loading

Trauern verboten

Das Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens erschütterte vor 25 Jahren die Welt. In China ist es heute vergessen.

Der Platz.

Zum zehnten Jahrestag des Massakers ließen sie die Steinquader austauschen, auf denen die Studenten getanzt und gebrüllt hatten: „Stürzt die korrupten Beamten! Li Peng, komm raus!“. Li Peng, der Premier. Der nicht rauskam. Der dafür die Panzer tanzen und brüllen ließ, auf jenen Steinquadern.

Der Platz.

Zum 15. Jahrestag nahmen sie den einen Mann fest, der dort ein paar gelbe Rosen niederlegen wollte, den damals 30-jährigen Hu Jia, der heute sagt: „Wir waren alle ,Tank Men' am 4. Juni 1989. Wir haben alle versucht, die Panzer aufzuhalten.“ Sie alle scheiterten. Viele starben. Erstochen, erschlagen, erschossen, zermalmt.

Der Platz.

Zum 25. Jahrestag haben sie ihm neue Absperrgitter geschenkt: bleischwer, auch mit dem Auto nicht zu durchbrechen. „Gegen die Terroristen“. Gold lackiert, „Neureichengold“ spotten sie im Netz. Ohne das Wort „Platz“ zu verwenden. Weil die Zensoren beim populären Mikrobloggingdienst Weibo es blockieren in diesen Wochen. Wie sie auch die Begriffe „jener Tag“ und „jenes Jahr“ blockieren. Sie verbieten auch die „Trauer“, daonian auf Chinesisch, als Wort und als Tat. Jene, die sich die Erinnerung nicht verbieten lassen wollen, werden zum Schweigen gebracht: Mehr als 50 Verhaftete in den letzten Wochen.

China war nie wieder so frei wie in jenen Monaten und Wochen, die auf den Juni 1989 hinführten.

Es war eine Volksbewegung und ein Volksfest zugleich. Alle fanden Grund zum Protest. Die Studenten, weil sie sich nach Freiheit sehnten, die Arbeiter, weil ihnen die Inflation den Lohn auffraß, und alle zusammen, weil korrupte Kader das Volk aussaugten. Auf dem Platz kam eine Million Menschen zusammen. „Ich weiß nicht, was wir wollen“, rief einer der Studenten damals euphorisch. „Ich weiß nur: Wir wollen mehr davon!“ Die Partei hat gesiegt in jener Nacht vom 3. auf den 4. Juni. Sie pulverisierte nachhaltig alles, was ihr Chinas Jugend an Eifer und Idealismus darbot. Das Massaker schenkte der KP kostbare Jahrzehnte. Dem Land, dem Volk schenkte es einen neuen Deal: „Werdet reich - und haltet den Mund“. Jene einzigartige Mischung aus wirtschaftlicher Öffnung und politischer Starre, die China bis heute kennzeichnet. Wenn China heute so aussieht wie es aussieht, dann auch wegen des 4. Juni 1989. Da ist das aufstrebende China: der Boom, der Reichtum, die glitzernden Fassaden. Und da ist die Fäulnis im Kern: die wuchernde Korruption, die moralische Krise, der totale Vertrauensverlust. An die Stelle der Ideale von damals sind ein krasser Materialismus und ein allgegenwärtiger Zynismus getreten.

Das Erstaunlichste ist die kollektive Amnesie. Der Terror, die Gehirnwäsche, sie haben funktioniert. Es gibt junge, kluge, gebildete, kritische Chinesen, die haben bis heute niemals vom Massaker 1989 gehört.

Wer in Baidu Baike, Chinas größter Online-Enzyklopädie sucht, der wird das Jahr 1988 finden und das Jahr 1990. Das Jahr 1989 existiert nicht. Aus der Geschichte gefallen.
Das Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens erschütterte die Welt.

In China ist es vergessen.

Wu Jue,
die Mutter.

Sie ist 75 Jahre alt und lebt heute in Peking. Ihr Sohn wurde bei den Protesten 1989 erschossen, damals war er 20 Jahre alt. Sie gehört zur Initiative „Mütter des Tiananmen“ und steht deswegen unter Beobachtung.

