Democracy Lab

Das große Deutschland-Gespräch

Ein Abend, 20 Menschen, viele Emotionen und neue Erkenntnisse

Miteinander reden, das steht im Mittelpunkt des Democracy Lab der Süddeutschen Zeitung. In Berlin-Mitte haben wir deshalb Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft einen Abend zusammen an einen großen Tisch gesetzt, um sie darüber diskutieren zu lassen, wie ein besseres Miteinander in diesem Land möglich ist. Es war ein emotionaler, ein wilder, ein erkenntnisreicher Abend. 

Petra Pau von der Linken und der Rentner Torsten Preußing kommen als Erste. Sigrid Nikutta, Chefin der Berliner Verkehrsbetriebe BVG, erscheint im knallgelben Dienst-Mercedes, ein Elektrofahrzeug. Darauf steht: „Weil Wir Dich lieben“, der Slogan der BVG. Die Runde hat schnell ein Thema: das TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz vom Abend zuvor.  

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Petra Pau

Petra Pau: Ich fürchte, dass solche Veranstaltungen nicht dazu führen, dass der Politikverdruss abgebaut wird. Sondern dass viele sagen: Die reden ja gar nicht mehr über uns.

Torsten Preußing: Dazu kamen vier Moderatoren, von denen jeder sein eigenes Drehbuch hatte. Für mich ist das Volkstheater.

Sigrid Nikutta: Ich finde, es war ein schöner Ausschnitt einer Demokratie. Wenn ich das mit anderen Wahlkämpfen, zum Beispiel in den USA, vergleiche, war das wohltuend. Man kann mit dem Gefühl rausgehen: Egal, wer von den beiden Kanzler wird, das wäre schon in Ordnung.

Wolfgang Bosbach kommt. Er wird gefragt, ob eine knallharte Auseinandersetzung besser gewesen wäre.  

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Wolfgang Bosbach

Wolfgang Bosbach: Mir ist aufgefallen: Beide haben sich sehr oft angesehen, sich zugenickt, Zustimmung signalisiert. Ich hatte das Gefühl: Das ist eher die Vorbereitung auf eine weitere große Koalition als ein Duell. Mir geht es nicht um Streit um des Streites Willen. Aber die politischen Unterschiede müssen schon sichtbar werden. Und wenn sich das, was in der Bevölkerung gedacht wird, in einer Debatte nicht mehr widerspiegelt, kann man einen großen Teil des Publikums nicht erreichen.

Frank-Christian Hansel trifft ein, der Mann von der AfD. Man sieht ihm an, dass er um seine schwierige Rolle in der Runde weiß. Kurz danach trifft Oliver Polak ein. Er hat seinen Hund mitgebracht, eine kleine schwarze Mischung. Er wird während der ganzen Zeit nur zweimal bellen.

Pau: Wenn ich im Wahlkampf unterwegs bin, erlebe ich oft erst mal, dass die Leute sagen: „Ach, Sie kenne ich ja nur aus dem Fernsehen. Und jetzt stehen Sie direkt hier zur Verfügung. So wünsche ich mir das.“ Es wird oft sehr kritisch. Dann passiert es aber nicht selten, dass Leute sagen: Ich teile zwar deine Position nicht, aber ich habe es jetzt akzeptiert.

Bosbach: Die Wahlkampfveranstaltungen sind supergut besucht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Säle in den letzten 23 Jahren so voll waren. Das politische Interesse ist hoch, aber gepaart mit wachsender Kritik an den etablierten Parteien und vielen politischen Entscheidungen. Da merkt man, dass der Graben zwischen Gewählten und Wählern größer geworden ist.

SZ: Können Sie das nachvollziehen?

Bosbach: Ja, weil wir zu oft verkünden und zu wenig begründen. Aber wir haben auch ein echtes Problem: Wenn man uns auffordert, möglichst kurz einen komplizierten Sachverhalt zu erklären – das muss in die Hose gehen. Wenn man schwierige Sachverhalte ausführlich erklären will, geht das nicht in dreißig Sekunden. Es geht auch nicht in einer Minute.  

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Torsten Preußing

Preußing: Ich wollte mal sagen, dass ich im Wahlkreis von Frau Pau wohne und lebe. Das wichtigste Element ist, dass man eine Politikerin hautnah hat, mit der das lokale Problem besprochen werden kann. Uns interessieren die Umgehungsstraße von Ahrensfelde und die sozialen Sprengladungen, die wir bei uns haben. Wir haben nicht nur Flüchtlinge bekommen, sondern vorher die Russlanddeutschen, davor andere Flüchtlinge, jetzt noch Suchtbetroffene. Es passiert gar nichts, alles gut. Aber die Leute werden als rassistisch abgestempelt, weil 23 Prozent die AfD gewählt haben.

Ulrich Matthes kommt dazu. Nimmt Platz und schaut sofort den AfD-Politiker an.  

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Frank-Christian Hansel

Frank-Christian Hansel: Wir erleben als AfD eine massive Ausgrenzung. Wenn bei einer Veranstaltung einer von uns dabei ist, haben viele Menschen noch Berührungsängste. Dann kommt: Sie sind ja ganz nett, aber Höcke und Co ... Da ist medial ein Bild von der AfD aufgebaut worden, das nicht der Wirklichkeit entspricht. Die Rede war ein Skandal, keine Frage. Aber es sind nur Einzelne in der Partei, die diese Sicht vertreten

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Ulrich Matthes

Ulrich Matthes: Sie sagen, dass sich die Öffentlichkeit kaprizieren würde auf einzelne Figuren der AfD. Es ist nur so, dass Alexander Gauland, quasi Ihr Chef …

Hansel: Er ist nicht mein Chef, sondern unser Spitzenkandidat!

Matthes: … jemand ist, dessen Bemerkung über Frau Özoguz ich ebenso wie der Bundespräsident dieses Landes für so skandalös, weil offen rassistisch, halte, dass ich es wirklich allerallerspätestens jetzt für einen halbwegs intelligenten, empathischen Menschen für unmöglich halte, die AfD zu wählen.

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Oliver Polak

Oliver Polak: Ich war in Zwickau, Gera, Chemnitz letzte Woche. Da fuhr ich auf der Autobahn. Alleine. Und schaue auf einen AfD-Laster, der mich rechts ein bisschen überholt. Da steht groß dran: Hol Dir Dein Land zurück. Meine Frage wäre: Was wollen Sie mir damit sagen? Heißt das: DDR zurück? Oder sechs Millionen Juden wieder zurückholen? Was genau ist die Nachricht an mich?

