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Die Nachricht

Im Juni 2013 hat Urs Siegenthaler sein Handy in die Hand genommen, es ist noch eines dieser Handys, mit denen man telefonieren kann. Das Handy macht keine Musik, es lädt keine Staumeldungen oder Pollenflugvorhersagen herunter, und es ist sogar zweifelhaft, ob man damit WhatsApp-Gruppen bilden kann. Urs Siegenthalers Telefon ist einfach nur ein Telefon, es kann telefonieren und Meldungen senden, sonst kann es nichts.

Aber mit diesem Telefon fing alles an. Mit diesem Telefon und mit einer Nachricht.

Im Juni 2013 war Urs Siegenthaler als Abgesandter des Deutschen Fußball-Bundes beim Confederation Cup, dem kleinen WM-Testturnier in Brasilien, und dort hat er also irgendwann sein Handy genommen, er stellte den SMS-Modus ein und tippte: “Wir sind aufgefordert, mit der Zeit zu gehen und die Idee zur Seite zu legen.” Empfänger der Nachricht war ein Mann in Freiburg/Deutschland: Joachim Löw.

Der Schweizer Siegenthaler, 65, ist seit zehn Jahren Chefscout der DFB-Elf, und in seinem Handy steckt alles, was man wissen muss über die deutsche Weltmeister-Mannschaft und ihren Weltmeister-Trainer Joachim Löw.

Wenn der Trainer Joachim Löw bei diesem Turnier anders wahrgenommen wurde als bei früheren Turnieren, wenn er plötzlich ein zupackender Entscheider war und nicht mehr ein ästhetischer Zauderer, und wenn Deutschland am Ende Weltmeister war, dann hat das eine Menge mit Siegenthaler und der SMS aus dem kleinen, grauen Handy zu tun. Mit der Zeit gehen und die Idee zur Seite legen: Nichts anderes hat Löw in Brasilien getan.

Löw installiert eine „Ochsen-Abwehr“

Wer die SMS kennt, der kann plötzlich all jene Bilder verstehen, die von diesem Turnier am anderen Ende der Welt in die Heimat übertragen wurden. Es waren schwer entschlüsselbare Bilder von einer deutschen Mannschaft, die beinahe gegen Algerien ausscheidet, eine Woche später Brasilien demoliert und im Finale Argentinien besiegt. Es waren Bilder einer Mannschaft, die nicht so aussah und auch nicht immer so Fußball spielte, wie man das von einer künstlerisch veranlagten Löw-Mannschaft erwartet hat.

Gewollter Sturz: Thomas Müller beim kreativ-einstudierten Freistoß. Foto: Moritz Müller (imago)

Löw wird vermutlich immer der Trainer sein, der das schöne, schnelle, flache Spiel liebt, aber seit Rio ist er auch der Trainer, der für den Erfolg Opfer bringt. Und wer Löw kennt, der weiß, dass das keine kleinen Opfer waren, die ihm Urs Siegenthalers Botschaft abverlangt hat. Löw hat der Versuchung widerstanden, den Spielstil der Mannschaft in seinem geliebten akademischen Sinne weiter zu entwickeln; er hat seine Mannschaft defensiver gebaut, er hat eine „Ochsen-Abwehr“ mit vier Innenverteidigern installiert, und in der Pressekonferenz hat man ihn wie selbstverständlich sagen hören, „dass die Standardsituationen sicher ein wesentlicher Punkt waren, dass wir das Turnier gewonnen haben“. Hansi Flick, sein Assistent, habe „das hervorragend gemacht, er hat sich unglaubliche viele Varianten angeschaut und mit der Mannschaft einstudiert“.

Quelle: SZ-Recherche - Martin Schneider

Ecken und Freistöße waren für Löw lange Jahre etwas, was ein bisschen streng riecht. Dass er sich nun mit dieser Disziplin verbündet hat, zeigt so deutlich wie kein anderes Beispiel, was Löw mit diesem Turnier vorhatte. Er wollte scho’ au diesen Titel gewinnen, wie er selbst wohl sagen würde; aber er wollte auch seinen Kritikern zeigen: Freunde, wenn ihr’s unbedingt sehen wollt, bitte sehr – ich kann’s auch auf diese Art.

Es war eine Mischung aus viel Überzeugung und ein bisschen Trotz, die Löw zum Weltmeistertrainer gemacht hat. In Brasilien hat er nicht nur seine Idee vom Fußball ein wenig zur Seite gelegt, er hat sich auch rar gemacht wie die späte Marlene Dietrich. Es gab noch nie so wenig belastbare Beweise für die Existenz dieses Bundestrainers wie bei dieser WM. Wer Beweise suchte, der musste morgens zwischen sechs und sieben an den Strand vorm Teamquartier kommen, dort sah man regelmäßig einen Mann mit großer Sonnenbrille joggen. Zweimal kam Löw im DFB-Quartier zur Pressekonferenz, zweimal in knapp fünf Wochen. Vor vier Jahren, bei der WM in Südafrika, kam er jede Woche zwei-, dreimal.

Der Löw, der sich selbst geheim hält, und der Löw, der die Ideen zur Seite legt: Man kann sie nicht trennen. Sie sind ein und dieselbe Person. Joachim Löw, das sagen seine Vertrauten, steckte tiefer im Tunnel als je zuvor, er war noch konzentrierter als je zuvor. Er hat um diesen Titel gekämpft – und damit um die Deutungshoheit der Ära Löw.

