Was in den letzten Lebenstagen König Ludwigs II. vor sich ging, zählt gewiss zu den aufwühlendsten Ereignissen der bayerischen Geschichte. Das Drama endete mit dem Tod des Herrschers und seines Psychiaters Dr. Bernhard von Gudden, wobei die Hintergründe nie befriedigend aufgeklärt wurden.
Die Auswertung aller verfügbaren Akten und Berichte hat bislang kein klares Ergebnis gebracht. Das Todesereignis wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben, analog zu dem legendären Ausspruch Ludwigs II., den er 1876 an eine Schauspielerin gerichtet hat: „Ein ewig Rätsel will ich bleiben mir und anderen!“
Sicher ist nur, dass Ludwig II. und Gudden am Abend des 13. Juni 1886 leblos im Starnberger See gefunden wurden, der damals noch Würmsee hieß. Was davor geschah, ist nur mithilfe von sich widersprechenden Zeugenaussagen und Theorien zu erklären. Offiziell geht man davon aus, der König sei in suizidaler Absicht ertrunken. Bis heute halten sich aber auch Gerüchte, er sei womöglich ermordet worden.
Franz Herzog von Bayern, der Chef des Hauses Wittelsbach, widerspricht der Mordtheorie aber entschieden: „Ich habe überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür, dass er ermordet worden ist.“ Dass sich im Archiv des Hauses Wittelsbach Akten befänden, die den Mord belegten, sei eine „Legende“.
Neue Spekulationen hat nun ein Schreiben genährt, das im vergangenen Sommer an die Öffentlichkeit gelangt ist. Es handelt sich um den letzten Brief, den Ludwig II. verfasst hat, am 10. Juni 1886, drei Tage vor seinem mysteriösen Tod im Starnberger See. Dieser Brief belegt zweifelsfrei, dass der König zu diesem Zeitpunkt die Ankunft einer Staatskommission, die ihm seine Entmündigung mitteilen sollte, klar erkannt hatte.
Der Inhalt widerlegt damit die von Dr. Gudden und dessen Kollegen vertretene Annahme, Ludwig sei paranoid gewesen.
Umso näher liegt es, die Ereignisse der letzten Tage im Leben Ludwigs II. noch einmal näher zu betrachten.
Donnerstag, 10. Juni
Ludwig II. weilt auf Schloss Neuschwanstein, noch nicht ahnend, was in Kürze auf ihn zukommen wird. Im benachbarten Schloss Hohenschwangau ist um Mitternacht eine Staatskommission eingetroffen, die den König arretieren soll. Ein Kutscher eilt zu ihm und warnt ihn. Ludwig II. reagiert nervös und fordert aus Füssen Gendarmen an. Gegen vier Uhr morgens begibt sich die Staatskommission nach Neuschwanstein, den Brief des Prinzen Luitpold mit sich führend, der den König von der „höchst betrübenden Tatsache“ unterrichten soll, dass er „durch übereinstimmende Gutachten . . . an der weiteren Ausübung der Regierungsrechte behindert“ sei und dass er, Luitpold, „die schmerzliche Pflicht zu erfüllen habe, „provisorisch die Zügel der Regierung“ zu ergreifen.
Die Wache verwehrt der Kommission den Zugang zum Schloss. Wachtmeister Boppeler rät Ludwig zur Flucht nach Tirol. Ludwig lehnt dies ab. Immer mehr Menschen finden sich im Schloss ein, die Stimmung ist angespannt, die Kommission zieht sich wieder nach Hohenschwangau zurück.
Der damalige bayerische Außenminister Friedrich Krafft von Crailsheim telegrafiert um 5.30 Uhr an den Ministerpräsidenten Freiherrn von Lutz und berichtet ihm von der gescheiterten Inverwahrnahme des Königs. Ludwig unterzeichnet einen Haftbefehl gegen die Mitglieder der Kommission. Kurz danach wird Crailsheim zusammen mit anderen Mitgliedern der Staatskommission verhaftet.