Hansel: Ich bezeichne uns als Partei des politischen Realismus, aus der Mitte der Gesellschaft. Das ist für Aussenstehende erklärungsbedürftig …

Polak und Matthes: Allerdings!

Hansel: … aber ich weiß von vielen bei uns, die eine solche Partei des politischen Realismus wollen. Eine Partei, die koalitionsfähig sein möchte. Die aber natürlich auch sieht, dass es diese Fehlentwicklungen gegeben hat.  

Polak: Was genau meinen Sie?  

Hansel: Die Euro-Rettungspolitik, die aus unserer Sicht völlig falsch gelaufen ist.

Polak: Und was ist das Zweite?

Hansel: Dass viele Leute das Gefühl haben: Die Politiker sind alle abgehoben, die machen, was sie wollen. Da gehört Merkels Grenzöffnung dazu. Das Ungesteuerte, die Massenmigration ist das große Thema, das die Leute verängstigt. Und nur wir sprechen es an.

SZ: Aber schüren Sie nicht die Angst?

Hansel: Ich erkläre es immer gern mathematisch. Ich sage, wenn die Leistungsträger in unserem Land eine Million zusätzliche Leistungsempfänger finanzieren müssten, dann ist das möglicherweise für eine bestimmte Zeit leistbar. Aber die Gefahr ist doch, dass bei offenen Grenzen im nächsten Jahr 1,8 Millionen zusätzliche Empfänger kommen könnten. Und im dritten vielleicht sogar vier Millionen. Das geht dann nicht mehr auf.

Petra Pau muss weiter, zu einer Podiumsdiskussion. Auch Ulrich Matthes hält es fast nicht mehr auf seinem Sitz, vorher ergreift aber noch Sigrid Nikutta das Wort.

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Sigrid Nikutta

Nikutta: Was ist das denn für eine Rechnung? Jeder sollte verstanden haben, dass wir keine Mauer um Deutschland ziehen können. Ich sage: Die Einwanderung führt dazu, dass wir das demografische Problem, das es in Deutschland gibt, wahrscheinlich langfristig gelöst haben. Wenn wir Zuwanderer ins Land lassen.  

Hansel: Wir brauchen welche, aber nicht diese.

Nikutta: Gibt es gute und schlechte Zuwanderung? Wir bei der BVG waren am Anfang diejenigen, die Menschen von den Zügen geholt und in die Unterkünfte gebracht haben. Die Mitarbeiter haben gespendet, sind Tag und Nacht im Einsatz gewesen. Diese Solidarität hält an, ich freue mich darüber, weil ich jetzt versuche, zum Beispiel Busfahrer für uns zu gewinnen. Für mich gibt es keine schlechte oder gute Zuwanderung.

Bosbach: Es geht beim Thema Zuwanderung nun wirklich nicht um die Alternative „Ja“ oder „Nein.“ Es gab sie immer und so wird es auch in Zukunft sein. Aber wir dürfen die Integrationskraft unseres Landes nicht überdehnen. Es gibt immer Zuwanderung von Menschen, die uns brauchen und solchen, die wir brauchen. Nicht obwohl, sondern weil ich konservativ bin, käme ich nie auf die Idee, zur AfD zu gehen. Ich beurteile Menschen nicht nach Hautfarbe, Religion oder Staatsangehörigkeit; ich beurteile Menschen danach, wie sie sich verhalten. Den Satz, „Wir schaffen das!“, finde ich eigentlich gut, er signalisiert Tatkraft. Aber wir müssen schon fragen: Wer ist „wir“ und was ist „das“?“

Ulrich Matthes lässt jetzt seinem Ärger freien Lauf.

Matthes: Mich wurmt etwas. Die ganze Zeit, die ich jetzt hier bin, ist ein Paradebeispiel dafür, dass es eine Partei schafft, in den Mittelpunkt eines Gesprächs sehr unterschiedlicher Menschen zu geraten, von der ich hoffe, dass sie nur 4,9 Prozent bei der Bundestagswahl bekommt, wahrscheinlich werden es mehr. Es ist aber eine deutliche Minderheit. Und nun haben wir von der Viertelstunde, die ich da bin, 13 Minuten über die AfD geredet! Es ärgert mich, wie es hier läuft.

Mitten in die Diskussion über Flüchtlinge ist Yahya Alaous gekommen, ein syrischer Journalist und Flüchtling. Er setzt sich still auf einen Platz gegenüber von Wolfgang Bosbach, der nun ebenfalls weiter muss.

 SZ: Vielleicht können Sie uns eine Bilanz Ihrer zwei Jahre in Deutschland schildern, Herr Alaous?  

SZ
Yahya Alaous

Yahya Alaous: Ich warte eigentlich nur auf den Moment, in mein Heimatland zurückzugehen. Viele Flüchtlinge betrachten Deutschland nicht als ihr neues Zuhause. Vielleicht ist es anders für diejenigen, die 20, 25 Jahre alt sind. Die können hier ein neues Leben beginnen. Für meine Kinder ist es hier in Deutschland auch leichter, sie haben Freunde, haben Kontakt zu anderen Familien, teilweise mit Migrationshintergrund. Aber für Menschen mittleren Alters wie meine Frau und mich ist es sehr schwer. Wir haben immer noch keine wirkliche Arbeit. Die allermeisten Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind wie ich, sagen: Wir wollen zurück.  

Matthes: Aber sind diese Menschen denn optimistisch, dass sie bald nach Syrien zurück können?

Alaous: Eher pessimistisch. Sie bringen hier auch bloß ihre Zeit rum, essen, trinken, warten – aber das ist doch nicht alles! Viele von ihnen haben ihre Unternehmen verloren, ihre Berufe, ihre Häuser. Viele haben noch Familie in Syrien. Sie sprechen jeden Tag mit ihren Verwandten, sind sehr involviert in das, was in Syrien passiert.

Matthes: Was ist denn der stärkste Eindruck, den Sie von Deutschland gewonnen haben?

