Die Anklage wird verlesen.
Immer nur sie.
Immer nur dieses eine,
bleiche Gesicht.
Diese Frau, die nicht spricht.
Die nicht sagt, wie es kam, dass sie und ihre Freunde Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sich so sehr in ihren rechtsradikalen Hass verrannten, dass die Männer gezielt zehn Menschen töteten: acht Männer aus der Türkei, einen Griechen und eine deutsche Polizistin. Der Prozess klärt nun, ob sich Zschäpe diese Morde zurechnen lassen muss.
Nationalsozialistischer Untergrund – kurz NSU – so nannten die Drei ihre Terrorzelle. Und am Ende drehten sie ein Video, in dem sie sich mit den Morden brüsteten: Sie fotografierten ihren sterbenden Opfern ins Gesicht und ließen die Trickfilmfigur Paulchen Panther dazu Witze reißen.
Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sind tot, sie haben sich am 4. November 2011 selbst erschossen, als sie von der Polizei umstellt waren, nach ihrem letzten Banküberfall. Ihre Freundin Beate Zschäpe aber lebt. Sie steht nun im größten Prozess seit den Terrorprozessen der RAF vor dem Oberlandesgericht München - angeklagt des zehnfachen Mordes, des vielfachen Mordversuchs, des 15fachen Raubüberfalls. Und auch der schweren Brandstiftung – denn sie hat am Tag, als ihre Männer starben, die gemeinsame Wohnung angezündet.
„Meine Reise an die Tatorte“
Annette Ramelsberger über ihre Recherche in ganz Deutschland
Mit ihr auf der Anklagebank sitzen vier ehemalige Kumpane. Sie müssen sich wegen Beihilfe zum Mord oder wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verantworten.
Beate Zschäpe spricht nicht – und doch erfährt man in diesem Prozess viel. Am 6. Mai 2013 hat er begonnen. Seitdem tickt er wie ein Uhrwerk. Tag für Tag, Zeuge für Zeuge, Indiz für Indiz geht es voran. Jeden Tag wird ein wenig deutlicher, was da 13 Jahre lang mitten in Deutschland geschah: ein Mordzug unvorstellbaren Ausmaßes, Taten, die von Hass getrieben und mit eiskalter Präzision ausgeführt wurden.
Dem Terror auf der Spur
Fünf Tatorte
Anfangs waren sie
alle da. Familie Simsek
und Familie Yozgat
und Familie Kubasik.
All die Angehörigen der Opfer. Sie wollten der Frau ins Gesicht sehen, die sie für die Mörderin halten. Oder zumindest für die Mittäterin. Für die Frau, die den Mördern den Rücken freigehalten hat.
Einweihung des Denkmals für Halit Yozgat in Kassel:
Die Bilder aller Opfer des NSU sind ausgelegt.
Dann erlebten die Familien den Takt eines deutschen Gerichtsprozesses. Mit Anträgen, mit Gegenanträgen, mit Unterbrechungen, mit Bescheiden. Und die Familien kamen immer seltener. Weil sie nicht mehr verstanden, was das mit ihnen zu tun hatte. Mit ihnen und ihren toten Vätern, Brüdern, Söhnen. Sie kamen erst wieder, als ihr Fall an der Reihe war. Und gleich bei der ersten Angehörigen ging es gründlich schief.
Die Witwe des getöteten Habil Kilic aus München saß ganz allein auf dem Zeugenstuhl mitten in dem riesigen Gerichtssaal, ihr Anwalt begleitete sie nicht. Er hatte auch keinen Übersetzer für sie beantragt. Er hatte sie ganz offensichtlich nicht auf das vorbereitet, was sie erwartete. Frau Kilic wusste nicht, warum sie noch einmal all die Fragen beantworten sollte, nur weil sie von einem Richter kamen. Hatte sie nicht schon alles dutzendmal der Polizei gesagt? Was sollte das hier? Und der Richter verstand nicht, warum diese Frau so abweisend reagierte. Am Ende mahnte er sie genervt, er stelle höfliche Fragen und erwarte höfliche Antworten. Das half dann auch nichts mehr.
Tatort Internetcafé: Hier wurde Halit Yozgat am 6. April 2006 mit zwei Kopfschüssen hingerichtet.