Die Situation ist prekär, es geht um Hochverrat, es drohen Unruhen. Am Morgen wird die Regentschaftsproklamation von Luitpold veröffentlicht und per Telegramm in allen bayerischen Städten verteilt. Der Schriftsteller Frank Wedekind notiert in einem Brief: „Man erwartete allgemein, der König werde seinen Wächtern entfliehen und nach München kommen, wo er jedenfalls mit lautem Jubel empfangen worden wäre . . .“
Die Nachricht von der Übernahme der Regentschaft durch Prinz Luitpold verschärft im Land eine feindselige Stimmung gegen Luitpold und sein Ministerium. Minister von Crailsheim befiehlt dem Telegrafisten Brummer, alle Depeschen und Telegramme des Königs nach München umzuleiten und keine Nachrichten mehr an ihn weiterzuleiten. Brummer ist verunsichert, aber Ludwig II. ist damit zunächst von allen Informationswegen abgeschnitten.
Mittags trifft die Regentschaftserklärung in Hohenschwangau ein. Nach einigen Stunden Gefangenschaft wird die Kommission freigelassen, ohne Wissen des Königs. Die Kommission kehrt nach dem peinlichen Fehlschlag betroffen nach München zurück. Der dem König treu ergebene Graf Dürckheim weilt beim König. Der fragt: „Was beabsichtigt man mit mir? Man kann mich doch nicht als einen Wahnsinnigen behandeln.“ Dürckheim schlägt vor, sofort nach München zu fahren und sich dem Volk zu zeigen.
Ludwig lehnt es ab. Auch eine Flucht nach Tirol kommt für ihn nicht in Frage. Er wirkt wie gelähmt, zu keinem Entschluss mehr fähig. Er schreibt den denkwürdigen Brief an seinen Cousin, Prinz Ludwig Ferdinand: „Denke Dir was Unerhörtes heute geschehen ist! Diese Nacht kam eilends einer vom Stallgebäude herauf u. meldete, es wären mehrere Menschen (darunter horribile dictu) ein Minister und eine meiner Hofchargen in aller Stille angekommen, . . . u. wollten mich zwingen nach Linderhof zu fahren, offenbar u. mich dort gefangen zu halten u. . . . Abdankung zu ertrotzen, kurz eine schändliche Verschwörung!“
Weil seine Kommunikationswege abgeschnitten sind, sendet er über das österreichische Reutte Telegramme, unter anderem an Bismarck. Dessen Rat, er möge sofort nach München fahren und sich zeigen, erreicht ihn vermutlich nicht mehr.
23 Uhr, Krisensitzung in München. Der Ministerrat beschließt, Ludwig nicht mehr nach Linderhof zu bringen, sondern nach Schloss Berg am Würmsee.
Der in Hohenschwangau diensthabende Telegrafist Brummer ist telegrafisch über die Regentschaft informiert und hat den Befehl, alle Depeschen an König Ludwig nun Crailsheim vorzulegen. Brummer gerät aufgrund der unklaren Lage in einen Loyalitätskonflikt. Wegen seiner erkennbaren Verunsicherung wird er von einem ranghöheren Expeditor aus München abgelöst.
Im Laufe des Nachmittags ändert sich die Lage. Was für die Schwangauer Bevölkerung zunächst nach Putsch und Staatsstreich ausgesehen hat, bekommt nun durch telegrafische Weisungen aus München juristische Legitimation.
Freitag, 11. Juni
Minister Crailsheim sperrt von 2.30 Uhr an alle Telegrafenstationen in Oberbayern und Schwaben für den König. Ludwig ist damit nun völlig von der Außenwelt isoliert. Der Journalist Anton Memminger notiert, die Hohenschwangauer Bevölkerung schmiede Befreiungspläne. Ludwig winkt ab: „Um meinetwegen soll kein Blut vergossen werden.“ Der König ist verzweifelt. Er begreift nicht, dass sein Blutsverwandter Luitpold und die Regierung sich erdreisten, ihn für verrückt zu erklären und einsperren zu wollen. Er hat große Angst vor einem ähnlichen Schicksal, wie es sein geisteskranker Bruder in Schloss Fürstenried erleidet, er will nicht eingesperrt und geschlagen werden. Er äußert Selbstmordabsichten. Immer wieder fordert er die Lakaien auf, ihm Gift zu besorgen.