Alaous: Für mich ist vieles in Deutschland so, wie ich es mir vorgestellt habe. Aber ich habe in Syrien auch schon viel mit deutschen Kollegen gearbeitet. Viele Syrer, die hierherkamen, hatten wenig Ahnung von Deutschland. Da gibt es eher so ein Bild: Ihr seid alle Mercedes-Händler. Ich war vor allem von einer Sache überrascht: Wie wenig die Deutschen über Syrien wissen! Die meisten Deutschen denken, Syrien sei irgendein Stück Wüstenland, da gibt es nur Assad, den Islamischen Staat. Aber Syrien ist ein sehr diverses Land, mit vielen Minderheiten, einer starken säkularen Bewegung. Die Zivilgesellschaft ist nicht gut organisiert. Aber es gibt sie!

Matthes: Wenn Sie ein Gedicht über Deutschland schreiben würden – welche drei Wörter müsste es beinhalten?

Alaous: Ich würde schreiben: Natur. Ich würde schreiben: Bürokratie, und ich würde schreiben: Lothar Matthäus.

Matthes: Sie müssen dieses Gedicht unbedingt schreiben.

Polak: Was ist das Positivste an Deutschland, was das Negativste?

Alaous: Das negativste Erlebnis war mit Sicherheit die Bürokratie. Sie ist so schwer zu verstehen! Und das in Kombination mit der Sprache … Es gibt aber viele positive Dinge. Die Deutschen sind sehr hilfsbereit, sehr freundlich. Ich erinnere mich gut, wie die Deutschen in der sogenannten Flüchtlingskrise Dinge aus ihrem eigenen Haus verschenkten, Flüchtlingen Essen brachten.

SZ: Was müsste sich denn aus Ihrer Sicht in Deutschland ändern?

Alaous: Die Regeln für den Arbeitsmarkt sind zu streng. Viele meiner Freunde aus Syrien, mich eingeschlossen, sind sehr gut qualifiziert, Ärzte, Ingenieure. Aber wir können nicht arbeiten. Viele Flüchtlinge warten auf Sprachkurse, auf Nachrichten von den Behörden.

Nikutta: Für uns sind das zukünftige Kolleginnen und Kollegen, die wir brauchen.

Eva-Maria Menard: Ich kann das nur bestätigen. Fachkräftemangel! Ich komme ja vom Land … 

SZ: Das ist Frau Menard, sie ist Superintendentin in der Prignitz. Sie war Pfarrerin in Berlin-Mitte und ist nun seit einem halben Jahr auf dem Land.

SZ
Eva-Maria Menard

Menard: Und da erlebe ich das hautnah, dass wir Menschen brauchen, die fachlich qualifiziert sind. Ärzte, Lehrerinnen und Lehrer, Pflegekräfte, Pfarrerinnen und Pfarrer.

SZ: Können Sie erklären, warum das so ist?

Menard: Wer von Ihnen würde jetzt einfach so in die Prignitz gehen? Das ist eine Landschaft zwischen Berlin und Hamburg, die nicht als attraktiv gilt. Es gibt eine große Landflucht.

SZ: Und Sie sind dahin gezogen.

Menard: Ich habe mir ganz schön was anhören dürfen! Ist das eine Strafversetzung? Was ich mir habe zu Schulden kommen lassen, dass ich BERLIN-MITTE verlasse – eine narzisstische Kränkung für die anderen, dass ich in die Prignitz gehe. In einen Landstrich, der gering bevölkert ist, 36 Einwohner pro Quadratkilometer.

Nikutta: Ein gutes Beispiel sind die Orte an der deutsch-polnischen Grenze, wo mehr polnische Bürgerinnen und Bürger in die Dörfer kommen und sie wiederbeleben. Das sind urpositive Momente, die wir dank der EU haben, dank der Freizügigkeit.

Menard: Wir haben gewonnen durch die Flüchtlinge. Weil sie zum Beispiel eine Dorfschule gerettet haben – die zwei Kinder aus Flüchtlingsfamilien, die dafür gesorgt haben, dass die nächste Klasse eröffnet wird. Die Prignitz ist eine uralte Kulturlandschaft. Wie gehen wir also damit um, dass ganze Landstriche sich leeren? Man kann ja niemanden zwingen, in die Prignitz, auf´s Land zu ziehen. Aber zum Beispiel das Kreiskrankenhaus dort ist ein multinationales, 60 Nationen arbeiten dort, weil es gar nicht anders ginge, als dass aus dem Ausland Leute dort ihren Facharzt machen.

Matthes: Sie malen ein so positives Bild …

Menard: Finden Sie?

Matthes: Ja, ich höre so viel Positives, dass ich fragen wollte, ob Sie nicht schon mal dasaßen und dachten: Mensch, in Berlin war es irgendwie schöner …

Menard: Ich bin ja erst ein halbes Jahr da. Bisher noch nicht. Ich lebe gern dort. 

Karen Holzinger kommt. Auch sie will darüber reden, wie sie die politische Auseinandersetzung gerade findet.

SZ
Karen Holzinger

Karen Holzinger: Ich empfinde eine Traurigkeit darüber, wie wenig Raum soziale Fragen haben. Das bewegt mich persönlich sehr, dass es immer um Flüchtlinge und Maut geht, aber nie um soziale Gerechtigkeit. Ich arbeite mit Menschen, die sehr weit nach unten gepurzelt und durch viele Netze, die es ja gibt, gefallen sind. Da habe ich das Gefühl, dass wir uns in diesem Land daran gewöhnt haben, dass es Menschen gibt, die von vornherein schlechtere Chancen haben. Das fängt bei den Kindern an.

Nikutta: Chancengleichheit bei Kindern ist ein Thema, von dem wir uns weit entfernt haben. Was passiert eigentlich mit vernachlässigten Kindern, die keine Lobby haben und niemanden finden, der sich um sie kümmert? Die beginnen eine Karriere, die wir uns nicht wünschen.

Preußing: Im Politikbetrieb werden abstrakte Begriffe geboren wie Chancengleichheit. Die werden den Leuten um die Ohren gehauen, aber was heißt das, welche Chancen sollen gleich sein? Wegen solcher Unverständlichkeit grenzen sich die Leute ab. Bei uns in Marzahn-Nord hieß es, die Flüchtlinge hätten Fremdenhass ausgelöst. Das stimmt aber nicht, die Leute sind da, wir kommen miteinander zurecht. Aber die Leute macht es wütend, dass ihnen das Flüchtlingsheim einfach vor die Nase gesetzt wurde.

Polak: Wo soll es denn hin?