Helden.
So fühlten sie sich
auch selbst.

Berauschten sich an der neuentdeckten Macht des Volkes. Allen voran die Studentenführer. Die zum radikalen Pathos neigende Chai Ling, der stille Denker Wang Dan und der charismatische Wu'er Kaixi. Letzterer die schillerndste Figur. Sohn eines hohen uigurischen Kaders war er, ein geborener Führer mit Hang zum Drama und einer Schwäche für Frauen. Legendär ist sein Showdown mit Premier Li Peng vor laufenden Kameras: Wu'er Kaixi und die anderen Studenten waren als Hungerstreikende im Pyjama in der Großen Halle des Volkes erschienen. Premier Li Peng ganz steif, seinen Unwillen hinter einem Berg von Worthülsen kaum verbergend. Als dem im Sessel lümmelnden Wu'er Kaixi schließlich der Kragen platzte und er dem phrasendreschenden Li Peng über den Mund fuhr, hielt ganz China den Atem an: Ein Student! Dem Regenten!

Keiner der Studentenführer starb in jener Nacht. Wu'er Kaixi wurde in einen Rettungswagen gestoßen, in dem Tote und Verwundete lagen. Ein geheimes Netzwerk von Hongkonger Gangstern brachte ihn und andere über die Grenze.

Manche landeten in den USA. Wang Dan und Wu'er Kaxi - Nummer 1 und Nummer 2 auf der Liste der Meistgesuchten - leben heute in Taiwan. Sie haben heute einen größeren Teil ihres Lebens im Exil verbracht als in der Heimat. Um seine Eltern wiederzusehen, ist Wu'er Kaixi zuletzt mehrfach an die chinesische Grenze gereist, um sich den Behörden zu stellen. „Ich stehe noch immer auf der Liste.“ Vergebens: China ignoriert ihn.

Li Hai,
der Student.

Er ist 60 Jahre alt und lebt heute in Peking. Als Student der Pekinger Volksuniversität nahm er an den Protesten teil. Wegen Spionage wurde er später zu neun Jahren Gefängnis verurteilt: Er hatte für eine Menschenrechtsorganisation in den USA an der Aufarbeitung des Massakers gearbeitet.

Sieben Wochen hielten die Studenten den Platz des Himmlischen Friedens besetzt, dann kamen die Panzer und der Tod.

Angefangen hatte alles am 15. April 1989, dem Todestag des ehemaligen Parteichefs Hu Yaobang. Der beliebte Hu war 1987 entmachtet worden, er galt als Reformer. Studenten strömten auf den Platz, die Trauerfeier wurde bald zur Demonstration. Sie forderten mehr Demokratie, bald zelteten sie auf dem Platz. Mitte Mai flog aus Moskau Michal Gorbatschow zum Staatsbesuch ein, der Generalsekretär der Sowjetunion. Doch Chinas Herrscher mussten ihn durch die Hintertür in die Große Halle des Volkes schleusen - bis zu eine Million Menschen hielten den Platz besetzt. Innerhalb der Partei brach ein Richtungskampf auf: Wie sollte man mit den Studenten verfahren? Premierminister Li Peng und Deng Xiaoping, die graue Eminenz der Partei, waren für die harte Linie. Der liberale Parteichef Zhao Ziyang wollte hingegen ein Blutvergießen verhindern, verzweifelt ging er am 19. Mai selbst auf den Platz und sprach durch ein Megaphon unter Tränen zu den Studenten.

Einen Tag später wurde er entmachtet, Li Peng rief den Ausnahmezustand in Peking aus. In den Vororten hatten Truppen der Volksbefreiungsarmee bereits Stellung bezogen. Bis zu 150 000 Soldaten waren abkommandiert worden. In der Nacht des 2. Juni versuchten Polizei und Armee zum ersten Mal den Platz zu räumen, sie scheiterten. Eine Nacht später schossen sie scharf. Das chinesische Rote Kreuz schätzte zunächst, dass 2600 Menschen beim Massaker ums Leben gekommen waren, der Schweizer Botschafter, der die Krankenhäuser der Stadt besucht hatte, sprach von 2700 Opfern, beide zogen aufgrund Drucks aus der Regierung ihre Zahlen später zurück.

