Die zweite Stammstrecke in München
3,8 Milliarden Euro Baukosten, neun Jahre Bauzeit – für drei neue Bahnhöfe. Die zweite Stammstrecke ist das größte Bauprojekt der Stadt München. Wer von der neuen Trasse profitiert, was die Gegner sagen und warum es 16 Jahre gedauert hat, bis mit dem Bau begonnen werden kann – ein Überblick.
Die Stammstrecke ist überlastet. Eigentlich schon immer. Für 250 000 Fahrgäste ist der S-Bahn-Tunnel bei ihrer Eröffnung 1972 ausgelegt. Heute sind an Werktagen bis zu 840 000 Fahrgäste unterwegs. Damit ist die Stammstrecke, auf der die S-Bahn-Linien durch die Stadt führen, nicht nur eine der am meisten befahrenen Routen in einem öffentlichen Nahverkehrssystem in Deutschland – sie ist auch die Achillesferse für Pendler aus der Metropolregion. Zeit, zu handeln.
Bis 2026 soll er nun gebaut werden, der zweite S-Bahn-Tunnel für München. Die Befürworter versprechen sich von dem Milliardenprojekt eine Entlastung für die bestehende Röhre. Der Tunnel soll dem S-Bahn-System mehr Kapazitäten verschaffen, damit die Region das erwartete Bevölkerungswachstum in den kommenden Jahrzehnten verkraften kann. Schon heute wohnen allein 1,5 Millionen Menschen in der Landeshauptstadt. Von einem besseren S-Bahn-Angebot erhoffen sich die Planer zudem, dass mehr Pendler vom Auto auf die Schiene umsteigen.
Die zweite S-Bahn-Röhre soll die Metropolregion vor dem Kollaps bewahren: Welche Probleme gelöst werden – und welche bleiben.
Stimmen der Befürworter
Heiko Büttner
Für Heiko Büttner, Chef der Münchner S-Bahn, ist die zweite Röhre eine „zwingende Maßnahme“. Derzeit fahre man unterirdisch durch die Innenstadt mit bis zu 30 Zügen in der Stunde. Damit sei man an der Kapazitätsgrenze.
Wolfgang Wittmann
Für den Geschäftsführer der Europäischen Metropolregion München ist die zweite Röhre „unabdingbar“. Ein attraktiver öffentlicher Nahverkehr trage zur Steigerung der Lebensqualität bei.
Der Bau der zweiten S-Bahn-Röhre spaltet die Stadt: Welche Argumente die Befürworter und die Gegner ins Feld führen.
Wo was passieren soll
Die gesamte Metropolregion soll besser miteinander vernetzt werden – das rechtfertige auch den erheblichen baulichen Aufwand, der für die zehn Kilometer lange Strecke betrieben werden muss, argumentieren die Befürworter. Die neue Stammstrecke beginnt am S-Bahnhof in Laim, führt kurz vor der Donnersbergerbrücke in den Untergrund – passiert drei neue Bahnhöfe – um dann, nach sieben Kilometern hinter dem Ostbahnhof am Leuchtenbergring wieder an die Oberfläche zu kommen. 2019 soll mit den Tunnelarbeiten begonnen werden.
Bahnhof Laim
Künftig können die Fahrgäste stadtein- und stadtauswärts am selben Bahnsteig umsteigen. Dafür reichen die vorhandenen Bahnsteige und S-Bahn-Gleise nicht aus. Die Bahnsteige werden von derzeit etwa sechs auf mindestens zehn Meter verbreitert. Sie können künftig jeweils über zwei Zugänge erreicht werden. Durch eine neue Unterführung können Fußgänger, Radfahrer, Linienbusse und später auch die Tram die Eisenbahngleise unterqueren. Der S-Bahnhof wird nach dem Umbau die ganze Breite zwischen dem Rangierbahnhof im Norden und den Durchfahrgleisen im Süden beanspruchen.