Regierungskommissare belehren den Gemeindeausschuss von Hohenschwangau, die Bevölkerung habe Ruhe und Ordnung zu bewahren, die Regentschaftsübernahme sei gesetzmäßig. Wer bei der Festsetzung des Königs Widerstand leiste, habe mit schwerster Strafe zu rechnen.
Die zweite Fangkommission reist nachmittags aus München ab. Die Bevölkerung reagiert aufgewühlt. Dem König wird der Wunsch nach einem Spaziergang verwehrt. Man hat Sorge, er könne versuchen, sich vom Turm oder irgendwo anders in die Tiefe zu stürzen. Ludwig kann sich nicht damit abfinden, dass man ihn für geisteskrank erklären will. Sein Flügeladjutant Graf Dürckheim kommt in München in Untersuchungshaft, ihm droht ein Verfahren wegen Landes- und Hochverrats. Dürckheim besteht darauf, er habe als Flügeladjutant korrekt gehandelt.
Um Mitternacht trifft die zweite Fangkommission unter der Leitung von Dr. Gudden in Neuschwanstein ein. Ein Major empfängt sie mit den Worten: „Der König befindet sich in einem sehr erregten Zustand, und wir befürchten, dass er versucht sich umzubringen.“
Samstag, 12. Juni
Die Darstellungen über die Festsetzung Ludwigs II. im Schloss Neuschwanstein gehen weit auseinander. Es ist unklar, was wirklich vor sich ging. Als ihn die Pfleger ergreifen, setzt er sich wohl nicht zur Wehr. Immer wieder sagt er: „Ja was wollen Sie denn?“ Der Arzt von Gudden tritt vor und verkündet: „Majestät, es ist die traurigste Aufgabe meines Lebens, die ich übernommen habe; Majestät sind von vier Irrenärzten begutachtet worden, und nach deren Ausspruch hat Prinz Luitpold die Regentschaft übernommen. Ich habe den Befehl, Majestät nach Schloss Berg zu begleiten, und zwar noch in dieser Nacht.“
Der König taumelt. Er erkennt Gudden wieder, von einer lange zurückliegenden Audienz anno 1874. Ludwig sagt, es sei eine Verschwörung im Gange. Gudden hält ihm seine Geisteskrankheit vor.
Der an der Abholung beteiligte Assistenzarzt der Münchner Kreisirrenanstalt, Franz Carl Müller, schreibt die nächtliche Szene Wort für Wort mit:
Ludwig: „Wie können Sie mich für geisteskrank erklären, Sie haben mich ja gar nicht vorher angesehen und untersucht?“
Gudden: „Majestät, das war nicht notwendig; das Aktenmaterial ist sehr reichhaltig und vollkommen beweisend, es ist geradezu erdrückend.“
Ludwig: „So? So? Also Prinz Luitpold hat es jetzt glücklich so weit gebracht, dazu hätte er nicht so einen Aufwand von Schlauheit gebraucht, hätte er ein Wort gesagt, dann hätte ich die Regierung niedergelegt und wäre ins Ausland gezogen. Nun, wie lange wird die Kur wohl dauern?“
Gudden: „Majestät, in der Verfassung steht: wenn der Regent länger als ein Jahr durch irgend einen Grund an der Ausübung der Regierung gehindert ist, dann tritt die Regentschaft ein, also würde ein Jahr vorläufig der kürzeste Termin sein.“
Ludwig: „Nun, es wird wohl rascher gehen, man kann es ja machen wie mit dem Sultan, es ist ja leicht, einen Menschen aus der Welt zu schaffen.“
Gudden: „Majestät, darauf zu antworten, verbietet mir meine Ehre.“
Um vier Uhr morgens kommen die Wagen, der König wird abgeholt. In würdevoller Haltung verlässt Ludwig II. das Schloss Neuschwanstein. Es ist regnerisch. Im Schloss Berg am Würmsee werden Sicherheitsvorkehrungen gegen mögliche Flucht- und Selbstmordversuche getroffen. An den Türen werden die Klinken abgeschraubt, man kann sie nur von außen mit einem Dreikant öffnen. Die Fensterläden im Schlafzimmer werden verschlossen. In die Türen werden Gucklöcher eingesetzt, durch die man große Teile der Räume von außen einsehen kann. Pfleger sollen den König rund um die Uhr bewachen. Eine große Zahl von Menschen erwartet Ludwigs Ankunft.