Preußing: Man kann nicht die Gegenden der wohlhabenden Eigenheimbesitzer verschonen und ins Problemgebiet, wo wir schon Roma und Russlanddeutsche angesiedelt haben, noch die Flüchtlinge hinbringen, jetzt werden noch Häuser für Suchtkranke eingerichtet. Muss denn alles im Krisengebiet sein?

Hansel: Die Chancenungleichheit ist ja keine Naturkatastrophe. Bei ganzen Hartz-IV-Generationen hat sich das aufgebaut, da gibt es kein Buch, nur einen großen Bildschirm. Wir sagen, wir wollen mehr Kinder, aber auch, dass man sich die Kinder wieder leisten kann. Da kann man fragen, ob man ein Familiensplitting wie in Frankreich einführt, mit Personenfreibeträgen, sodass manche Familien gar keine Steuern mehr zahlen, da kann ich dann sogar die Klavierstunden und den Tennisunterricht bezahlen.

Marieluise Beck (rechts) war seit 1983 für die Grünen im Bundestag, tritt jetzt nicht mehr an. Ein Vorstellungsvideo wollte sie nicht machen.
Marieluise Beck (rechts) war seit 1983 für die Grünen im Bundestag, tritt jetzt nicht mehr an. Ein Vorstellungsvideo wollte sie nicht machen.

Nikutta: Manche Eltern sind hinterher, andere überhaupt nicht, und da ist auch kein anderer hinterher. Aber das kann man nicht zulassen, dass so viele Menschen durchs Raster fallen.

Menard: Die Berufe, die sich mit dem Anfang und Ende des Lebens befassen, werden nicht wertgeschätzt. Warum bezahlen wir diese Berufe eigentlich so schlecht?

Matthes: Vielleicht müsste angesichts der Bildungsfummeleien in den Ländern die Bildung mal zentralisiert werden.

Hansel: Danke, wunderbar!

Nikutta: Das ist auch auf Länderebene möglich. Ich bin bei dem Thema für Schnelligkeit. Bei uns im Unternehmen heißt es: Ab einer Gruppengröße über zwölf ist der Lerneffekt nicht gegeben. In der Schule werden 30 Kinder zusammengesteckt, da machen die Leute die Abstimmung mit den Füßen und investieren in Privatschulen.

Polak: Ich war zwei Jahre in England auf einem jüdisch-orthodoxen Internat, da waren Söhne von reichen Leuten, Großunternehmern, aber auch Arbeiterkinder, die hatten lila Schuluniformen, und alle waren gleich.

Sigrid Nikutta muss los, Burkard Dregger von der Berliner CDU setzt sich und ergreift sofort das Wort, als habe er nur auf das Stichwort Bildung gewartet.  

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Burkard Dregger

Burkard Dregger: Zentralisierung schützt vor Fehlern nicht, und ohne Zentralisierung wüssten wir nicht, wie gut die Bayern sind. Es braucht Wettbewerb. Die sozialdemokratischen Bildungsexperimente haben nur dazu geführt, dass Abiturienten heute nicht mehr das Einmaleins können.

Menard: Ja, ja, schon Sokrates sagte, dass die Jugend früher besser war.

Dregger: Es geht nicht darum, dass die Kinder früher besser waren, sondern was man mit ihnen macht. Ich bin bei Bildung sehr konservativ; man hätte sich viel Ärger erspart, wenn man den Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen würde und nicht den anderen Blödsinn wie Gesellschaftswissenschaft, Sozialwissenschaft.

Matthes: Moment, Gesellschaftswissenschaft ist doch überaus wichtig!

Polak: Hier wächst gerade eine sehr kalte, empathielose Generation heran, die nur im Internet unterwegs ist. Wenn ich an der Bushaltestelle jemanden nach der Uhrzeit frage, komme ich mir schon vor wie ein Exhibitionist, der den Mantel aufgerissen hat. Gesellschafts- und Sozialwissenschaft ist genau das, was man den Leuten wieder näher bringen muss!

Dregger: Das lernt man in der Familie, in der Gemeinschaft, dafür brauchen Sie keine Sozialkunde.  

Holzinger: Ich möchte etwas aus einer unserer Einrichtungen erzählen, in der ich gerade war. Um 18 Uhr geht dort die Tür auf, da stehen schon 30 Leute, die übernachten wollen. Man fragt jeden kurz, was ist dein Problem, was können wir ändern, und: Wie lange darfst du bleiben, denn das ist individuell festgelegt. Was mich erschüttert hat: Geschätzt 40 Prozent der Leute haben einen gesetzlichen Anspruch auf eine Unterbringung. Und diese Leute gehen jeden Tag aufs Amt und sagen: Wir wollen einen Platz, und jeden Abend kommen sie wieder, weil es hieß: Wir haben nichts für dich. Die müssen bei uns um ein Bett betteln, damit sie nicht im Park schlafen müssen. Das ist ein Skandal.

Marieluise Beck, die  seit 1983 für die Grünen im Bundestag war, jetzt aber nicht mehr antritt, kommt und bringt sich sofort ein.

Marieluise Beck: Der soziale Wohnungsbau ist eine Notwendigkeit. Aber es gehört auch zur Wahrheit, dass viele Wohnungen von Menschen belegt werden, die von ihrer Einkommenssituation eigentlich nicht mehr in diese Wohnungen gehören. Man kann sie aber schlecht verpflanzen. Auch die demographische Entwicklung ist Teil des Problems. Viele Ältere ziehen nicht um, obwohl die Wohnungen eigentlich inzwischen zu groß für sie sind. Angesichts der gestiegenen Mieten wäre eine neue, kleinere Wohnung sogar teurer als die alte. Ich sehe das in meinem eigenen Umfeld. Wir sind zusammen in unserer Straße alt geworden und wohnen in Wohnungen, die in der Tendenz zu groß für uns sind. Es gibt keinen Anreiz, diese Wohnungen abzugeben.

Am anderen Ende des Tisches hat in der Zwischenzeit Sophie Pornschlegel Platz genommen. Während sie Unterlagen aus der Tasche zieht, dreht sich die Diskussion, es geht darum, wie die Parteien von den Jungen wahrgenommen werden. Wie aufs Stichwort trifft Esra Küçük ein und zwängt sich neben Dregger.

SZ
Sophie Pornschlegel

Sophie Pornschlegel: Deutschland braucht einen Generationenwechsel. Die Politiker gehören der älteren Generation an und machen Politik für eine ältere Generation, ein Machtwechsel findet nicht statt. Im TV-Duell ging es nicht um Jugendliche, Digitalisierung, die Zukunft.