Hauptbahnhof
Bis zum Jahr 2029 wird der Hauptbahnhof eine Großbaustelle sein. Die Pläne des Architekturbüros Auer Weber sehen einen Abriss des 1921 errichteten und eigentlich denkmalgeschützten Starnberger Flügelbahnhofs vor. Dort soll ein 75 Meter hoher Turm entstehen. Die Schalterhalle soll durch ein modernes Terminal ersetzt werden. Das neue Gebäude soll die Gleishalle nach Osten ergänzen und aus sieben oberirdischen und zwei unterirdischen Geschossen bestehen. Parallel zum Querbahnsteig ist eine neue Einkaufspassage vorgesehen. In den Obergeschossen sind Tagungs-, Event- und Bürobereiche geplant. Ob der Bahnhofsvorplatz vom Autoverkehr befreit wird, ist umstritten.
Zur neuen S-Bahnstation und zu allen weiteren Ebenen sollen Passagiere über einen zentralen Hauptzugang gelangen. Das Umsteigen zwischen den öffentlichen Verkehrsmitteln soll einfacher werden. Über einen neuen Ostzugang ist der Stachus erreichbar. Die Station in 41 Metern Tiefe ist über zehn Schnellaufzüge und zahlreichen Rolltreppen erreichbar.
Abfahrt in 41 Metern Tiefe: Entdecken Sie die neue unterirdische Station am Hauptbahnhof – in Virtual Reality.
Marienhof
Das zentrale Zugangsbauwerk des künftigen S-Bahnhofes wird in einer offenen Baugrube errichtet. In etwa 40 Metern Tiefe werden die unter den Häusern liegenden Bahnsteigbereiche bergmännisch gebaut, ebenso die Verbindungen zur U-Bahn und die Rettungsstollen. Eine zweite offene Baugrube für den Bau eines Fluchttreppenhauses und technischer Anlagen zur Belüftung liegt an der Ostseite des Platzes. Das Zentrum der Station Marienhof ist das Verteilergeschoss in 25 Metern Tiefe. Im Verteilergeschoss treffen die Fahrgäste des mittleren Bahnsteigs und der beiden Außenbahnsteige aufeinander. Von hier führen Verbindungstunnel zu den U-Bahnsteigen am Marienplatz. Vom Sperrengeschoss darüber in zehn Metern Tiefe gelangt man ins Freie oder zum Untergeschoss unter dem Marienplatz.
Tief unter dem Zentrum ensteht ein komplett neuer Bahnhof: Entdecken Sie die Station am Marienhof - in Virtual Reality.
Ostbahnhof
Hier entsteht unterhalb der kreuzenden Röhre der U5 die dritte unterirdische Station. Der neue Bahnhof mit den Bahnsteigröhren liegt in rund 36 Metern Tiefe. Die Zugangsbauwerke entstehen unter dem Orleansplatz und dem Busbahnhof und werden in offener Bauweise hergestellt. Die unter den Häusern rund um den Orleansplatz liegenden Bahnsteigabschnitte sowie die Verbindungstunnel zur U-Bahn und die Rettungsstollen entstehen in bergmännischer Bauweise. Hier entsteht Münchens östlicher Verkehrsknotenpunkt, an dem die neue Stammstrecke mit der alten verknüpft wird sowie mit dem Regional- und Fernverkehr und Tram, Bus und U-Bahn. Zum bestehenden Ostbahnhof gibt es eine direkte unterirdische Verbindung.
Was sich unter dem Orleansplatz tut: Entdecken Sie die Station Ostbahnhof - in Virtual Reality.
Leuchtenbergring
Das Ostportal des Tunnels liegt nordöstlich des Haidenauplatzes. Hier geht es wieder an die Oberfläche, im Bahnhof Leuchtenbergring wird die neue Stammstrecke wieder mit der bestehenden Stammstrecke verbunden. Dafür müssen die Gleise neu geordnet und der Bahnhof umgebaut werden. Der südliche Bahnsteig wird neu gebaut und weiter nach Süden verschoben. Ein neuer Fußgängersteg soll die beiden Stadtteile südlich und nördlich der Bahnlinie miteinander verbinden.