Nach achtstündiger Fahrt für die ungefähr 100 Kilometer erreicht die Kutsche gegen 12.30 Uhr Berg. Ruhig und gefasst bezieht Ludwig seine Zimmer im 2. Stock. Zu einem Pfleger sagt er, es sei ihm sehr unangenehm, wenn da immer jemand hereinschaut, man kann sich ja nicht einmal waschen.
Gegen Abend erscheinen Polizeibeamte in Berg, der Schriftsteller Oskar Maria Graf protokolliert diese Stunden: „Ab heute ist es verboten, nach Einbruch der Dunkelheit die Straße zu betreten, Besuche zu machen oder sich in der Nähe der Schlossmauern sehen zu lassen.“ Die Bevölkerung murrt immer noch, man munkelt, König Ludwig solle insgeheim umgebracht werden wie ein Lump.
Gudden erstellt einen Therapieplan. Zu seinem Assistenzarzt Müller sagt Gudden, Ludwig sei wie ein Kind, eine Gefahr gehe von ihm nicht aus.
Sonntag, 13. Juni
Es regnet, es ist kalt, die Stimmung in der Bevölkerung ist erregt, auch in München. Ludwig redet in der Früh lange mit Dr. Gudden, glaubt, sein Onkel Luitpold werde von Verschwörern missbraucht. Ein Besuch der Pfingstmesse in Aufkirchen wird dem König verwehrt. Ganz in der Nähe, in Feldafing, logiert Kaiserin Elisabeth von Österreich, Ludwigs beste Freundin und Seelenverwandte. Sie könnte in Fluchtpläne eingeweiht sein.
Der preußische Diplomat Graf Eulenburg berichtet, „dass schon in der Nacht, als der König von Schwanstein nach Berg transportiert wurde, Komplotte zu seiner Befreiung geschmiedet worden sind“ und zwar auch „von der Kaiserin von Österreich“.
Prinzessin Therese von Bayern notiert im Tagebuch, dass Elisabeth „im Geheimen einen Befreiungsplan ins Werk gesetzt und hiervon den König verständigen hat lassen.“ Vor dem Tor des Schlossparks von Berg werden in der Todesnacht Wagenspuren entdeckt, sie werden Elisabeth zugeschrieben, möglicherweise sollte Ludwig diesen Wagen besteigen.
Ludwig II. spricht am Morgen in Schloss Berg von einem Komplott. Der Arzt Dr. Grashey kommt zu dem Urteil: „Für rettungslos halte ich den Zustand Seiner Majestät nicht.“
Nach einem gegen 16 Uhr aufgetragenen Abendessen brechen Ludwig II. und Dr. Gudden zwischen 18.30 und 18.45 Uhr zu einem Spaziergang auf. Sie legen gut 800 Meter auf dem Seeweg in südlicher Richtung zurück.
Etwa 15 Meter vom Seeufer entfernt und 18 Meter unterhalb der damals dort aufgestellten Ruhebank weicht der vorausgehende König unerwartet in Richtung See ab. Als Gudden dem König am Seeufer hinterher eilt, kommt er zu Sturz. Er rappelt sich auf und versucht ihn aufzuhalten. Trittspuren im lehmigen Grund des Sees weisen auf ein Gerangel hin. An seiner Leiche finden sich später Verletzungen, die er sich dabei zugezogen hat.
Im Schloss Berg herrscht helle Aufregung, weil die beiden Spaziergänger nicht zurückgekehrt sind. Gegen 22.30 Uhr werden der Hut und Kleidungsstücke des Königs am Ufer entdeckt.