Joachim Löw ist jenseits von Jogi angekommen

Das prägendste Bild, das die WM von diesem Trainer geliefert hat, war ein Bild aus dem dritten Vorrundenspiel. Deutschland spielt gegen die USA, Joachim Löw spielt gegen Jürgen Klinsmann, von oben trommelt der Tropenregen. Klinsmann, der Fighter, wirft sich irgendwann eine Regenjacke über und zieht eine Mütze über das, was in besten Zeiten mal eine blonde Mähne war. Und Joachim Löw, der Beau? Er steht da draußen im Trommeltropenregen und er hat keine Zeit für den Schirm, den ihm eine helfende Hand reichen will. Löw wird nass. Er sieht aus wie Bryan Ferry, den es beim Open-Air-Concert vollschifft. Es war vielleicht das Bild des Turniers: Löw, der angebliche Schönwettertrainer, mitten im Tropenregen.

Joachim Löw ist im Maracanã jenseits von Jogi angekommen. Dieses WM-Finale war mit Sicherheit die größte Prüfung in seinem bisherigen Trainerleben, er hat genau das beweisen müssen, was seine Kritiker zuvor zunehmend angezweifelt hatten: dass er nicht nur theoretische Skizzen entwerfen, sondern auch in einem lebendigen Spiel vitale Entscheidungen treffen kann. Denn unter solchen Umständen hat tatsächlich schon lange kein Trainer mehr ein WM-Finale coachen müssen: mit einem Spieler (Sami Khedira), der ihm ein paar Minuten vor Anpfiff abhandenkommt, und mit einem Nachrücker (Christoph Kramer), der ihm nach einer halben Stunde ebenfalls abhanden kommt. Den offensiven Schürrle für den defensiven Kramer zu bringen, war gewagt, es war ein Zug, der im Misserfolgsfall das Potenzial gehabt hätte, wieder zwei Jahre diskutiert zu werden. Aber in der 113. Minute schnappte sich Schürrle den Ball, und seine Flanke schnappte sich Mario Götze, den Löw ebenfalls eingewechselt hatte. In der Fachsprache ist das: ein glückliches Händchen.

»Der Bundestrainer hat diesen Titel sehr verdient.«
Bastian Schweinsteiger

Spätestens mit dem Finale hat sich Löw emanzipiert von der zweiten Hälfte des Jahres 2012, die ihm das Land lange nicht verziehen hatte; erst dieses 1:2 gegen Italien im EM-Halbfinale, als Löw sich über die Gesetze der Branche erhoben und eine funktionierende Elf auseinandergenommen hatte; dann das 4:4 gegen Schweden, nach 4:0-Führung. Wieder wirkte Löw wie ein Trainer, der seine Fußballidee nur für eine ideale Welt konzipiert hat, und der es gar nicht merkt, wenn die Idee in der wirklichen Welt mal nicht funktioniert.

Aus diesen unglücklichen 2012er-Tagen stammte das Bild, das sich die Leute von Löw und seiner Elf gemacht haben: Wenn es ernst wird, dann gewinnen die nix. Das sind doch alles Schönspieler, die werden doch weggeschwemmt vom ersten Tropenregen.

Der Bundestrainer habe „diesen Titel sehr verdient“, hat Bastian Schweinsteiger nach dem Finale gesagt, und das war nur die Einleitung zu einer umfassenden Lobeshymne. Fragt man die Spieler, so bestätigen sie diesen Eindruck: dass die scharfen Kritiken nach dem 1:2 gegen Italien den Trainer getroffen, aber auch verändert haben. Das Italien-Erlebnis hat Löw pragmatischer und straffer werden lassen.

Als es vollbracht war, hat Löw sich aber keinen Moment der Genugtuung gegönnt. Nach dem Finale saß kein triumphierender Trainer in der Pressekonferenz, er war höflich und wohlfrisiert wie stets, aber er war trotzdem anders. Er war aus dem Tunnel raus. Er war heiter, die Anspannung war abgefallen, er hatte den Schalk im Nacken. Ihm war anzumerken, dass er so einen WM-Titel scho’ au toll findet.

Oliver Bierhoff

Manager der Nationalmannschaft
über die WM-Vorbereitung
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Das Trainingslager

Dass auch Körper von Nationalspielern in der Sauna schwitzen, und dass das eine gruppendynamische Wirkung haben kann, war nicht die einzige medizinische Erkenntnis eines turbulenten Trainingslagers in Südtirol. Zweieinhalb Wochen lang hatte sich die deutsche Nationalmannschaft auf die WM vorbereitet, es waren zweieinhalb Wochen voller Kranken-Bulletins. Die Fußball-Nation lernte dabei noch mehr über den menschlichen Körper, zum Beispiel über Sprunggelenke, Schultergelenke, entzündete Kniescheiben. Und sie erlebte einen Bundestrainer, der täglich seine Aussagen vom Jahresanfang ausdribbelte. Im März hatte Joachim Löw gesagt, dass er nur Spieler mit zum Turnier nehmen werde, die absolut topfit seien. Mit einer Ausnahme: Sami Khedira. Der Mittelfeldspieler hatte im November einen Kreuzbandriss erlitten, sollte er einigermaßen fit sein, das deutete der Bundestrainer früh an, werde er ihn mit auf die Fähre nehmen.