Matthes: Warum sind Sie dann nicht Mitglied in einer Partei?

Pornschlegel: Weil mich keine anspricht. Es gibt in den Parteien keine Leute, die mich ansprechen. Ich will junge Politiker sehen mit Positionen, die für die jüngere Generation relevant sind.  

Dregger: Jedem ist es frei, etwas zu ändern, auch von innen.  

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Esra Küçük

Küçük: Jetzt zeigt sich ein Problem an dem Tisch: Kaum machen die Jungen den Mund auf, fangen die Älteren an, ihren Stuhl zu verteidigen. Ich kenne das gut aus der Theaterlandschaft. Außerhalb des Gorki Theaters hieß es oft: Es gibt diese Schauspieler mit irgendwelchen Hintergründen nicht, wir würden die so gerne beschäftigen, aber die bewerben sich nicht, wenn wir ausschreiben. Oder die Frauen. Wir würden sie gerne in die Chefsessel der Dax-Unternehmen setzen, heißt es immer, aber es gibt nicht die guten Frauen dafür. Wenn man jung ist wie ich, sieht man: Es gibt auch die Jungen, die sich engagieren wollen. Aber bei den Parteien, selbst bei denen, mit denen ich sympathisiere, den Grünen zum Beispiel, gibt es Spitzenkandidaten, die ich schon seit meiner Kindheit kenne. Die Generation, die etwas jünger ist als ich, kennt keine andere Kanzlerin als die Merkel. Langfristig ist das nicht gut für die Demokratie.

Raed Saleh sitzt plötzlich da, Heiner Diepenhorst kommt, er ist Business-Coach und fühlt sich berufen, die Runde zu motivieren, nach Gemeinsamkeiten zu suchen.  

SZ
Heiner Diepenhorst

Heiner Diepenhorst: Ich bin Business Coach und erlebe gerade eine hochemotionale Runde, das zieht mich total rein. Aber ich habe unser Thema im Kopf: Wie gelingt ein besseres Miteinander in Politik und Gesellschaft? Ich vergleiche das mit einem Teambuilding, da frage ich immer, wann fange ich an, nach vorne zu gucken und zu fragen, was wir alle wollen. Wenn wir uns wirklich mit den Bedürfnissen von allen Menschen verbinden wollen, müssen wir gucken, was ist das, was uns vereint?

Saleh: Wir sollten dort anfangen, wo Schröder 2005 aufgehört hat: eine große nationale Erzählung zu schreiben. Eine Erzählung, die alle beinhaltet und wo wir lernen, uns gegenseitig auszuhalten. Das Problem ist, wir haben noch nicht die gemeinsame Klammer in der Gesellschaft. Seit Schröder gesagt hat, wir sind ein Einwanderungsland, hat sich nichts mehr getan.  

Polak: Wir sind hier eine sehr weiße, imperialistische Runde. Da will ich Ihnen, Herr Hansel, etwas sagen. Mein Name ist Oliver Polak, ich bin 1976 in Papenburg im Emsland geboren, mein Vater ist vor eineinhalb Jahren gestorben, 89 war er. Er war sieben Jahre im KZ, ich bin der Sohn eines Holocaust-Überlebenden, ich bin mit diesem Bewusstsein in der Provinz aufgewachsen, CDU, keine Entnazifizierung, es war eklig, dort aufzuwachsen. Nach 1945 hieß es immer, wehret den Anfängen, aber wenn ich Sie jetzt hier sehe, sage ich: Die AfD, das sind für mich Nazis.

Hansel: Wenn Sie sagen, ich bin ein Nazi, ist das eine Entmenschlichung. Ich bin parlamentarischer Geschäftsführer, sitze gegenüber von Herrn Saleh im Abgeordnetenhaus, unsere Partei hat 26 000 Mitglieder. Das sind keine Nazis. In unserem Land spielen alle eine Rolle. Ich bin homosexuell, war 13 Jahre mit einem Kubaner zusammen und bin jetzt mit einem Brasilianer verheiratet, da muss ich mir das nicht sagen lassen.

Polak: Dann will ich aber einen Post auf Facebook von Ihnen sehen, in dem steht: Ich halte nichts von Rassismus, fuck off, Gauland!

Jacinta Nandi und Naika Foroutan treffen ein, etwas später, auch Diana Kinnert, die aber erst ganz am Ende etwas sagt. Dafür wechselt Marieluise Beck das Thema und sagt, wie es ist, in Zeiten wie diesen Politiker zu sein.


Beck: Wenn ich hier so zuhöre denke ich: Zieh dich zurück. Schließlich gehöre ich ja zu den Alten, die nicht mehr wissen, wie die Welt tickt und die die Interessen der Jungen auch nicht vertreten. Und außerdem bin ich auch noch eine Politikerin und die sind eh fast für alles verantwortlich. Ich habe mich nun seit 30 Jahre in der Politik bewegt. Ich mag nicht mehr für so vieles die Prügel einstecken und bin froh, dass ich mich nicht mehr auf der Straße stellen und mich für jeden Scheiss auf dieser Welt anmachen lassen muss. Vor kurzem bin ich sehr erleichtert mit dem Fahrrad durch Bremen gefahren und haben mir gedacht: Ich danke dem Himmel, ich bin nicht mehr der Punchingball für jeden.

Dregger: Ich bin seit sechs Jahren Abgeordneter, davor war ich zwanzig Jahre lang Anwalt, ich bin Vater, habe drei Kinder, um die ich mich kümmere, wie viele andere auch. Und plötzlich gehöre ich zu einer Kaste, die nichts Menschliches hat? Wir sind alle Staatsbürger, es gibt nicht eine Politiker-Kaste, bei der man Müll abladen kann.

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Raed Saleh

Raed Saleh: Wir entscheiden über die Lebenswirklichkeit von Menschen, da muss man sich schon fragen lassen, warum habt ihr wie gehandelt. Zurück zur nationalen Erzählung: Es gehören auch die hinein, die nicht laut sind, die nicht Akademiker sind …  

Beck: Warum eigentlich eine nationale Erzählung?

Saleh: Von mir aus eine europäische. Die Kunst besteht darin, sich gegenseitig auszuhalten.

Beck: Was bitte ist eine nationale Erzählung?