Zhang Shijun,
der Soldat.

Er ist 46 Jahre alt und lebt heute in der ostchinesischen Provinz Shandong.
Am 5. Juni, einen Tag nach dem Massaker, beantragte er seine Entlassung aus der Armee, später wurde er zu drei Jahren Arbeitslager verurteilt.
2009 forderte er in einen Offenen Brief den damaligen Präsidenten Hu Jintao auf, der Toten von 1989 zu gedenken. Seitdem steht er unter Beobachtung des Geheimdienstes.

Der Platz. Die Macht.
Die zwei lassen sich nicht
trennen. Himmlischer Friede.

Der Name sollte dem Volk Trost verheißen. Zuerst trug ihn das Palasttor, später der Platz davor. Am 4. Mai 1919 erhielt der Platz seine zweite Bestimmung: Demonstrierende Studenten gegen die Versailler Verträge weihten ihn zum heute mythischen Ort des Protests. Später hat ihm Mao seine Weite gegeben, eine Weite, in der der Einzelne untergeht. Wer die Herzen des Volkes beherrschen will, der muss diesen Platz besetzen. In einem Teil des alten Palastgartens, beim „Mittleren und Südlichen See“, chinesisch: Zhongnanhai, sitzt noch heute die Führung des Landes. Dai Qing wuchs hier einst auf, Adoptivtochter von Marschall Ye Jianying, eines der mächtigsten Männer. Später wurde Dai Qing Journalistin, Zweiflerin. Am Tag nach dem 4. Juni trat sie öffentlich aus der Partei aus. Bis heute hat sie Berufsverbot. Sie spricht heute von der „Chronik eines angekündigten Massakers“, glaubt das Deng Xiaoping den Sturz des liberalen Parteichefs Zhao Ziyang wollte. „Wie kann das sein, dass in China heute niemand mehr über ein so gewaltiges Ereignis spricht?“, fragt Dai Qing. „Ein Ereignis, das die Zukunft des Landes geändert hat.

Wenn wir heute Generäle haben, die reden wie Faschisten, dann auch wegen damals. Wir gehen gefährlichen Zeiten entgegen.“ Ein anderer, der in Zhongnanhai im engsten Zirkel der Macht zuhause war, ist Bao Tong, er war einst Assistent von KP-Chef Zhao Ziyang und folgte diesem in die politische Verbannung. Auch er sieht die Wurzel für viele der Übel des heutigen Chinas in den Ereignissen von damals: die Korruption, die Ungleichheit, die gewaltige Aufblähung des Staatssicherheitsapparates.

Bao Tong,
der Funktionär.

Er ist 81 Jahre alt und lebt heute in Peking. 1989 war er einer der engsten Berater des gemäßigten Parteichefs Zhao Ziyang, der damals gegen ein Eingreifen der Armee war. Am 28. Mai, also eine Woche vor der blutigen Niederschlagung, wurde er festgenommen und erst 1996 wieder freigelassen. Heute steht er unter Hausarrest.

Seit dem Massaker auf dem Tiananmen gibt es einen unausgesprochenen Pakt zwischen der Partei und dem Volk.