Dr. Müller hält in seinen Aufzeichnungen fest, er habe mit dem Schlossverwalter und einem Fischer gegen 23 Uhr ein Boot bestiegen. „Wir waren noch nicht lange auf dem Wasser, da stieß Huber plötzlich einen Schrei aus und sprang ins Wasser; er umklammerte einen Körper, der auf dem Wasser daherschwamm, es war der König in Hemdsärmeln; ein paar Schritte hintendrein kam ein zweiter Körper – Gudden.“ Die stehen gebliebenen Uhren zeigen an, dass der Tod der beiden gegen 19 Uhr eingetreten ist.
Montag, 14. Juni
Am Tag nach Ludwigs Tod ist von Mord die Rede. Der Fischer Lidl, der Augenzeuge der Ermordung gewesen sein soll, dient als Hauptzeuge der Mordtheoretiker. Er trägt seine Erlebnisse und Beobachtungen fein säuberlich in ein Schulheft ein, das aber verschollen ist.
Bei der Obduktion von Ludwigs Leichnam in der Münchner Residenz sind laut Protokoll „nirgends Verletzungen an der Körperoberfläche, insbesondere keine Abschürfungen der Oberhaut am Halse oder Gesichte wahrnehmbar.“ Es finden sich auch keine Anhaltspunkte für Schuss-, Schlag- oder Stichwunden. Auf einen Tod durch Ertrinken weist vor allem die Lunge hin, allerdings zeigt der Befund, wie im Katalog der Landesausstellung von 2011 nachzulesen ist, ein unspezifisches Bild. Neben Suizid kommen auch ein Kreislaufkollaps und ein Herzinfarkt als Todesursache in Frage.
Stichhaltige Beweise für eine Ermordung Ludwigs II. gibt es nicht. Wilhelm Wöbking, der den Fall vor 30 Jahren in kriminologischer und juristischer Sicht umfassend untersucht hat, kommt zu dem Schluss, dass dem Tod Ludwigs II. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Verbrechen zugrunde liegt.
Für den Juristen Peter Gauweiler spielt es letztlich keine Rolle, ob Ludwigs Tod am Abend des 13. Juni 1886 bei einem Fluchtversuch geschah oder durch Selbstmord. „Die Minister haben ihn auf dem Gewissen. Wer den König gegen Recht und Gesetz verschleppen und einsperren lässt, trägt Mitschuld an dessen Tod bei der Flucht.“
Bausucht
Der Niedergang Ludwigs II. hat schon viele Jahre vor seinem Tod begonnen. Der König hatte sich seit dem Jahr 1875 nicht mehr in der Öffentlichkeit sehen lassen und sich auf seine Schlösser zurückgezogen. Seine repräsentativen Pflichten übernahmen sein Onkel Prinz Luitpold (1821-1912) und dessen Söhne, an die der König allerdings nur geringe Sympathien verschwendete.
Im Jahr 1885 schlitterte das Königreich Bayern in eine Staatskrise. Ludwig II. hatte wegen seiner Bausucht Schulden in Höhe von 14 Millionen Mark angehäuft, er stand vor dem Bankrott. Trotz wachsender Kritik an seinem Verhalten blieb Ludwig stur. Er bezeichnete das Bauen als seine Hauptlebensfreude und versuchte permanent neue Geldquellen anzuzapfen. Seine Schulden wurden auch für seine Verwandtschaft zur Belastung, der Thronfolger hatte nämlich die Schulden seines Vorgängers zu übernehmen. Das von Ludwig ernannte Ministerium unter dem Vorsitz von Johann von Lutz verhielt sich zunächst zurückhaltend.
Als die Spannungen wuchsen und Ludwig die Entlassung seiner Regierung erwog, verständigten sich die Minister und die Wittelsbacher Agnaten um Prinz Luitpold. In drei Ministerratssitzungen am 7., 8. und 9. Juni 1886 wurde über Entmündigung und Regentschaftseinsetzung beraten. Gerhard Immler, der Leiter des Geheimen Hausarchivs, hat die Protokolle der Ministerratsdiskussion analysiert und aufgezeigt, dass besonders Lutz und der Psychiater Gudden auf eine Entmündigung drängten und Alternativen wie etwa die freiwillige Abdankung verwarfen. Am 9. Juni lag Guddens (aus der Ferne erstelltes) Gutachten bezüglich einer Geisteskrankheit des Königs vor, das den Vorwand für dessen Entmündigung lieferte.