Was die Gegner sagen
Neun Jahre Bauzeit für zehn Kilometer und drei neue Bahnhöfe, jahrelange Baustellen. Schon früh regte sich in der Stadt Widerstand gegen den Bau der zweiten S-Bahn-Stammstrecke. Insgesamt 40 Klagen gingen beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ein – noch immer sind nicht alle entschieden. In der Altstadt wehren sich die Geschäftsleute gegen Staub und Lärm am Marienhof, am Hauptbahnhof lieferte sich die MVG ein jahrelanges Scharmützel mit der Deutschen Bahn wegen diverser Verbindungsgänge. Vor allem im Stadtteil Haidhausen gehen die Proteste bis heute weiter. Das Argument der Gegner ist: Der Tunnel schafft keine Tangentialverbindungen, sondern „schaufelt“ die Menschen in die Innenstadt, ob sie wollen oder nicht.
Ingeborg Michelfeit
Sie ist das Gesicht des Widerstands. Seit zwölf Jahren engagiert sich Ingeborg Michelfeit gegen das Projekt. Es sei zu teuer und mit nur drei Stationen ineffektiv. „Kein einziges Quartier mehr wird eingebunden“, sagt sie.
Thomas Kantke
Den Befürwortern der zweiten Stammstrecke prophezeit der Verkehrsplaner ein „bitterböses Erwachen“. Der Tunnel würde sämtliche Gelder für den Personennahverkehr in Bayern auf lange Zeit absorbieren.
Ein wesentliches Argument der Gegner: hohe Kosten. Waren die Verantwortlichen im Jahr 2001 noch von 1,4 Milliarden Mark ausgegangen, belaufen sich die Kosten derzeit auf 3,2 Milliarden Euro, wenn man potenzielle Risiken einrechnet, werden es 3,84 Milliarden. Kritiker befürchten, dass andere Nahverkehrsprojekte in Bayern keine Chance mehr haben, mit Bundesmitteln gefördert zu werden.
Ein Grund für die immense Kostensteigerung ist die lange Planungszeit. Eigentlich war bereits 2001 klar: Die zweite Röhre soll kommen. Eine vergleichende Studie sprach sich gegen den Ausbau des oberirdischen Südrings aus. 2010 hätten die ersten Züge durch die neue Stammstrecke fahren sollen. Doch das Projekt wurde immer wieder verschoben. Diverse Umplanungen waren nötig, zeitweise stand es gar ganz auf der Kippe, etwa als die CSU-Fraktion 2009 an der Sinnhaftigkeit zweifelte und erneut eine vergleichende Studie mit dem Südring in Auftrag gegeben wurde.
In wenigen Jahren haben sich die Projektkosten fast verdoppelt – wie es dazu kam und wer welchen Anteil zahlt.
Das lange Warten
16 Jahre und vier Verkehrsminister später geht es nun los mit dem Bau der zweiten Stammstrecke – eine Herausforderung nicht nur für die Münchner, die nun fast ein Jahrzehnt mit den Folgen einer Großbaustelle leben müssen. Auch für die Ingenieure ist der Bau einer Röhre in fast 40 Metern Tiefe eine Herausforderung: Die beiden sieben Kilometer langen Röhren werden in bergmännischer Bauweise erstellt. Vier Tunnelvortriebsmaschinen kommen zum Einsatz, der Durchmesser ihrer Schilde beträgt 8,40 Meter.
Trotz unterirdischer Arbeiten – Erdreich, Bauschutt und Schotter müssen auch oberirdisch abtransportiert werden. In der schmutzigen Phase wird voraussichtlich alle fünf bis zehn Minuten ein mit Schutt beladener Lkw abfahren – mitten durch die Innenstadt. „2023 ist das Schlimmste überstanden“, sagt Projektleiter Markus Kretschmer. Für Geschäftsleute, Anwohner und Pendler ist das zunächst sicher nur ein schwacher Trost.
Die meisten Arbeiten finden im Untergrund statt, doch auch an der Oberfläche wird es laut. Wie das große Graben funktioniert