Buch Zwei

Bleib bei mir

Die Diagnose: Kehlkopfkrebs. Wie Friedhelm Blum um sein Leben kämpft.

Fotos und Protokoll: Matthias Ferdinand Döring

Bleib bei mir: diesen Satz hört Friedhelm Blum, 69, immer wieder von seiner Frau. Die muss zusehen, wie ihr Mann dünner und dünner wird. Zum Arzt will er trotzdem nicht. Darüber reden auch nicht. Nicht mal mit Ingeliese. Erst als er kaum noch Luft bekommt, lässt er sich untersuchen. Er verliert seine Stimme und beginnt, über seine Krankheit zu sprechen – eine Geschichte in Bildern.

Ungewissheit

Obwohl ich seit einem halben Jahr kaum noch schlucken kann und stark abgenommen habe, war ich seit zwei Jahren nicht mehr beim Arzt. 2009, als ich noch als Bankkaufmann gearbeitet habe, haben sie bei mir Tumorzellen auf den Stimmbändern entdeckt. In der Uni-Klinik, in der ich deswegen behandelt wurde, war ich nur eine Nummer. Jedes Mal hat ein anderer Arzt an mir rumgeschnibbelt. Als ich mal von einem Professor wissen wollte, was ich genau habe, hat er mich vor seinen 20 Leuten bei der Visite ausgelacht. Geantwortet hat er mir nicht. Deswegen wollte ich dort nicht mehr hin.

Gegen ärztlichen Rat

Die Ärzte haben mir gesagt, ich solle aufhören zu rauchen. Als ob das so einfach wäre, nach 50 Jahren. Dabei habe ich nie viel geraucht. Eine Zigarette ist für mich ein Genuss. Sie gehört für mich zum Leben, so wie andere gerne Kaffee trinken. Weil ich nachts oft stark husten muss, schlafe ich seit Monaten im Zimmer nebenan. So kann wenigstens meine Frau Ingeliese halbwegs schlafen. Um meine Familie nicht zu belasten, rede ich nicht gerne darüber, wie es mir geht. Meine Frau hat aufgehört, mich zu fragen. Ich selbst ignoriere meine Krankheit so gut es geht.

Atemnot

Vor Kurzem habe ich mich beim Arbeiten im Wald am Bein leicht verletzt. Wenig später bekam ich rosarote Flecken, die sich auch noch entzündeten, am Bein, auf dem Rücken, der Nase, an den unmöglichsten Stellen. Die Atemnot wurde zur selben Zeit auch immer schlimmer. Eine Freundin hat mir einen HNO-Arzt empfohlen. Weil es mir so schlecht ging, bin ich dann zu diesem Arzt. Da habe ich zum ersten Mal Ingeliese mitgenommen. Die Ärztin hat eine Gewebeprobe veranlasst.

Der Eingriff dauert eine halbe Stunde in Vollnarkose.

Diagnose

Meine Enkelin Lisa und ihre Freunde beten im Jugendhauskreis für mich. Denn das Ergebnis der Gewebeprobe ist da: Krebs. Meine Frau hat seit Jahren befürchtet, dass ich Krebs habe. Für mich ist die Diagnose eine Überraschung, obwohl ich es irgendwie geahnt habe. Die Ärzte haben mir gesagt, wenn ich leben will, muss mein Kehlkopf raus. Ich weiß noch nicht, ob ich mich operieren lassen will, denn auch meine Stimmbänder würden entfernt. Ich wäre stimmlos.

Die Operation

Ich habe mich für die Operation entschieden. Die letzten Stunden vor der OP möchte ich alleine sein. Ich schicke meine Familie nach Hause. Fünf Stunden dauert die Operation. Zum Freilegen und Herausschneiden des Kehlkopfes sind drei Ärzte nötig. Alles verläuft gut. Nach dem Eingriff werde ich künstlich ernährt. In der ersten Woche kann ich nur mit Stift und Papier kommunizieren. Die anderen beklagen sich, dass meine Handschrift so schwer zu lesen sei, meine Tochter bringt mir deshalb einen Laptop mit. Wann und ob ich je wieder mit der neuen Sprechkanüle sprechen kann, liegt in Gottes Hand.

Dankgottesdienst

Nach der Operation habe ich mich schneller erholt als erwartet. Schon nach zehn Tagen kann ich wieder essen, trinken und etwas sprechen. Bei anderen Patienten dauert das oft zwei bis drei Monate. Ingeliese und ich wollen zusammen einen Dankgottesdienst feiern. Als wir in die Krankenhauskapelle kommen, ist kein Mensch da, nicht mal der versprochene Pastor. Meine Frau amüsiert sich darüber. Sie lässt mich fast vergessen, dass ich noch im Krankenhaus bin.