Als Löw dann Anfang Mai seinen erweiterten Kader nominierte, stand er zu seiner Maxime, es fehlte Mario Gomez. Der Stürmer, im Sommer zuvor vom FC Bayern nach Florenz gewechselt, war nach mehreren Verletzungen, zuletzt am Knie, nicht rechtzeitig fit geworden. Nicht rechtzeitig fit, das bedeutete also: nicht im Kader.

Lagerkoller: Bundestrainer Joachim Löw in Südtirol. Foto: Bongarts (Getty)

Dann jedoch kam das DFB-Pokalfinale Mitte Mai in Berlin, der FC Bayern spielte gegen Borussia Dortmund, und auf einmal war Löws Maxime nicht mehr viel wert. Zum Aufgebot des Bundestrainers gehörten nun auch: Bastian Schweinsteiger – entzündete Patellasehne im Knie. Philipp Lahm – Bluterguss nach einem Kapseleinriss am Sprunggelenk. Manuel Neuer – Kapseleinriss am rechten Schultereckgelenk; dass Marcel Schmelzer aufgrund einer Knieprellung ebenfalls erst einmal nicht trainieren konnte, fiel neben den noch prominenteren Lädierten kaum auf. Neuer reckte den gewonnenen DFB-Pokal auf dem Münchner Rathausbalkon nur mit dem linken Arm in die Höhe. Dennoch hieß es zunächst, dass die drei Bayern rechtzeitig fit werden würden für das Trainingslager. Am Montag nach dem Finale jedoch lief Neuer mit dem rechten Arm in einer Schlinge herum. Auch Lahm musste zum Arzt. Ein paar Tage Trainingspause, das war der neue ärztliche Rat. Und Schweinsteiger? Durfte immerhin laufen.

Ohne die drei Spieler des FC Bayern absolvierte die Nationalelf die erste Trainingseinheit im Passeiertal. Am zweiten Trainingstag wurde das Team noch kleiner. Lars Bender reiste ab. Muskel-Sehnen-Verletzung, WM-Aus.

Es war ein unruhiger Start. Es wurde noch unruhiger

Mit jedem weiteren Tag bekam das Trainingslager kuriosere Züge. Immer länger wurde die trainingsfreie Zeit von Lahm und Neuer. Und Schweinsteiger? Durfte immerhin laufen. Zum Ende der ersten Woche sollten die drei wieder mitwirken können, hieß es. Zum Ende der ersten Woche hieß es: Anfang der zweiten. Am Anfang der zweiten Woche hieß es: zum Ende der zehn Tage im Passeiertal.

Am sechsten Tag des Trainingslagers korrigierte Löw daher seine Maxime. Wichtig war ihm nun nicht mehr unbedingt, dass ein Spieler topfit mit nach Brasilien reist. Sondern dass er „willensstark und widerstandsfähig“ sein müsse. Das sei entscheidend in dem tropischen Klima, in dem es ohnehin nicht möglich sei, 90 Minuten lang durchgehend über den Platz zu rennen. Am Abend des sechsten Tages kam der durchaus willensstarke und widerstandsfähige Khedira verspätet nach dem Champions-League-Sieg mit Real Madrid im Passeiertal an. Allerdings fiel er erst einmal aus: eine Erkältung.

Die Woche beginnt mit schlechten Nachrichten und sie endet mit schlechten Nachrichten

Am siebten Tag bekam das Trainingslager eine tragische Seite. Und der DFB präsentierte sich nicht sehr souverän. Am Vormittag wurde bekannt, dass Löw seinen Führerschein für ein halbes Jahr abgeben musste, er war wiederholt zu schnell gefahren. Ein schlechtes Timing. Ausgerechnet an jenem Tag hatte der DFB seinem Automobil-Sponsor Mercedes großzügig ein paar Werbestunden versprochen.

Zu Besuch waren auch der Formel-1-Pilot Nico Rosberg und der DTM-Fahrer Pascal Wehrlein, am Nachmittag sollten sie die Spieler vom Trainingsalltag ablenken. Rosberg und Wehrlein fuhren also auf einer abgesperrten Strecke durch die Berge, auf den Beifahrersitzen saßen die Schalke-Profis Benedikt Höwedes und Julian Draxler. Dabei passierte ein tragischer Unfall. Wehrlein fuhr mit seinem Auto in zwei Personen hinein, die am Rande der Strecke standen. Beide Männer mussten ins Krankenhaus gebracht werden. Höwedes und Draxler redeten intensiv mit dem DFB-Psychologen Hans-Dieter Hermann. Abends verschickte der DFB eine spärliche Mitteilung. Erst am nächsten Tag räumte Bierhoff ein, den Sinn solcher Aktionen überdenken zu wollen. Grundsätzlich, das sagte er auch, stehe er aber weiter dazu.