Ein paar Wochen später stand Ismail Yozgat im Zeugenstand. Der Vater, der seinen eigenen Sohn blutüberströmt gefunden hatte. Der ihn im Arm hielt, bis er starb. Im Internetcafe der Familie in Kassel. Nun sitzt der Vater hier im Gericht zu München und soll ruhig Fragen beantworten. Aber er ist nicht ruhig. Er springt auf, ruft laut, er setzt sich wieder, springt wieder auf: „Warum haben sie mein Lämmchen getötet?“. Der Sohn hatte die Eltern in die Stadt geschickt, denn der Vater hatte Geburtstag am nächsten Tag. Die Eltern sollten sich ein Geburtstagsgeschenk aussuchen. Um 17 Uhr sollte der Vater zurücksein im Internetcafe, er wollte den Sohn ablösen – damit der zur Abendschule konnte. Vater Yozgat verspätete sich ein bisschen. In diesen Minuten kamen die Mörder. „Am nächsten Tag habe ich mir meinen Geburtstag verboten. Bis zu meinem Tod wird mein Geburtstag nicht mehr gefeiert“, sagt der Vater vor Gericht.
Wie im Fieber versucht er, die Wahrheit zu finden. Er zeichnet mit zitternder Hand eine Skizze vom Tatort. Er legt sich sogar auf den Boden des Saals, auf seinen Bauch. Direkt vor den Tisch, an dem Beate Zschäpe sitzt. Er will demonstrieren, wie sein Sohn lag, als er ihn gefunden hat. Und er will allen Familien der anderen Opfer sein Beileid aussprechen, sich beim Gericht bedanken. Richter Manfred Götzl lässt ihn kurz gewähren, dann geht er dazwischen: „Ich hatte Sie gebeten, zu einem bestimmten Beweisthema zu berichten.“ Der Zeuge soll sich auf den Ablauf am Tag der Tat konzentrieren. Die Welt vor Gericht ist nicht für Angehörige gemacht.
Blick in die Vergangenheit: Semiya Simsek, die Tochter von Enver Simsek, dem ersten Opfer des NSU.
Andere Verwandte haben tagelang im Saal gesessen, bis sie nicht mehr konnten. So wie Semiya Simsek auf diesem Bild. Sie war die ersten Tage dabei. Dann wurde es ihr zu anstrengend. Sie war hochschwanger, mittlerweile hat sie einen kleinen Sohn.
Im Sommer war auch die 82 Jahre alte Mutter von Ismail Yasar da, der in Nürnberg erschossen worden war. Sie war aus der Türkei gekommen, im langen Gewand, traditionelle Tätowierungen im Gesicht. Sie war beeindruckt: Allein zwei Stunden lang hatte das Gericht eine Zeugin befragt, die die Mörder ihres Sohnes gesehen hatte. „Ich hatte Zweifel am deutschen Staat, als ich in der Türkei war“, lässt die alte Frau übersetzen. „Aber jetzt sehe ich, dass Deutschland es ernst meint mit der Verfolgung der Mörder.“
Was sie über Zschäpe gesagt hat, muss man nicht niederschreiben.
„Beeindruckt von der Kraft“
Annette Ramelsberger über Eindrücke und Erlebnisse während der Recherche
Am 6. Mai hat der
Prozess begonnen –
mit dreiwöchiger Verspätung.
Denn das Gericht kam mit dem Andrang von Journalisten und Besuchern nicht zurecht. Zunächst sah es so aus, als würde kein einziger türkischer Journalist zugelassen. Dann verfügte das Verfassungsgericht eine neue Platzvergabe. Noch immer sind die 100 Plätze für Presse und Besucher fast jeden Tag vollständig besetzt – ganz anders als in anderen Prozessen, wo das Interesse nach zwei, drei Wochen nachlässt. Mittlerweile geht der Prozess zügig voran, auch wenn er für zufällige Besucher nur schwer zu durchschauen ist. Denn durch die Verzögerung am Anfang werden die Fälle nicht nach und nach behandelt – sondern so, wie die Zeugen Zeit haben. Es geht ziemlich durcheinander. Immerhin hat das Gericht den Brand in der Frühlingsstraße in Zwickau weitgehend abgearbeitet. Auch die zwei Angeklagten, die reden wollen, wurden eingehend befragt. Die Eltern von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos mussten als Zeugen aussagen, auch die Mutter von Beate Zschäpe war geladen. Und eine ganze Reihe ehemaliger Freunde und rechter Kameraden. Was sie alle zu sagen haben, bietet Einblick in die rechte deutsche Unterwelt.