Ohne förmlichen Beschluss stellten die Minister die Regierungsunfähigkeit und die Entmündigung des Königs fest, Prinz Luitpold übernahm die Regentschaft. Eine Kommission wurde beauftragt, den König zu internieren.
Der rechtlose Herrscher
„Die Entfernung Ludwigs II. aus seinem Königsamt war unvermeidlich und notwendig“, bilanzierte der kürzlich gestorbene Historiker Rupert Hacker vor einigen Jahren die Königskrise von 1885/86. Der König habe durch sein Verhalten gezeigt, dass er seine Verpflichtung zur verantwortlichen Erfüllung seiner Herrscheraufgaben nicht mehr wahrnehmen wollte und konnte. Andererseits sei ihm durch die fahrlässige und unzutreffende „Verrückterklärung“ und seine demütigende Inhaftierung zweifellos großes Unrecht zugefügt worden, sagte Hacker. Die hauptsächliche Verantwortung trägt für ihn „der allzu selbstbewusste Psychiater Gudden mit seiner leichtfertigen Ferndiagnose, die den König fälschlich zum unheilbar Geisteskranken abstempelte, was seine Entmündigung und Inhaftierung nach sich zog.“
Der Jurist und frühere CSU-Politiker Peter Gauweiler beurteilt die Absetzung Ludwigs II. noch weitaus schärfer. „Was damals in Bayern stattfand, war ein Staatsstreich“, resümiert er. Die Minister hätten die Entmündigung des Königs vorangetrieben, um sich selber zu retten.
Für Gauweiler besteht kein Zweifel, dass die exekutiven Träger der Staatsaktion alles missachtet, gebeugt und gebrochen haben, was zu dieser Zeit – 1886 – im Deutschen Reich und im Königreich Bayern Recht war: die Civilprozessordnung von 1879 mit ihren schon ziemlich rechtsstaatlich verfassten Vorschriften für Entmündigungen (persönliche Untersuchung, rechtliches Gehör, gerichtliches Verfahren), die Bayerische Verfassung von 1818 („die Person des Königs ist heilig und unverletzbar“) und die Hausgesetze der Wittelsbacher, die für einen derartigen Fall die Einschaltung der Präsidenten des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Oberlandesgerichts vorgesehen hätten.
Weil das alles nicht geschah, stellt Gauweiler dem Ministerrat in der Entmündigungs-Sache Ludwig II. nach Maßstab des damals in Bayern geltenden Rechts ein vernichtendes Urteil aus. „Man muss betroffen feststellen, dass dem König in keiner Phase dieses Verfahrens irgendwelche der Rechte oder Verteidigungsmittel zugestanden wurden, die nach damaliger Rechtslage in Bayern im Entmündigungsverfahren für jedermann selbstverständlich waren.“
„Der von mir bezeichnete Weg der Abdankung wäre der schönere gewesen.“
Wie krank Ludwig II. wirklich war, darüber wurde in der Wissenschaft lange Zeit gerungen. Heute gehen die meisten Psychiater davon aus, dass Ludwig nicht an einer Geisteskrankheit im Sinne einer Psychose, also einer Paranoia oder Schizophrenie, gelitten hat. Für Hans Förstl, den Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der TU München, zeigte Ludwig die Merkmale einer schizotypen Störung. Viele Symptome aus dem Krankheitskatalog passen auf ihn: Ludwigs exzentrisches, oft gekünsteltes Verhalten, dass er sich zurückgezogen und sozial isoliert hat, sein Misstrauen, die Grübeleien und Ängste und die gelegentlich fragwürdigen Wahrnehmungen.
Der König war demnach psychisch gestört, aber nicht geisteskrank. Noch heute wirkt es erstaunlich, wie bedenkenlos weitreichende Entscheidungen über den König getroffen wurden, obwohl ihn der Chefgutachter Gudden nur einmal, nämlich zwölf Jahre zuvor, gesehen hatte. Die Mitgutachter hatten Ludwig nie zu Gesicht bekommen. Tatsächlich hat nie jemand aus der Politik, auch nicht Prinz Luitpold, um eine Audienz nachgesucht.