»Marco Reus hat in meinen Planungen eine zentrale Rolle gespielt.«
Joachim Löw

Am Ende dieser Woche der schlechten Nachrichten trainierten Khedira und Schweinsteiger wieder mit der Mannschaft, Lahm konnte laufen. Neuer absolvierte in der Woche danach, der Woche vor dem Abflug, Extra-Einheiten in München, genauso wie Lahm und Schweinsteiger. Am Tag vor dem Abflug stand noch ein letztes Testspiel an, gegen Armenien. Und es gab eine letzte Verletzung. Es traf Marco Reus. Ein harmloser Zweikampf an der Mittellinie, Reus musste ausgewechselt werden. Noch während des Spiels wurde er ins Krankenhaus gefahren. Die Diagnose: Teilriss der linken vorderen Syndesmose. Die Konsequenz: WM-Aus. Löw gestand, dass Reus in seinen Planungen für die WM „eine zentrale Rolle“ gespielt habe, und so wurde der Offensivspieler von Borussia Dortmund auch bald vermisst, seine Dribblings, sein Drang in den Strafraum.

   

Malerische Kulisse, schwierige Zeit: Das Trainingslager der deutschen Mannschaft verlief turbulenter als geplant. Foto: Andreas Gebert (dpa)

Skeptischer Blick in Richtung Turnierstart: Kapitän Philipp Lahm wusste bis kurz vor der WM nicht, ob er spielen kann. Foto: Andreas Gebert (dpa)

Tragik statt Training: Bei einer Werbeaktion mit Nationalspielern kommt es zu einem Autounfall. Foto: Andreas Gebert (dpa)

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Ersetzt wurde der für Löws Planungen zentrale Offensivspieler durch Shkodran Mustafi, einen Innenverteidiger. Einen Spieler, der in Löws Überlegungen ebenfalls rasch eine zentrale Rolle spielte: die als erste Einwechsel-Option für die Viererkette. Mustafi sollte in der Vorrunde zweimal spielen sowie im Achtelfinale gegen Algerien. Dann wurde er gegen Algerien nach einem Zweikampf ausgewechselt. Diagnose: Muskelfaserriss im linken Oberschenkel. Konsequenz: WM-Aus.

Und dennoch: Das Trainigslager in Südtirol war der Aufbruch zu einer Reise, die mit dem WM-Titel enden sollte.

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Campo Bahia

Es war viel gesprochen worden über das Trainingscamp, das sich der Deutsche Fußball-Bund in Brasilien für die WM ausgesucht hatte. Würde es fertig werden? Warum ein eigenes kleines Dorf, das man nur mit einer Fähre erreicht? Kann das gut gehen? Aber als das Turnier begonnen hatte, wunderte sich plötzlich niemand mehr, wie man auf diese wahnwitzige Idee kommen kann: sich mithilfe privater Investoren ein Teamquartier in die Abgeschiedenheit zu bauen. Wer in São Paulo oder Rio mal drei Stunden im Stau feststeckte, der musste sich wünschen, er könnte sich in Brasilien so kalkulierbar fortbewegen wie die DFB-Elf auf dem Weg zu ihren WM-Spielen: Landstraße, Fähre, Landstraße. Kein Verkehr.

Und so hat sich am Ende auch dieses Detail der deutschen WM-Planung als umsichtig herausgestellt. Dass der 22-jährige Mario Götze die Nationalelf am Ende im berühmten Estádio do Maracanã von Rio de Janeiro zu ihrem vierten Weltmeistertitel geschossen hat, das haben Milliarden Menschen an den Fernsehern verfolgt. Wie viel Planung hinter so einem Erfolg steckt, sieht man erst auf den zweiten Blick.

Das Inferno bleibt aus

Kern der deutschen WM-Mission war das „Campo Bahia“: eine Ansammlung von Wohngemeinschaften unter Palmen, eine von Künstlern gestaltete Bar, Pool, Dartscheibe, Tischtennisplatte, alles unter freiem Himmel. Der Trainingsplatz lag ganz in der Nähe, der Strand ebenfalls. Viele Medien hatten der DFB-Elf ein Inferno an landestypischen Plagen prophezeit: Straßensperren von Indianern, Überfälle von Drogendealern, Schwärme von Stechmücken. Nichts davon trat ein. Rechtzeitig fertig wurde das Areal entgegen aller Befürchtungen auch. Und nach vier Wochen WM sagte Bastian Schweinsteiger vom FC Bayern über den Kollegen Kevin Großkreutz von Borussia Dortmund: Er habe ja früher immer gedacht, der sei komisch, erst jetzt habe er gemerkt, was für ein netter Typ der in Wahrheit sei.

   

Wohngemeinschaft unter Palmen: Das Mannschaftsquartier Campo Bahia war ein gruppendynamisches Experiment. Foto: Vera Gomes (dpa)

Fließende Grenze zwischen An- und Entspannung: Der DFB-Tross setzt mit der Fähre über ins Quartier. Foto: Marcus Brandt (dpa)

Beliebter Weltmeister: Selbst das Sympathisch-Sein haben die Deutschen geplant. Foto: Patrick Stollarz (AFP)

Spaß am Spiel: Das Campo war konzipiert nach der Vorstellung von größtmögliche Nähe bei gleichzeitiger Minimierung des Lagerkoller-Potenzials. Foto: Martin Rose (Getty)