1. Verhandlungstag
6. Mai 2013
Erster Verhandlungstag im NSU-Prozess. Erste Befangenheitsanträge gegen das Gericht. Der Prozess wird für eine Woche ausgesetzt.
14. Mai 2013
4. Juni 2013
Der Angeklagte Carsten S. sagt aus. Er gibt zu, die Pistole mit dem Schalldämpfer besorgt zu haben.
6. Juni 2013
Der Angeklagte Holger G. liest eine Erklärung vor. Er gibt zu, Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos über Jahre hinweg im Untergrund unterstützt zu haben.
11. Juni 2013
Der Angeklagte Carsten S. bringt die Ermittler auf eine neue Spur. Der NSU hat offenbar schon 1999 einen Anschlag begangen: in Nürnberg, mit einer Bombe, die in einer Taschenlampe versteckt war.
12. Juni 2013
Ein handgeschriebener Brief von Beate Zschäpe taucht auf. Sie schreibt an einen Brieffreund – einen bekannten Neonazi, der auf einen Ausländer geschossen hat.
20. Juni 2013
Das Gericht beendet die Befragung des Angeklagten Carsten S. Insgesamt wurde er 26 Stunden lang befragt, über mehrere Tage verteilt. Er ist der einzige Angeklagte, der Fragen beantwortet.
24. Juni 2013
Das Bekennervideo des Nationalsozialistischen Untergrunds mit der Trickfilmfigur Paulchen Panther wird im Gerichtssaal gezeigt.
25. Juni 2013
Tatort Frühlingsstraße. Ein Brandermittler führt anhand von Tausenden Bildern durch die ausgebrannte Wohnung des NSU-Trios.
Frank Lenk ist Brandermittler aus Zwickau, ein knochentrockener Mann. Dort in Sachsen hatte der NSU seinen Unterschlupf. Beate Zschäpe hatte die Wohnung, in der sie mit ihren Freunden wohnte, am 4. November in Brand gesetzt. Daran besteht kein ernst zu nehmender Zweifel. Die Wohnung ist ausgebrannt. Nur noch Trümmer, Ruß und Schutt. Doch Frank Lenk kann Geheimnisse lüften. Er steht vor dem Richtertisch und zeigt seine Fotos, mehr als 1000 sind es. Man sieht noch den Katzenbaum, auf dem Zschäpe ihre Katze rumturnen ließ. Man sieht das rote Sofa, auf dem sie abends saß, man sieht, dass sie fettarme Milch trank. Aber mit den Augen von Frank Lenk sieht man noch viel mehr. Von Zimmer zu Zimmer arbeitet er sich vor: das Sportzimmer, in dem die verkohlten Reste der Hantelbank stehen, an der Mundlos und Böhnhardt übten. Man sieht Zschäpes Schuhe, Stiefelchen, Puschen mit Leopardenmuster. Und im Schlafzimmer steht der Wandtresor offen. Darin liegen Handschellen – solche wie sie Polizisten tragen. Es ist die Handfessel von Michèle Kiesewetter. Die junge Polizistin wurde am 25. April 2007 in Heilbronn vom NSU ermordet.
3. Juli 2013
Kommissar Binz berichtet vor Gericht, er hat acht Stunden lang mit Beate Zschäpe darüber gesprochen, ob es nicht besser wäre, sie würde auspacken.
Man muss Rheinländer nehmen, die kriegen sogar Steine zum Sprechen. Rainer Binz ist so einer, 57 Jahre alt, grau meliertes Haar, grauer Schnauzer. Man kann sich gut vorstellen, wie er im Karneval schunkelt und wie er dann nach ein paar Stunden viele neue Freunde hat. Rainer Binz ist aber nicht nur Rheinländer, sondern auch Erster Kriminalhauptkommissar beim Bundeskriminalamt. Und es hatte sicher einen Grund, dass ausgerechnet er Beate Zschäpe im Sommer 2012 auf einer acht Stunden langen Reise von der Haftanstalt Köln nach Thüringen und zurück begleitete. Eine Reise im engen VW-Bus, die dazu diente, dass Zschäpe ihre kranke Oma und ihre Mutter wieder einmal sehen konnte.