Sahel: Das Grundgesetz ist unsere neue Identität, ich bin aufgeschlossen für eine Leitkultur, die alle 82 Millionen gemeinsam definieren und nicht nur die Konservativen.

Beck: Das kann doch nicht wahr sein, dass die Sozialdemokratie von etwas Nationalem redet, da sage ich sofort Einspruch, wir sind eine europäische Gesellschaft.

Polak: Und Nazis muss ich auch nicht aushalten.

Thomas Oberender kommt. Die Debatte ist seit einer Stunde ein Selbstläufer und ziemlich hitzig, das bleibt so bis zum Schluss.   

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Jacinta Nandi

Jacinta Nandi: Es ist doch genau umgekehrt: Die Leute, die denken, keiner hört uns zu, die haben jetzt eine Stimme. Ein Taxifahrer in Dresden sagte gerade zu mir: Merkel ist der Teufel. Es gibt nicht mehr Leute als früher, die Politiker hassen, aber man hört ihnen zu.

Thomas Oberender: Es gibt eine Sicht auf Deutschland, die hat der Philosoph Helmuth Plessner auf die Formel der verspäteten Nation gebracht. Die nationalstaatliche Selbstgründung haben wir in Deutschland erst sehr spät vollzogen, ohne eine bürgerliche Revolution. Deutscher zu sein ist eng verbunden mit der Zugehörigkeit zu einer Kultur, während man in England oder Frankreich durch die bürgerliche Revolution nicht so sehr Bürger einer Kultur, sondern zuallererst Bürger eines Rechts wurde. Das führte nach dem zweiten Weltkrieg dazu, dass Menschen aus dem kolonialisierten Algerien in der französischen Nationalversammlung saßen, sie waren Franzosen und Teilhabende eines politischen Konstrukts. Auch in England ist man zuallererst Bürger eines Rechts, wodurch, wenn man das mit Deutschland vergleicht, eine andere Durchlässigkeit für Integrationskarrieren entsteht.

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Thomas Oberender

In Deutschland haben wir die Frage der Identität lange mit der Zugehörigkeit zu einer spezifischen Kultur verbunden, die weiß, deutschsprachig und christlich war. Das müssen wir entkoppeln. Man kann auch Deutscher sein, wenn man schwarz, Kopte oder muslimisch ist. Unsere Kultur hat sich diversifiziert und fließt. Unsere Werte sollten nicht so sehr von einem Heimatbegriff bestimmt sein als von einem liberalen Rechtsgedanken. Lange Zeit sind wir gefühlt zu Deutschen geworden aus einem späten Entsetzen über Hitler - unsere Politik und Kultur war in Ost und Welt eine Antwort auf diese Katastrophe. Die Wende von 1989 hat uns wieder andere Verbindungen zur Geschichte eröffnet - wir entdeckten unsere Kolonialgeschichte, aber auch einen frühen Sozialstaatsgedanken, der das Gegenteil des modernen Neoliberalismus ist. Zu unserer Geschichte gehören nicht nur Hitler und Karl Marx, sondern auch ein politischer Ökonom wie Friedrich List, der ein fürsorgliches Staatsmodell geprägt hat. Das gehört zu unserer Geschichte der politischen Errungenschaften wie die Wende.

Nachdem alle gebannt Oberenders Spontan-Vorlesung über Nationalstaat und Leitkultur zugehört haben, wollen jetzt alle auf einmal reden. Dazwischen ist Ulrich Matthes vorsichtig hinausgegangen. 

Holzinger: Ich glaube, dass wir in den letzten Jahrzehnten Toleranz mit Gleichgültigkeit verwechseln. Und dass wir verlernt haben, miteinander um Haltung zu ringen, dass wir verlernt haben, respektvoll Position zu beziehen, auch wenn ich mich dafür angreifbar mache. Und ich meine damit auch mich selbst. Es fällt mir unheimlich schwer, mich hinzustellen und zu sagen: Ich bin Christin. Langsam geht es, weil viele Leute ganz froh sind, dass wir auch Christen haben, nicht nur Muslime …

Einige in der Runde lachen. Der Syrer Alaous ist inzwischen so still gegangen, wie er gekommen ist.

Holzinger: Mein Gefühl ist, dass wir eine unheimlich bequeme Nation geworden sind. Die sagt: Ich bin tolerant, aber meint: Ist mir doch egal.

Nandi schüttelt heftig den Kopf: Echt …?

Holzinger: Wir müssen eine Nation werden, die aushält, dass wir unterschiedlich sind. Aber nicht sagt: Soll der andere doch machen, was er will, Hauptsache ich habe meine Ruhe.  

SZ
Naika Foroutan

Naika Foroutan:  Ich würde gerne anknüpfen an das, was Sie über Toleranz gesagt haben. Dazu gibt es empirische Daten. Dass die Leute ganz oft glauben, sie sind tolerant, aber sobald es konkret wird, schränken sie es ein. Es gibt nämlich so etwas wie eine kognitive Akzeptanz: Man hat vom Verstand her akzeptiert, auf Basis der Verfassung, Artikel drei,   dass Vielfalt und Gleichheit garantiert sein sollen. Und dann schränkt man das gleich emotional wieder ein. Man weiß, dass im Grundgesetz Artikel 4 steht: Religionsfreiheit für alle. . Aber gleichzeitig sagen 60 Prozent, sie würden die Beschneidung verbieten, 50 Prozent, sie würden das Kopftuch verbieten, und 40 Prozent, sie würden den Moscheebau verbieten. Obwohl diese drei Rechte verfassungsrechtlich verbrieft sind. Auf der einen Seite ist man überzeugt von seiner eigenen Toleranz, aber auf der anderen Seite weiß man nicht, was diese Toleranz einem eigentlich abverlangt. 

Und wir müssen auch darüber reden, welche Themen ausgeblendet werden. Ostdeutschland und die Gefühle dort etwa: Wir arbeiten mit der Vermutung, dass ganz viele Debatten, die in Ostdeutschland jetzt geführt werden, eigentlich auf Debatten beruhen, die viel zu lange nicht geführt wurden. Die Abwertung der Menschen in Ostdeutschland ähnelt der Abwertung von Migranten teilweise eins zu eins. Das machen wir uns nur nicht bewusst. Wir blenden Ostdeutschland regelrecht aus – es sei denn im negativen Diskurs.

Torsten Preußing nickt zustimmend.  