Philosophieren im Sand: Bundestrainer Joachim Löw und Chefscout Urs Siegenthaler bei der Taktik-Besprechung. Foto: Arnd Wiegmann (Reuters)

Podolski unter Schülern: Der DFB unterstützte eine Schule in Santo André. Das mag Kalkül gewesen sein. Daran ist aber nichts auszusetzen. Foto: Felipe Oliveira (Getty)

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Das „Campo Bahia“ war demnach in erster Linie ein gruppendynamisches Projekt. Nur nach und nach war ja an die Öffentlichkeit gekommen, welche Spannungen noch bei der Europameisterschaft 2012 in der deutschen Mannschaft geherrscht hatten. Nun empfahl der Teampsychologe: größtmögliche Nähe, aber bei gleichzeitiger Minimierung des Lagerkoller-Potenzials. Von den 32 WM-Teams haben viele in Stadthotels gewohnt, in denen die Freizeit der Spieler darin bestand, in Grüppchen auf den Zimmern zu hocken. Im deutschen Freiluftcamp entstand derweil jenes Zusammengehörigkeitsgefühl, das nach Auskunft aller Beteiligten großen Anteil hatte am Erfolg.

Oliver Bierhoff über die Atmosphäre im Campo Bahia

Natürlich wurde der Bundestrainer Joachim Löw danach gefragt, was das Geheimnis sei hinter diesem WM-Titel. Löw ist dann auf die sogenannten deutschen Tugenden zu sprechen gekommen. Die „deutschen Tugenden“ galten lange als das Erfolgsgeheimnis des deutschen Fußballs: Die Deutschen, hieß es, können zwar nicht so schön spielen wie andere, dafür können sie besser die Zähne zusammenbeißen, und deshalb gewinnen sie oft. Aber die Zähne zusammenbeißen, sagte Löw, „das können heute alle“. Es ist deshalb auch Löws Verdienst, dass die deutsche Elf nun schon seit Jahren einen modernen, attraktiven Fußball im Programm hat.

Fußball- und Planungs-Weltmeister

Aber wenn man den Begriff der „Tugenden“ mal von seinem deutschtümelnden Beiwerk befreit, bleibt diese Erkenntnis: Die Deutschen haben in Brasilien nichts dem Zufall überlassen. Unterkunft, Reiseabläufe, Teambuilding. Die Deutschen sind nicht nur Fußball-, sie sind auch Planungsweltmeister. Im Kleinen wie im Großen. Auch, dass es diese Generation herausragender Fußballer überhaupt gibt, ist ja das Ergebnis strategischer Planung. 2000 war die deutsche Elf bei der EM krachend in der Vorrunde gescheitert, danach machte es der DFB zur Auflage für seine Profi-Vereine, die Nachwuchsarbeit zu modernisieren und Internate zu gründen. Spieler wie Mario Götze, Jérôme Boateng oder Sami Khedira waren mit die Ersten, die diese Projekte durchliefen.

Planungsweltmeister waren die Deutschen auch im Auftreten. Dass sie in Santo André eine Schule finanziell unterstützten, mag auch Kalkül gewesen sein, und dass sie ihre Auswärtstrikots in den Farben des beliebtesten brasilianischen Klubs gestaltet haben, war auch ein Marketing-Coup. Wohlwollend registriert wurde es in Brasilien trotzdem. Und als die Deutschen nun in Rio ihre Weltmeister-T-Shirts überstreiften, stand auf der Rückseite ein Dank an Brasilien in portugiesischer Sprache. Auch das Sympathisch-Sein haben die Deutschen geplant, und daran ist wirklich gar nichts auszusetzen.

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Der Libero

Manuel Neuer hatte bis zum Achtelfinale gegen Algerien keine besonders hervorgehobene Rolle gespielt. Im Gruppenspiel gegen Portugal zum Beispiel genügte es mehr oder weniger, dass er pünktlich beim Anpfiff zugegen war, kurz vor Schluss nahm er den Portugiesen dann noch den Trostpreis des Ehrentreffers, indem er Ronaldos meisterlich schnittigen Freistoß abwehrte. Gegen Ghana hat der deutsche Torhüter ein paar Bälle gehalten, die er wohl auch in Pantoffeln und Nachthemd gehalten hätte, und bei den beiden Gegentreffern war selbst der mächtige Manuel Neuer machtlos. Und gegen die USA war der Dauerregen Neuers größter Widersacher, weil die von Jürgen Klinsmann angeblich hochgradig erhitzten Amerikaner sich kaum einmal an seinem Strafraum blicken ließen. Und nun gegen Algerien? Wieder keine Torwartparaden von Manuel Neuer, 27. „Er musste auf der Linie nichts Überragendes halten“, stellte der Bundestrainer nach dem 2:1-Sieg fest.

Entsprechend lässig verließ Neuer seinen Arbeitsplatz, als die Partie vorüber war. Neuer näherte sich der Mittellinie mit diesen schwingenden, federnden Schritten, die für ihn typisch sind, er suchte wie üblich den Weg zu seinem Torwartkollegen, zum Fachgespräch unter Gleichgesinnten. Den Algerier Rais M’Bolhi kürte eine Kommission der Fifa später zum besten Spieler des Spiels, weil er mit großartigen Reflexen unter anderem Tore von Philipp Lahm und Thomas Müller verhindert hatte. M’Bohli, im zivilen Leben beim bulgarischen Klub ZSKA Sofia beschäftigt, schaffte es, seine Mannschaft im Spiel zu halten.