Vermutlich ist Rainer Binz der beste Vernehmer des BKA. Aber er durfte Beate Zschäpe ja nicht vernehmen – ihr Anwalt hatte geschrieben, sie wolle weder vernommen noch befragt werden. Also sprach Binz über das Wetter. Über Gott und die Welt. Lang ging es im VW-Bus offenbar um den Satz von Zschäpe, sie habe sich nicht gestellt, um nicht auszusagen. Binz erzählt und man sieht, dass er schon ein wenig stolz darauf ist, was er alles herausgebracht hat: „Sie sagte, sie wollte eigentlich aussagen, auch um ihrer Großmutter deutlich zu machen, wie es gekommen ist, und um sich bei ihr zu entschuldigen, aber ihr Anwalt rät davon ab.“ Binz sagte, erfahrungsgemäß sei es so, dass Gerichte im Urteil honorieren, wenn der Angeklagte aussagt. „Sie war am Überlegen“, sagt Binz vor Gericht, „und dann sagte sie: ,Aber so einen Fall wie mich, das hat’s doch noch nie gegeben‘.“
Juli 2013
Das Gericht beginnt mit der Beweisaufnahme zu der ersten Tat der Mordserie, dem Mord am Blumenhändler Enver Simsek in Nürnberg.
24. Juli 2013
Ein Nachbar aus der Frühlingstraße berichtet über gesellige Abende mit Beate Zschäpe im Keller – unterm Hitlerbild.
6. August 2013
Letzter Prozesstag vor der Sommerpause. Vier Wochen Gerichtspause.
Ist das nicht langweilig?
„Nein, es ist nicht langweilig. Es ist spannend. Jeden Tag“: Annette Ramelsberger über den Prozess
5. September 2013
Erster Prozesstag im Herbst. Das Gericht spielt ein Video aus der Keuppstraße in Köln vor, kurz vor dem Bombenanschlag, auf dem deutlich zwei Männer zu erkennen sind, die ein Fahrrad schieben. Auf einem Fahrrad war die Bombe montiert.
6. September 2013
Die Zeugin Beate Keller aus Nürnberg sagt aus, die am Tatort zwei Männer mit Fahrrädern erkannt hat und sie genau beschreiben konnte. Ihre Aussage wurde von der Polizei relativiert.
Beate Keller arbeitet in einer Bäckerei. Da hat sie viel mit Menschen zu tun. Sie kann sich die Kunden gut merken, das ist wichtig fürs Geschäft. Gesichter vergisst sie nicht, auch nach Jahren nicht. Am Morgen des 9. Juni 2005 war Beate Keller mit dem Rad unterwegs, sie hatte einen Termin an der Scharrerschule in Nürnberg, auf die ihr Sohn geht. Ganz in der Nähe sah sie zwei Fahrradfahrer, die einen Stadtplan studierten. Junge, sportliche Männer. Fast wäre sie abgestiegen und hätte ihnen geholfen – aber sie war in Eile.
Als Beate Keller von ihrem Termin in der Schule kam, sah sie die zwei Fahrradfahrer wieder: direkt gegenüber, am Dönerstand. Wo Ismail Yasar arbeitete, den die Kinder „Dönermann“ nannten und den sie so liebten. Einer der beiden Fahrradfahrer steckte dem anderen gerade ein längliches Paket in den Rucksack. „Wie so ein kleiner Schirm, den ich auch immer dabeihabe“, sagt Beate Keller.
Den Dönermann sah sie nicht. Er war gerade erschossen worden.
1. Oktober 2013
Vater Ismail Yozgat aus Kassel sagt aus, wie er seinen Sohn Halit sterbend in seinem Blut gefunden hat. Er legt sich direkt vor Beate Zschäpe, um das zu demonstrieren.
19. November 2013
Die Mutter von Uwe Böhnhardt sagt vor Gericht aus.
27. November 2013
Annerose Zschäpe, die Mutter von Beate Zschäpe, verweigert vor Gericht die Aussage.
18. Dezember 2013
Vater Mundlos wird als Zeuge gehört. Er hält seinen Sohn für ein Opfer des Verfassungsschutzes und legt sich mit dem Richter an.