Oberender: Ich habe mich sehr über das gefreut, was Frau Foroutan gesagt hat. Weil es mich tief bewegt. Ich denke, dass die von ihnen untersuchten Folgen des staatlichen Anschlusses, der sich nach dem Fall der Mauer vollzogen hat, zur Entstehung von etwas sehr Gefährlichem geführt haben: Ressentiment. Ressentiment ist die Stimmung derer, die sich nicht mal mehr als Feind betrachtet fühlen. Sie fühlen sich von den Noblen übersehen wie das Personal im Hotel. Das ist Teil der Kränkungsgeschichte vieler Menschen in Ostdeutschland, die eben noch eine Revolution gemacht haben, aber deren Lebensleistung quasi über Nacht entwertet wurde. Mein Abitur ist um 1,2 abgewertet wurde, als ich Anfang der 90er Jahre studieren wollte, weil ich aus Ostdeutschland kam. 'Das kann ja nicht so ein wertvolles Abi sein wie eins aus Westdeutschland!' Das schmeckt bitter.

Preußing: Ich gehöre ja zu der Generation der bekennenden DDR-Bürger. Also der 16 Millionen, die hier eine Revolution veranstaltet haben sollen. Da bin ich skeptisch. Das ist eine fälschliche Grundannahme im Westen gewesen, dass diese 16 Millionen mit den Händen in der Hosentasche darauf warteten, dass sie nach 40 Jahren befreit werden. Die Leute wollten sich wirklich andere Gesellschaftsverhältnisse schaffen.

Oberender: Ja, es ging zunächst um Reformen und einen dritten Weg, nicht um die Wiedervereinigung.

Preußing: Derjenige würde von mir den Verdienstorden der Bundesrepublik kriegen, der aus der Losung „Wir sind das Volk“ die Losung gemacht hat „Wir sind ein Volk“. Mit dieser Wahnsinnsstimmung des 9. November …

Polak: Welcher von den beiden?

Preußing: Mit diesen ganzen Illusionen ist dieses Volk, vor allem über die ökonomischen Verlockungen, über die D-Mark, in die Vereinigung gegangen. Die Illusion hat sich aber verloren, als die Wirklichkeit kam, die Besoffenheit vorbei war.

Beck: Ich kann mit dem Begriff Modernisierungsverlierer sehr viel anfangen. Und teile auch die Analyse, dass wir in Deutschland als ehemals zweigeteilte Nation große Schwierigkeiten mit dem Zusammenwachsen haben. Aber ich würde dennoch reklamieren, dass es in anderen Ländern ähnliche Erfahrungen gibt. Die Trump-Wahl ist ja eine Folge davon, dass sich auch in den Vereinigten Staaten eine große Anzahl Menschen als Modernisierungsverlierer sehen. Und zwar nicht nur die alten Stahlarbeiter im Rust Belt. Sondern zum Beispiel auch der weiße Mann, der durch die Emanzipation und Emanzipationsansprüche von Frauen seine gesellschaftliche Rolle erschüttert sieht. Und die Dominanz des Mannes gibt er nicht gerne aus der Hand. 

SZ

Polak: Lass uns doch in Deutschland bleiben!

Beck: Nein, nein, nein. Das geht nicht. Denn wenn Sie Deutschland für exemplarisch besonders schlecht halten, dann muss ich sagen …

Oberender: Das sagt er doch gar nicht.

Polak: Das legen Sie mir in den Mund.

Beck: Diese Form von Ausgrenzung gibt es in der sich republikanisch definierenden Nation Frankreich stärker als bei uns.

Saleh: Das Unrecht anderer kann mich doch nicht trösten! Wir wollen doch hier in Deutschland eine Nation aufbauen!

Polak: Und Frankreich hatte auch keinen Holocaust.

Inzwischen reden alle durcheinander, was auch daran liegt, dass sehr viele Leute am Tisch sitzen, die meisten sind seit mehreren Stunden da, Oliver Polak, Torsten Preußing, Frank-Christian Hansel, Burkard Dregger, Karen Holzinger, Eva-Maria Menard, Sophie Pornschlegel, Esra Kücük, Heiner Diepenhorst, Naika Foroutan, Jacinta Nandi, Thomas Oberender, Raed Saleh und Diana Kinnert. Nur Marieluise Beck steht auf und geht. 

SZ: Finden wir zum Schluss eine Antwort auf die Frage: Was ist das Deutschland, auf das wir uns alle einigen können, wofür wir alle stehen?

SZ
Diana Kinnert

Diana Kinnert: Ich bin Fan der Aussage, dass alle, die mit dazugekommen sind, narrativ mitgestalten dürfen. Aus einem partizipativen Moment heraus. Ich glaube aber nicht an eine zielgerichtete Kultur. Wir können uns wünschen, dass wir alle Umweltschutz wichtig finden. Aber ich glaube, es ist das Charakteristikum von Freiheit, dass Freiheit keine Ziele kennt. Sondern dass Freiheit alles gestalten lässt, was in dem Rahmen von Freiheit stattfindet. Ohne, dass jemand sagen muss: Das muss in diese Richtung gehen. Dort, wo man im Sittenwächtertum ein ödes Leben vorformuliert, werden sich Leute langfristig nicht wohlfühlen.

Jacinta Nandi: Ich habe Deutschland nicht erkannt in dem, was Frau Holzinger vorhin gesagt hat. Dass die Deutschen gleichgültig sind. Die sind immer am Diskutieren. Und am Beschweren. Und am Bessermachen. Und am Versuchen, etwas besser zu machen. Sie haben alle genickt, als sie das gesagt hat!

Oberender: Ich nicht.

Nandi: Nein? Sie haben nicht genickt? Sehr gut. Ich habe so viel Nicken gesehen. Und ich dachte: Was ist los mit denen? Ich will nicht sagen, dass Deutschland besonders toll ist. Aber ich kann mir kein weniger gleichgültiges Land vorstellen. Das finde ich gut.

Esra Küçuk: Es geht um die Frage, wie sehr wir einander wirklich zuhören. Da würde ich mir eine Diskurskultur wünschen, die darauf aufbaut, dass Deutschland gerade eines der wenigen Länder auf dieser Erde ist, das in einer ganz privilegierten Situation ist. Und es sich leisten kann, sich für die Armen, Schwachen, Minderheiten einzusetzen. Und dass wir es uns rausnehmen können, in Europa auch anderen Ländern zu helfen.