Deutschland tritt mit zwölf Feldspielern an

Neuer hatte zwar einen mindestens ebenso essenziellen Anteil am Überleben seiner Mannschaft, allerdings war sein Beitrag fürs konventionelle Verständnis der Juroren vermutlich schwer fassbar. Was ist das für ein Torhüter, der sich mehr als Feldspieler betätigt denn als Schlussmann? Der tief ins Feld ausrückt, um mit Grätschen, Kopfbällen und Befreiungsschlägen einzugreifen, der auf der rechten Abwehrseite ins Laufduell mit dem gegnerischen Stürmer geht, der als letzter Mann vor dem Strafraum fintiert wie ein diplomierter Dribbelspezialist? Für das Dafürhalten einer herkömmlichen Fifa-Kommission stellt diese ebenso extrovertierte wie extravagante Spielweise vermutlich eine intellektuelle Überforderung dar. Für den Gegner auf dem Spielfeld stellt die Gegenwart von Manuel Neuer hingegen eine Wettbewerbsverzerrung dar. Im Grunde hatte Deutschland gegen Algerien zwölf Spieler auf dem Platz, weil Neuer sowohl als Feldspieler wie als Torwart mitwirkte. „Er hat uns einige Male vor ganz gefährlichen Situationen bewahrt, weil er wie ein Libero spielt“, lobte Löw.

Ballkontakte von Manuel Neuer außerhalb des Strafraums. Quelle: Opta, Foto: Clive Rose (Getty)

Vor der WM hatten nicht wenige Leute gemeint, es werde schon kein Drama sein, wenn statt Neuer bei der WM der erste Ersatzmann Roman Weidenfeller im Tor stehen werde. Neuer kam bekanntlich mit einer unberechenbaren Schulterverletzung zur WM-Vorbereitung, die er sich im Pokalfinale zugezogen hatte. Für seine Einsatzfähigkeit beim Turnier gab es keine Gewissheit. Nun weiß man zweierlei: Neuer ist voll spielfähig, er kann jetzt sogar wieder mit dem rechten Arm seine berühmten Präzisionsabwürfe machen, mit denen er auf 55 Meter ein Streichholz treffen würde. „Heute hat man gesehen, dass ich erstmals wieder richtig abgeworfen habe“, resümierte er in Porto Alegre zufrieden.

Und die zweite Erkenntnis ist, dass Weidenfeller wohl spätestens nach einer halben Stunde die rote Karte gesehen hätte, falls er ähnlich offensiv wie sein Münchner Kollege gegen die ständig anstürmenden Algerier vorgegangen wäre. Was er vermutlich und klugerweise nicht getan hätte – und was dann wohl bedeutet hätte, dass die Deutschen mit ziemlicher Sicherheit in Rückstand geraten wären. Zugegeben: Das sind eine Menge Konjunktive. Aber sie beruhen auf einer quasi wissenschaftlichen Gewissheit. Neuer ist, bei allem Respekt für Weidenfeller, die beste Lösung, die sich fürs deutsche Tor denken lässt.

»Unglaublich auch, wie schnell der ist. Da wäre ich nicht hinterhergekommen.«
Christoph Kramer über Manuel Neuer

Alle deutschen Spieler haben sich nach dem Spiel glücklich geschätzt, dass sie einen so vielseitig versierten Torhüter wie Manuel Neuer hinter sich wissen, und keiner hat versäumt zu erwähnen, dass Neuer außerdem der beste Torwart der Welt ist. Christoph Kramer schwärmte von „absoluter Weltklasse – nicht nur auf der Linie, sondern auch draußen. Unglaublich auch, wie schnell der ist. Da wäre ich nicht hinterhergekommen.“ Benedikt Höwedes erzählte, dass Neuer „schon früher in Schalke gezeigt hat, dass er ein Riesenkicker ist“, und dass er regelmäßig als Feldspieler mittrainiert habe. Die Rolle des Liberos habe „nur der Franz“ besser interpretiert, witzelte Torwarttrainer Andreas Köpke. Gemeint war natürlich Franz Beckenbauer.

Nur Oliver Kahn brachte ein paar Einwände vor. Er klassifizierte Neuers Unternehmungen als „Harakiri“, weil er auf seinen Exkursionen Gefahr laufe, zu spät zu kommen und eine rote Karte zu riskieren. Neuer leugnet die Gefahr nicht, „manchmal ist es schon sehr eng“, sagte er, „aber ich bin noch nie vom Platz geflogen.“ Auf dem Vertrauen in Neuers Reichweite und in die Exaktheit seines Eingreifens beruht ja letztlich ein wesentlicher Teil der Abwehrstrategie. Die Viererkette würde nicht weit aufrücken, wenn sie nicht Neuer hinter sich wüsste. „Das ist kein Systemfehler, sondern eine Vertrauensgeschichte zwischen der Viererkette und mir. Da geht es um Automatismen“ – so schildert er selbst das. „Die Jungs wissen genau, dass der Manu mitspielt und immer hellwach ist“, sagte Köpke.

