viel nackte Haut, Kruzifixe und ein unfassbares Chaos: All die Widersprüche Brasiliens prallen im Karneval aufeinander. Ein Jahr hinter den Kulissen.  

Text: Boris Herrmann, Fotos und Videos: Evgeny Makarov  

An einem Nachmittag im Januar lässt sich Chiquinho da Mangueira ins Sofa fallen. Dann schnappt er sich die Fernbedienung seiner Klimaanlage und drückt ein paar Mal auf den Knopf mit dem Minuszeichen. Ein ungeschriebenes brasilianisches Gesetz besagt, dass die wichtigsten Männer in den kältesten Büros residieren. Für den Präsidenten der Escola de Samba Estação Primeira de Mangueira, einer der traditionsreichsten Sambaschulen von Rio, erscheinen 16 Grad gerade angemessen.   

Chiquinho, 63, lehnt sich zurück. Sein Gesicht sieht so frisch gebügelt aus wie immer, aber in seinem Kopf, das spürt man sofort, geht gerade einiges durcheinander. Es sind jetzt nur noch wenige Wochen bis zum Karneval 2018, und wer die Mangueira-Schule ein Jahr lang bei der Vorbereitung begleitet hat, weiß, dass sich dabei Höhen und Tiefen abwechseln. Aber so verzweifelt hat man Chiquinho noch nie erlebt. „Ich schlafe sehr schlecht“, sagt er. Pause. „Wenn es nach mir ginge, würde es dieses Jahr keinen Karneval geben.“  

Rios Bürgermeister sieht im Karneval ein Hochfest der Sünde – und streicht Zuschüsse

Der diplomierte Sportlehrer ist Abgeordneter im Landesparlament, Vizepräsident der Justiz-Kommission und er war Sekretär für Sport in einer Zeit, als sich die Stadt auf die Fußball-WM und Olympia vorbereitete. Unter seinem bürgerlichen Namen Francisco Manoel de Carvalho kennt ihn nur die engste Familie. Als Chiquinho baute er die „Vila Olimpica“ auf, eine Sportschule, die er als das „größte Sozialprojekt der Welt“ vermarktet. Sie liegt in der Favela Mangueira, fußläufig zum Maracanã-Stadion. Als Chiquinho empfing er dort Bill Clinton, Nelson Mandela, Pelé und Usain Bolt. Unter diesem Namen leitet er auch seinen Karnevalsgroßbetrieb mit Hunderten Angestellten. Es hat deshalb eine gewisse Dringlichkeit, wenn er jetzt alles hinwerfen will.

Den Karneval von Rio de Janeiro gibt es seit mehr als hundert Jahren, den Wettbewerb seiner Sambaschulen seit 1932. Er ist nie ausgefallen, weder im Zweiten Weltkrieg noch zu Diktaturzeiten oder in der tiefsten Wirtschaftskrise. Unvorstellbar. Chiquinho aber findet: „Aus finanzieller Sicht ist es unverantwortlich. Das Land ist pleite, die Stadt auch. Unser Bürgermeister macht uns das Leben zur Hölle. Es passiert ein Scheiß nach dem nächsten.“

Warten auf den Umzug: Die Kopie der monumentalen Cristo-Statue ist vom letzten Karneval übrig geblieben. Er wird an eine kleinere Sambaschule verkauft oder recycelt.

  Evgeny Makarov    

Warten auf den Umzug: Die Kopie der monumentalen Cristo-Statue ist vom letzten Karneval übrig geblieben. Er wird an eine kleinere Sambaschule verkauft oder recycelt.