Ludwig hätte sie nicht verweigert, glaubte Hacker, denn er sei ernsthaften Argumenten meist zugänglich gewesen. Den Ministern und dem Prinzen Luitpold ist anzukreiden, dass sie es unterlassen haben, dem König im persönlichen Gespräch den Ernst der Lage klarzumachen. Überdies haben sie es versäumt, sich in persönlichen Kontakten eine Vorstellung von dessen Gesundheitszustand zu verschaffen. Dann hätte vielleicht auch der Versuch, den König zur Abdankung zu veranlassen, eine Chance gehabt.
Der integre Freiherr von Franckenstein hatte dies mehrmals vorgeschlagen. Er war überzeugt davon, der König sei nicht geisteskrank, aber regierungsunfähig. Einen Tag vor Ludwigs Tod schrieb er in einem Brief am 12. Juni 1886: „Die Sache ist recht traurig. Der König musste von der Regierung entfernt werden. Der von mir bezeichnete Weg der Abdankung wäre der schönere gewesen.“
Welche Motive steckten wirklich hinter dem „Staatsstreich“? Ministerpräsident Johann von Lutz, der maßgeblich am Sturz Ludwigs II. beteiligt war und Guddens Gutachten über den Geisteszustand in Auftrag gab, erklärte in seiner Rechtfertigungsrede vor der Abgeordnetenkammer am 26. Juni 1886: Das Motiv für das Vorgehen der Minister sei „königstreuer, opfermutiger Patriotismus“ gewesen.
Das ist nicht die ganze Wahrheit. Lutz und dem Ministerrat ging es um den Erhalt ihrer Machtstellung. Dass der ehrgeizlose Prinz Luitpold aus Pflichtgefühl dem Vorgehen der Minister und der Übernahme der Regentschaft zugestimmt hat, ist offensichtlich. Die Bevölkerung nahm es ihm übel:
Luitpold wurde lange Zeit als Verräter verachtet.
Ein Hilferuf
Wer geglaubt hat, nun sei alles über das Leben und Sterben des sogenannten Märchenkönigs gesagt und das Interesse an diesem Mythos werde abflauen, muss sich getäuscht sehen. Ludwig II. produziert nach wie vor Schlagzeilen, zuletzt im Sommer 2016 durch das Auftauchen seines letzten Briefs an Prinz Ludwig Ferdinand, den er kurz vor seinem Tod verfasst hatte.
Unter anderem heißt es darin: „Hättest Du so etwas für möglich! gehalten. Schon früher schrieb ich Dir daß ich über absichtlich mit Geld herumgestreute Gerüchte über mich (angebliche Krankheit) an der nicht eine Sylbe wahr ist p) gehört habe. Es ist zu arg. Es muß Licht in diesen Abgrund von Bosheit kommen!“
Insgesamt ist Ludwigs Leben gänzlich ausgeleuchtet, doch die große Biografie ist noch nicht geschrieben. Ansonsten gibt es Literatur zuhauf. Eine fundierte Grundlage bietet der Katalog der Landesausstellung von 2011, gute Einführungen liefern die Übersichtswerke von Rumschöttel, Hilmes, Spangenberg sowie Endl/Reichold. Empfehlenswert ist die Biografie von Ludwig Hüttl (1986). Unabdingbar für Ludwig II.-Interessenten ist das Buch des Arztes Franz Carl Müller aus dem Jahr 1888: „Die letzten Tage König Ludwig II. von Bayern nach eigenen Erlebnissen geschildert.“
Zuletzt legten Alfons Schweiggert und Erich Adami ein minutiöses Protokoll der letzten Tage Ludwigs II. vor – nach Auswertung aller bekannten Quellen. Zu wenig beachtet wurde bislang der erhellende Aufsatz von Johannes Willers über die Rolle von Post und Telegraph bei der Entmachtung des Königs (Archiv f. Postgeschichte in Bayern, 1986).