Kein schönes Spiel, aber eine Initialzündung: Mesut Özil und Deutschland kämpfen sich gegen Algerien ins Viertelfinale. Fotos: Darren Staples (Reuters), Jamie Squire (Getty), Martin Rose (Getty)

Dass Neuer gegen Algerien ein knappes Dutzend Male zur Bereinigung von akuten Gefahrenmomenten ausreiste, dürfte allerdings kaum Teil der Planung gewesen sein – eher entsprach es seiner fürsorglichen Art, die Reparatur der Löcher in der Deckung lieber selbst zu übernehmen, als einen Spezialisten zu rufen. Andreas Köpke sah ihm gern dabei zu: „Ich hatte nie das Gefühl, dass er sich verschätzen könnte. Ich glaube nicht, dass er da am Rande einer roten Karte wandelt. Ich sitze da immer sehr ruhig draußen. Er hat ja sogar Spaß dabei, mitzuspielen und auch mal einen Gegner auszutricksen.“

Neuer nahm all diese Würdigungen stoisch entgegen. Für ihn war dieses Spiel, das auf den Betrachter wie ein großes Abenteuer wirkte, nichts Besonderes. „Ich helfe, wo ich kann. Klar habe ich in der einen oder anderen Situation Kopf und Kragen riskiert, aber das gehört zu meinem Spiel. Es war ein bisschen eng heute.“ Ein bisschen. Nur ein bisschen.

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Ruckzuck

Später, nach dem 7:1 im WM-Halbfinale gegen Brasilien, haben alle gesagt, sie hätten diese paar Minuten, in denen das Ungeheuerliche geschah, als irreal und unbegreiflich empfunden. Was sonst? Keine Phantasie hatte ein solches Szenario ausmalen können. Julian Draxler wähnte sich „fassungslos“ und Thomas Müller machte vorsichtshalber einen Witz draus („man schaut sich gegenseitig grinsend ins Gesicht“), während sich Mats Hummels sorgte, dass er nicht auf dem Platz stünde, sondern im Bett läge: „Ich dachte: Bitte lass das nicht einen schönen Traum sein.“

„Es ging zack, zack“, wie Thomas Müller meinte, beziehungsweise „ruckzuck“, wie Benedikt Höwedes präzisierte, und es handelte sich zweifellos um die irrste Trefferfolge der Menschheitsgeschichte. 23. Minute: Klose 2:0; 24. Minute: Kroos 3:0; 26. Minute: Kroos 4:0; 29. Minute: Khedira 5:0. So was kommt zwar vor im Fußball, aber es passiert auf der Stadtwaldwiese bei Kickers Grüngürtel, so was gehört nicht in ein intergalaktisches WM-Halbfinale zwischen Brasilien und Deutschland.

Untröstlich: Brasiliens Nationalspieler David Luiz (links) und Thiago Silva. Foto: Eddie Keogh (Reuters)

Die DFB-Elf hatte einen Plan, wie sie Brasiliens empfindlichen Punkt treffen könnte. „Defensiv gut agieren“, war das oberste Gebot, „entweder durch Balleroberung oder indem wir die erste Angriffswelle durchbrechen“, wie Philipp Lahm erläuterte, als ob er aus einer militärischen Lagebesprechung zitierte: „Weil dann Brasilien oft zweigeteilt ist – in Offensive und Defensive –, und sich daraus Möglichkeiten ergeben. Das war unser Plan.“ Selbstredend war sich Lahm klar darüber, dass Theorie und Praxis nicht notwendig harmonieren. Einen Plan zu haben, ist kein Versprechen, einen Plan hat jeder. „Man will immer früh 1:0 in Führung gehen und dann nachlegen“, sagte er und lächelte, weil er sich über die Banalität dieser Analyse freute.

Oliver Bierhoff über den historischen Sieg gegen Brasilien

Angefangen hatte alles mit einem banalen Abwehrfehler respektive einem deutschen Bauerntrick: Der an diesem Spieltag in allen Belangen unglaubliche Kroos bringt mit dem Effet eines Karambolage-Billard-Meisters den Eckstoß herein; ein Pulk deutscher Spieler bewegt sich, magnetisch einen Pulk brasilianischer Spieler hinter sich herziehend, zum kurzen Pfosten. Ein deutscher Spieler aber löst sich aus der Masse, er bewegt sich in die andere Richtung und steht so ganz allein da, als der Ball vor seinen Füßen landet. Und dann schießt Thomas Müller die Kugel schmucklos ins Tor. Nicht mit dem Spann, sondern mit der Seite, womit alles gesagt ist über das Ausmaß von Brasiliens Abwehrversagen. So ein Tor darf auch auf der Stadtwaldwiese bei Kickers Grüngürtel nicht fallen.