Dregger in Richtung Diana Kinnert: Was mich beeindruckt hat, war Ihr Hinweis auf die Freiheit. Ich habe mir die Frage gestellt, ob das reicht. Denn wenn man nur die Freiheit sieht, könnte es dazu führen, dass man nur an den eigenen Geldbeutel denkt. Ich glaube, es braucht eine Ergänzung, die Verantwortung für die Gemeinschaft. Das kann die Familie sein, kann das Staatswesen sein, kann die Bundesrepublik Deutschland sein, kann Europa sein, es kann auch die Weltgemeinschaft, der Mitmensch sein, der Nächste.

Pornschlegel: Die Leute müssen Vertrauen in die Gesellschaft haben,  sie müssen sich repräsentiert fühlen von den Institutionen. Die größten gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit, die zum Stillstand führen, sind Furcht, Neid und Konformismus.

Diepenhorst: Es ist aber noch schlimmer, nicht zu wissen, dass ich Angst habe, dass ich neidisch bin, dass ich mich konform verhalte. Insofern glaube ich, dass es eine große Chance ist, wenn wir uns bewusst werden über das, was in uns vorgeht. Damit man andere nicht für sein Leid verantwortlich macht.  

Oberender: Es gibt eine deutsche Krankheit, einen nationalen Dachschaden, das ist der Selbsthass. Ich glaube, es gibt einen Hang dazu, dass man sich selber nur ertragen kann, wenn man sich anklagt oder in einer bestimmten Weise …

Hansel (leise): ... abschafft...

Oberender: … als defizitär betrachtet. Das eine Extrem ist so schlimm wie das andere. Aber ich glaube, dass unsere Geschichte des Selbsthasses eine Voraussetzung für das Entstehen von Ressentiments ist. Wer zu sich nicht Ja sagen kann, der hat ein großes Problem, Nein sagen zu können. Wir haben scheinbar ein größeres Problem mit allem Positiven als dem Negativen. Wir können nur als schlechte Deutsche gute Deutsche sei. Dabei haben wir eine Erinnerungskultur entwickelt, auf die wir stolz sein können. Wir sind durch sie sensibel für demokratische Werte. Wir sind nicht Deutsche aufgrund unserer Herkunft, sondern, wie Frau Foroutan sagt, aufgrund einer spezifischen Haltung. Wenn wir unsere Fixierung auf Hitler verlieren, ohne diese Katastrophe zu nivellieren, kommen andere Dinge in den Blick - unsere Kolonialgeschichte, aber auch eine politische Geschichte, in der Solidarität und die soziale Frage immer eine größere Rolle spielte als in angelsächsischen Ländern. Das sind Ankerpunkte, die für mich mehr tragen als alle identitären Ansätze, die letztlich auf eine herkunftsbetonte Leitkultur hinauslaufen, statt nach vorn zu weisen, wie die Idee von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“.

Preußing: Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es Deutschland gut. Diese Philosophie muss korrigiert werden. Es geht nicht darum, Reichtum anzuhäufen. Es gibt diese Kinderhymne von Bertolt Brecht: Anmut sparet nicht noch Mühe / Leidenschaft nicht noch Verstand / Dass ein gutes Deutschland blühe / Wie ein and'res gutes Land.  Der Vorschlag, dass das DDR-Nationalhymne wird, ist nicht durchgegangen. Aber es ist einfach ein schönes Gedicht, über ein Land, das wir alle – egal, aus welcher politischer Richtung - lieben, wegen Geschichte, Landschaft, Größe.  

Hansel: Wenn man mich fragt, was für mich ein gutes Deutschland ist, dann denke ich immer noch an 2006 zurück, an das Sommermärchen. Das war die Bundesrepublik, die mir am besten gefallen hat. Das war wirklich Freiheit, das war Internationalität. Und ich habe den Eindruck, dass das verloren geht. Dass wir überfordert werden von Altparteien, auch wenn man es nicht gerne hört, die uns auf einen Weg führen, der gefährlich ist. Ich nehme für mich in Anspruch und für meine Partei, dass wir versuchen, das zu korrigieren.

Saleh: Ich möchte ein Deutschland haben, wo alle sagen können: Wir sind hier zu Hause. Warum geben wir nicht allen eine Heimat, die sie haben wollen? Einfach das Recht auf Dabeisein. Moslems werden doch oftmals nur wie Gäste behandelt! Meinen Kindern sage ich: Ihr seid Spandauer, Berliner, Deutsche arabischer Herkunft.   

Foroutan: : Ich war mal in Ellis Island im Einwanderermuseum. Und da sind ganz viele unterschiedliche Etappen der Einwanderung in die USA skizziert. Die Spanier, die Franzosen, die Engländer und im 19. Jahrhundert kamen: die Deutschen. Das Interessante: Damit begann die Revolution. Das erste Mal gab es Streiks, Arbeiter gingen auf die Straße, forderten Rechte, Frauenrechte und so weiter, das heißt: Dieser Impuls war ein Anstoß, der ganz stark verbunden war mit Ideen der Sozialethik. Aus diesem Land. Die Gruppe der Deutschen war es, die diese Rechte eingefordert hat. Ich finde, an dieses Erbe kann man erinnern.

Polak: Daran möchte ich anknüpfen. Ich habe ja vorhin von meinem Vater erzählt, der hatte eine Schwester, Ilse. Die hat auch den Holocaust überlebt, ist nach New York ausgewandert, vor zwei Wochen ist sie 90 geworden. Sie lebt in Manhattan, Central Park, 92nd Street, und ist immer noch total fit. Ich habe sie vor Jahren mal gefragt , weil sie mit ihren deutschen Freundinnen, wenn es um Deutschland geht, schon aufblüht: Als was siehst du dich denn? Und es kam wie aus der Pistole geschossen: American. One hundred percent American. US citizen. Und ich möchte, dass Sie alle sich von Udo Jürgens „Griechischer Wein“ noch mal anhören. Aus dem Jahr 1974. Und von 1975 „Ein Ehrenwertes Haus“ und von 1985 „Ihr von morgen“. Diese drei Lieder versteht der Intendant von den Festspielen, aber auch der normale Arbeiter, der vom Fließband ist. Sich unwohl fühlen als Gastarbeiter, ehrenwertes Haus, Rassismus, Sexismus – das hatte Udo Jürgens alles schon in seinen Liedern. Deswegen ist mein Schlusswort: Wir sollten uns Udo Jürgens noch mal anhören.

SZ

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