Die Vereinbarung ist simpel: Ihr haltet euch aus der Politik heraus, und wir sorgen dafür, dass die Wirtschaft wächst. Doch dieser Deal, der die neue Mittelschicht lange bei der Stange hielt, er stößt mittlerweile an seine Grenzen. Die Folgen des ungezügelten Wachstums, das nicht von politischen Reformen begleitet wird, sind verheerend: Die Umwelt ist zerstört, Luft und Lebensmittel sind voller Gift, die Korruption ist schlimmer denn je. Als vor zwei Jahren ein Schulmädchen in Guangdong von einem Fernsehreporter gefragt wurde, was es denn später einmal werde wolle, antwortete die Kleine: „Korrupte Beamtin! Da kriegt man immer ganz viele Sachen geschenkt.“

Auf dem Papier haben Chinas Beamten nur einen kärglichen Sold, doch selbst in Dörfern und Stadtvierteln sind viele Staatsdiener längst Schmiergeld-Millionäre. Etliche Kader schicken inzwischen ihre Familien ins Ausland, über Offshore-Konten schaffen sie ihre Millionen außer Landes - wenn Familie und Geld in Sicherheit sind, dann setzen sie sich zuletzt selbst ab. „Nackte Beamte“, nennt der chinesische Volksmund sie. Über 400 Milliarden Dollar fließen jedes Jahr illegal aus der Volksrepublik ab. Die vermögendsten 50 Mitglieder des Volkskongresses verfügen zusammen über fast 100 Milliarden Dollar - kein Parlament der Welt, auch nicht der amerikanische Kongress, hat reichere Volksvertreter.

Die neue Führung um Parteichef Xi Jinping hat angekündigt, gegen die Korruption vorgehen zu wollen. Von Fliegen (kleinen Kadern) und Tigern (mächtigen Funktionären), die er erledigen werde, spricht Xi gerne. Doch wie soll das funktionieren? Anfang des Jahres veröffentlichten der NDR und die Süddeutsche Zeitung gemeinsam Enthüllungen zu den Vermögensverhältnissen und geheimen Offshore-Konten der chinesischen Elite. In den Dokumenten tauchen neben dem Schwager des amtierenden Staatschefs Xi Jinping auch der Sohn, die Tochter und der Schwiegersohn von Ex-Premierminister Wen Jiabao auf. Auch der Name der Tochter des früheren Premiers Li Peng findet sich in den Daten. Der Clan des Premiers, der 1989das Kriegsrecht ausrief, gehört heute zu den reichsten Chinas. Alle haben sie Briefkastenfirmen in der Karibik eröffnet. Und wie reagierten Präsident Xis angebliche Korruptionsbekämpfer? Chinas Internetpolizei sperrte den Nachrichtenfluss weiträumig ab, blockierte alle Medien, die darüber berichteten, darunter die SZ. Über die Offshore-Geheimnisse der Mächtigen sollen die Chinesen so wenig erfahren wie über die blutige Vergangenheit der Partei.

Furcht ist der KP noch heute ein zentrales Mittel der Machtsicherung. Nach dem 4. Juni setzten in China mehrere Verhaftungswellen ein, Zehntausende kamen in Arbeitslager. Einer von ihnen war der Schriftsteller Liao Yiwu, dem 2011 die Flucht nach Deutschland gelang. „Nudeln in klarer Brühe“ so nannten seine Wärter ein Gericht aus in Urin getränktem Toilettenpapier, das sie den Gefangenen hinabzwangen. Manchmal gab es auch „Zweimal gekochtes Schwein auf heißer Platte“: Dazu wurde den Inhaftierten mit einem Bambusstock der Rücken blutig geschlagen, und dann Salz in die Wunden gestreut. Nach ein paar Tagen sehen die Verletzungen aus wie gekochtes Fleisch. Liao Yiwu kam ins Gefängnis für sein Gedicht „Massaker“.

Ein Schrei, geboren in jener Nacht.

Teilen Sie diese Geschichte:

Text

Christoph Giesen, Kai Strittmatter

Video

Autorin | Christine Adelhardt
Producerinnen | Chen Lu, Ivonne Wagner
Kamera | Ronald Schütze
Ton | Kristian Baum
Schnitt | Rouven Schröder / Iannis Kase

Programmierung

Sascha Goldhofer, Sonja Kowarschick,
Steffen Kühne, Maximilian Salcher

Projektmanagement

Martina Schories

Redaktion und Konzeption

Thomas Salter, Fabian Heckenberger

Gestaltung

Astrid Müller

Süddeutsche.de Weltspiegel