Ein Pass wie ein Geschenkkarton mit Schleife

Es ging jetzt gemäß dem von Lahm skizzierten Plan darum, die Führung zu nutzen, und das taten die Deutschen mit einiger Entschiedenheit. Schon als noch niemand ahnen konnte, wie inflationär es gleich zugehen würde, hatten sie sich der Partie bemächtigt. In ihrer exakt abgestimmten Spielkunst waren sie so überlegen, dass es die Brasilianer mit ihrem Copyright aufs Jogo Bonito schon bei diesem harmlosen Zwischenergebnis beschämen musste. Folgerichtig dauerte es nicht lang bis zum 2:0, das im Übrigen beispielhaft für das Gute und Schöne im deutschen Spiel stehen darf: Wie Kroos nach dem Zuspiel vom Flügel den Ball gegen den Gegner behauptet, obwohl er bei der Annahme stolpert und schlingert; wie Müller von außen in den Strafraum kreuzt; wie Kroos im richtigen Moment den Steilpass auf Müller schickt; wie Müller den Ball für Klose hinlegt, als ob er ihm einen Geschenkkarton mit Schleife überreicht. Wie Klose in aller Bescheidenheit sein Rekordtor schießt.

Die Macht der Emotionen war im Fall der Brasilianer eine selbstzerstörerische Macht. Foto: David Gray (Reuters)

Der immer höfliche Bundestrainer behauptete, nach dem 2:0 sei Brasilien „ein bisschen in Panik geraten“ und „ein bisschen auseinandergebrochen“. Herrliches Understatement. Julian Draxler, der später noch sein WM-Debüt feiern durfte, machte am Spielfeldrand die richtigen Beobachtungen: „Ich glaube, schon nach dem 2:0 hatten die Brasilianer in den Köpfen, wie sie das Ding heil überstehen können.“ Mit anderen Worten: Die Brasilianer hatten Angst, riesengroße Angst. Draxler erzählte: „Sie hatten einen Riesendruck auf den Schultern und haben es mental nicht geschafft ruhig weiterzuspielen, und dann war Deutschland vielleicht auch der falsche Gegner – wir haben das gnadenlos ausgenutzt und einfach nicht aufgehört.“

»Man weiß nicht, in welcher Gefühlswelt man da ist. Einerseits im Freudentaumel, andererseits im So-Weiter-Machen.«
Thomas Müller

Zwei Extreme kamen in diesen Minuten zur Geltung. Bei den Brasilianern war es die Macht der Emotionen – in diesem Fall eine selbstzerstörerische Macht. Und bei den Deutschen war es die Gegenwart von Vernunft und Zielbewusstsein. Oder weniger spirituell: Professionalität. Sie führten 2:0 und schon bald rannten sie wieder drauflos, um gleich noch ein wenig Kaminholz nachzulegen. Kroos traf zum 3:0, dann knöpfte er Fernandinho umgehend nach dem Anstoß den Ball ab, lenkte ihn weiter und stand zwei Passagen später bereit, um ihn mit links ins Toreck zu befördern, was ihm präzise gelang. Dieses 4:0 hat dann auch die mutmaßlichen Gewinner ein bisschen irritiert, wie Müller mitteilte: „Man weiß nicht, in welcher Gefühlswelt man da ist. Einerseits im Freudentaumel, andererseits im So-Weiter-Machen.“

Auf der Ersatzbank artete das Jubeln mittlerweile in Arbeit aus, ständig musste die Besatzung aufspringen, als wäre der Alarmknopf gedrückt worden, aber es stellte sich auch die Frage, wie man den Einzug ins WM-Finale bejubelt und trotzdem pietätvoll bleibt. Es ging darum, im Sieg Größe zu zeigen, was nach Draxlers Ansicht auch vorbildlich gelang: „Wir haben uns natürlich über jedes Tor gefreut, aber dass wir den Respekt vor dem Publikum behalten haben, das muss man uns hoch anrechnen.“ Auf dem Platz bemühten sie sich nun um eine seriöse Abwicklung der Partie. Man wollte es mit dem Toreschießen nicht übertreiben („wir wollten alles, nur nicht den Gegner verarschen und lächerlich machen“, sagte Höwedes), man wollte aber auch nicht zulassen, dass noch ein zweites Wunder passieren könnte. „Nicht mal das 1:5“ durfte fallen, erklärte Hummels.

Am Ende gab es Applaus vom brasilianischen Publikum, das die Fairness des Siegers anerkannte. Doch nicht alle Spieler waren zufrieden. Sie fühlten sich irgendwie ums Vergnügen gebracht. Das Frankreich-Spiel sei spannender gewesen, moserte Christoph Kramer: „Die Freude war nicht vergleichbar.“ So richtig langweilig war der Abend aber trotzdem nicht.

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Das Finale

»Ich glaube, ganz Deutschland ist stolz auf uns. Das kann man nicht in Worte fassen. Jetzt feiern wir, bis es nicht mehr geht.«
Jérôme Boateng

»Wir werden immer wieder mit einem Lächeln aufwachen.«
Manuel Neuer

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Konzeption

Fabian Heckenberger, Thomas Salter

Redaktion

Claudio Catuogno, Christof Kneer, Martin Schneider,
Philipp Selldorf, Benedikt Warmbrunn

Projektmanagement

Maximilian Salcher

Programmierung

Steffen Kühne

Design

Sophie Kaiser

Videoredaktion

Christian Jocher-Wiltschka, Johannes Schäfer

Bildredaktion

Paul Arne Wagner


Foto

Bildercollage: dpa (4), Reuters (11), AFP (19), ap (7), Getty (10)
Aufmacher Kapitel 4: Clive Rose (Getty)
Aufmacher Kapitel 6: Patrik Stollarz (AFP)

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Bildercollage: dpa-Audio