Tatsächlich liegt ein, freundlicher ausgedrückt, kompliziertes Jahr hinter Rio de Janeiro. Seit dem olympischen Kraftakt von 2016 wirkt die Stadt wie ausgeblutet. Lehrer, Professoren, Ärzte und Polizisten streiken, weil sie gar nicht oder unregelmäßig bezahlt werden. Schüler besetzen Schulen, um ihren eigenen Unterricht zu organisieren. In öffentlichen Krankenhäusern wird nur noch in Notfällen operiert. Im Zentrum steigen Passanten über eine wachsende Zahl von Obdachlosen hinweg. Seit Monaten steht die große Turmuhr am Bahnhof Central still, weil kein Geld mehr da ist, um die Zeiger zu reparieren. Nur dem organisierten Verbrechen geht es gut. 2017 wurden im Großraum Rio 6500 Menschen ermordet. „So, und mitten in diesem ganzen Wahnsinn sollen wir also die größte Show des Planeten organisieren“, sagt Chiquinho. „Das ist praktisch unmöglich.“   

Klingt nachvollziehbar. Zumal die Sambaschulen besonders leiden, seit der einstige evangelikale Pastor Marcelo Crivella im Rathaus residiert. Dass er Karneval verabscheut, das Hochfest der Sünde, des Exzesses und der afrobrasilianischen Kultur, hat er oft bewiesen. 2017 ging er als erster Bürgermeister in die Stadtgeschichte ein, der die Eröffnungszeremonie schwänzte. Wenig später strich er die Hälfte der Karnevals-Subventionen. Seither herrscht Krieg zwischen Rathaus und Sambaschulen.

Manche Sambaschule wird wie ein Profi-Fußballklub geführt. Es geht um sehr viele Millionen

Andererseits erscheint es viel unmöglicher, diese Megaparty ausfallen zu lassen. Sie lockt mehr als eine Million Touristen an, schafft Zehntausende Arbeitsplätze und setzt über das gesamte Jahr hinweg fast eine Milliarde Euro um. Aydano Motta, einer der führenden Karnevalsexperten der Stadt, ist der Meinung: „Wenn wir das auch noch absagen, kann Rio zumachen.“

Evgeny Makarov
Die Schritte müssen sitzen, der Text auch: Mindestens zweimal die Woche proben die Bewohner der stolzen Favela Mangueira.

In der Stadt gibt es 102 Sambaschulen, die seit zwölf Monaten nichts anderes tun, als sich auf ihre Parade vorzubereiten.  

Bei Mangueira haben sie sechs Festwagen von der Größe mehrstöckiger Häuser gebaut, rund drei Millionen Euro für eine knapp 90-minütige Show investiert. Auch Chiquinhos Schule wird in diesem Jahr wieder mit 3500 Menschen defilieren.     

Marcia Campos, 52, tanzt schon zum 15. Mal mit, sie wurde in der Favela geboren. Ihr Mann starb an Krebs, sie hat zwei Töchter und fünf Enkelkinder. Tagsüber putzt sie in einem Krankenhaus, ihre Nächte gehören dem Samba. Donnerstags und sonntags werden die Schrittfolgen für den Umzug geübt, und an den anderen Tagen findet sich meist auch ein Anlass, um zu tanzen.   

Marcia Campos, 52, (Bildmitte) stammt aus der Mangueira-Favela. Sie sagt: „Ich werde tanzen, bis ich tot umfalle.“

Evgeny Makarov      

Marcia Campos, 52, (Bildmitte) stammt aus der Mangueira-Favela. Sie sagt: „Ich werde tanzen, bis ich tot umfalle.“

Campos ist weder schlank noch geliftet oder langbeinig, sie entspricht so gar nicht dem brasilianischen Schönheitsklischee. Beim Umzug spielen Aussehen und Alter keine Rolle. Auch Campos’ Mutter, 67, defiliert für Mangueira. „Das ganze Nachbarschaftsleben richtet sich nach dem Kalender der Sambaschule“, sagt die Tochter.     

Vielerorts, etwa in Köln, beginnt die fünfte Jahreszeit am 11.11. In Rio gibt es nur eine Jahreszeit, hier ist immer Karneval.

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