20. Dezember 2013
Das Gericht schickt alle Prozessbeteiligten in die Weihnachtsferien. Es geht am 8. Januar 2014 weiter.
Vor dem Oberlandesgericht
München entfaltet sich
im größten Prozess der Republik
ein deutscher Mikrokosmos:
die Republik mit ihren Abgründen und Alltäglichkeiten, mit ihren Marotten und ihrem Menschlich-Allzumenschlichem. Eine Welt aus Zimmermannsnägeln, Stiefelfetischisten, Kleinbürgern, Unfehlbaren, Bürokraten, Gemüsehändlern, Gartenzwerg-Nazis.
Eine Welt, in der brave Bürger nach Feierabend im Keller sitzen, fröhlich trinken und nichts dabei finden, dass überm Fernseher das Hitlerbild hängt.
Eine Welt, in der Mordermittler Bücher über ihr Leben und Werk schreiben und sich vor Gericht damit brüsten, sie hätten alles richtig gemacht, obwohl sie konsequent in der falschen Ecke gesucht haben.
Eine Welt, in der ein Beamter des Verfassungsschutzes in einem Internetcafé mit seiner Freundin chattet, aber wenn vorn am Tresen ein Mann erschossen wird, dann meldet er sich nicht als Zeuge – damit die schwangere Ehefrau nichts von dem Flirt erfährt.
Eine Welt, in der ein 14-jähriges Mädchen aus der Türkei seinen Vater verliert und danach erlebt, wie die Polizei der Mutter vorlügt, ihr Mann habe eine Geliebte und zwei Kinder – nur damit sie zusammenbricht und über die Täter spricht.
Eine Welt aber auch, in der dieses Mädchen Jahre nach dem Mord, als es schon selbst Mutter ist, seinem kleinen Sohn sagt, Deutschland sei ein wunderbares Land, ihre Heimat.
Verteidiger von Beate Zschäpe
Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl
Und eine Welt, in der ein Verteidiger der Hauptangeklagten bittet, ob man nicht mal zum Ende kommen könnte, sonst verfalle seine Platzreservierung für den Zug nach Hause.
Es geht in diesem Prozess zu wie im wahren Leben. Nur hin und wieder blitzt der Irrsinn auf, der zu diesem Verfahren geführt hat. Wenn der Richter plötzlich, ganz unvermittelt und ohne Vorbereitung, das Bekennervideo abspielen lässt: ein Video, auf dem man Menschen ins Gesicht sieht, die unmittelbar davor ermordet wurden – die Täter haben ihre toten Opfer gefilmt. Oder wenn, wieder ohne Vorwarnung, der lila verfärbte Kopf eines der beiden NSU-Mörder an die Wand projiziert wird – aufgenommen ein paar Stunden nachdem sich Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erschossen hatten. Da zuckt nicht nur die Frau auf der Anklagebank zusammen, die mit diesen Männern lebte. Da ächzt der Saal.
So viel erträgt man nicht auf einmal. Deshalb trägt jeder seinen Teil: die Zeugen, die Angehörigen, die Staatsanwälte, das Gericht. Alle auf der Suche nach dem, was man Gerechtigkeit nennt.
Und immer wieder betritt das Gericht den Sitzungssaal. Richter Manfred Götzl nickt allen zu, dieser Schicksalsgemeinschaft, die Jahre ihres Lebens gemeinsam in diesem Saal ohne Tageslicht verbringt. Guten Morgen, sagt Götzl, guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen. Er sagt es exakt viermal. Und dann kommt immer der gleiche Satz: „Wir setzen die Verhandlung fort.“ Götzl wird es noch viele Male sagen müssen: Denn der Prozess ist schon jetzt bis Ende 2014 terminiert. Dass ein Urteil kommt, ist sehr sicher. Wann es kommt, hängt auch von den Angeklagten ab. Vor allem von Beate Zschäpe.
Aber die spricht nicht.
Impressum
Redaktion und Konzeption
Annette Ramelsberger, Fabian Heckenberger
Programmierung
Sascha Goldhofer, Sonja Kowarschick, Thomas König, Maximilian Salcher
Art Direction und Design
Sophie Kaiser
Projektmanagement
Martina Schories
Video
Ivonne Wagner, Andreas Lüdke, Philipp Panacek,
Bayerischer Rundfunk
Foto
Regina Schmeken, Jürgen Schrader, dpa, afd