Holz machen

16 Tage nach der Operation darf ich wieder nach Hause. Die Atemnot und die Hustenanfälle sind weg. Die anderen sagen, ich wäre wieder ganz der Alte. In einer Whatsapp-Gruppe hält Ingeliese den engsten Kreis unserer Familie, mehr als 20 Leute, über meine Genesung auf dem Laufenden. Mit meinem ältesten Sohn fahre ich zum Holzmachen in den Wald. Ich will das Leben wieder anpacken!

Familientreffen

Meine zehn Enkel sind oft bei uns zu Besuch. Nach meiner Rückkehr aus dem Krankenhaus freue ich mich besonders, wenn alle zusammenkommen. Das mit dem Sprechen klappt inzwischen besser. Wenn ich etwas sagen will und ich mit einer Hand auf das Ventil drücke, können mich meine Enkel mittlerweile schon verstehen. Meine Stimme klingt jetzt sehr kratzig und tief. Ich sage ihnen immer wieder, wie sehr ich mich freue, dass sie da sind. 

Bestrahlung

Die Ärzte raten mir nach der OP zur Bestrahlung – eineinhalb Monate, fünf Mal in der Woche, jeweils zehn Minuten. Ich kann nichts mehr schmecken, nicht mehr riechen, bin nur noch schlapp. Nach drei Wochen will ich abbrechen. Meine Ärztin sagt, das wäre das Blödeste überhaupt, was ich tun könnte.

Durchhalten

Ingeliese ermutigt mich weiterzumachen. Die Bestrahlung strengt mich so an, dass ich mich tagsüber oft hinlegen muss. Wie lange noch? In meinem Kalender zähle ich die Tage, bis es vorbei ist. Hoffentlich kann ich dann auch wieder Motorrad fahren. Wenn mich das Sprechen zu sehr anstrengt, schreibe ich auf, was ich sagen will. Spiegel, Pinzette, Inhaliergerät, Pflaster, Taschentücher, Salbeitee und Wundsalbe sind fester Bestandteil meines Alltags geworden. Besonders am Anfang hilft mir Ingeliese bei der Pflege der Luftröhrenöffnung. Ich muss sie jeden Tag reinigen.

Ablenkung

Mein Hals schmerzt von der Bestrahlung. Am Wochenende, wenn ich nicht zur Behandlung muss, geht es mir besonders schlecht. Die Strahlenbelastung wirkt noch nach. Um mich abzulenken, restauriere ich einen alten Fiat 500. Mit so einem Modell habe ich Ingeliese und die Straßen für mich erobert. Auf die erste gemeinsame Fahrt freue ich mich jetzt schon.

Endlich Schluss

Am Abend meiner letzten Bestrahlung überrascht mich meine Familie mit einer kleinen Feier. Meine Enkel machen Quatsch mit meiner Bestrahlungsmaske.

Geburtstag

Mein 68. Geburtstag. Mit Ingeliese war ich zur Reha in einem Stimmheilzentrum. Ich habe lange gebraucht, um mich von der Bestrahlung zu erholen.

Kontrolle

Heute ist die OP genau ein Jahr her. Bislang sieht alles gut aus. Alle drei Monate muss ich zur Kontrolle. Meine Frau und ich haben meine Ärztin sehr ins Herz geschlossen. Sie sieht den Menschen, nicht den Patienten.

Kraftakt

Ich fühle mich wieder fit, wie früher. Meine Frau befürchtet manchmal, dass ich wieder mit dem Rauchen anfange. Die Lust war bei mir lange noch da, aber es geht nicht mehr. Alles in allem hat uns die Krankheit näher zusammengebracht. Dass ich noch leben darf, dafür danke ich Gott. Ich habe jetzt sogar mehr Narrenfreiheit. Ingeliese sagt immer: Hauptsache, du bleibst bei mir.

 

Der Fotograf, Matthias Döring, 35, über sein Projekt:

Das Besondere an der Geschichte ist für mich, dass ich Friedhelm und Ingeliese schon vor der Krebsdiagnose mit der Kamera begleitet habe. Und dass die ganze Familie mich so nah rangelassen hat. Geholfen hat mir bei der Arbeit, dass ich auch eine Ausbildung als Krankenpfleger habe. So konnte ich die medizinische Seite, aber auch das menschliche Drama besser verstehen, zum Beispiel das Schweigen in der Familie. Anfangs redete kaum einer über Friedhelms Krankheit, erst nach der geglückten Operation.

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