Abgeschoben

Mit Flug IG 2080 kehrten 26 abgelehnte Asylbewerber nach Afghanistan zurück. In welchem Leben sind sie gelandet? Eine Spurensuche in Kabul

Von Tomas Avenarius, Bernd Kastner und Jan Heidtmann. Fotos: Sandra Calligaro

Vier Abschiebeflüge in vier Monaten, alle mit einem Ziel: Kabul. Eine der Maschinen startet Ende Januar in München, mit 26 abgelehnten Asylbewerbern an Bord. Die Boeing bringt die jungen Männer nach Hause. Doch in welcher Heimat landen die Passagiere da eigentlich? Eine Spurensuche in Afghanistan.

Irgendwann ziehen sie die Plastikkarten aus der Brieftasche. Sie legen sie im Lokal vor sich auf den Tisch, zwischen die Gläser und Teller. Sie reihen sie zu Hause auf dem Teppich auf, vor ihren Füßen. Sie haben die Karten ja alle behalten: Die rote von der Sparkasse-Nürnberg oder Würzburg, die grüne von der AOK-Bayern, die bläulich-gestrichelte von der Stadtteil-Leihbücherei, die blass-graue vom regionalen Verkehrsverbund. So viele Karten. So bescheidene Statussymbole. So wertlos. 

Die Plastikkärtchen waren der Beweis, angekommen zu sein, etwas darzustellen, dazuzuzugehören. Und dann: abgeschoben. Vom Jetzt und Hier ins Kabuler Nirgendwo. Zwei, drei, fünf Lebensjahre verloren, Tausende von Dollar Schulden, bei der Familie, dem Nachbarn, dem Geldwechsler. Zurück auf Null.  

Dahin gebracht hat sie eine italienische Fluggesellschaft. Die Meridiana-Flugzeuge fliegen üblicherweise Touristen in den Urlaub, auf die Kapverden zum Beispiel, nach Brasilien oder Kuba. Doch der Flug IG 2080, der am 23. Januar um 21:11 Uhr in Frankfurt abhob, hatte nichts mit Urlaub zu tun. Er war kein Versprechen für die Passagiere, sondern eine Katastrophe. 26 Afghanen saßen an Bord der Boeing 767-300, dazu noch einmal doppelt so viele Beamte der Bundespolizei und drei Mitarbeiter von einer Menschenrechtsorganisationen; um 7:10 Uhr Ortszeit landete die gecharterte Maschine in Kabul.

Seitdem hat es noch zwei weitere Flüge gegeben. Der Bundesinnenminister und einige Landesregierungen wollen damit seit Dezember Härte in der Flüchtlingspolitik demonstrieren. Doch will man Genaueres über die Betroffenen erfahren, mauern die Behörden. Ein Flüchtlingshelfer sprach von den Flügen als „Black Box“.  

SZ-Grafik

Wochenlang haben SZ-Redakteure in Deutschland und Afghanistan recherchiert, bis sie die Namen der Abgeschobenen und die meisten ihrer Schicksale zusammen hatten. Es sind junge Männer, mit verwirrenden Geschichten, selten schlüssig, immer traurig. Es sind auch deutsche Geschichten, deutsche Leben. Um sie zu schützen, wurden sie für diese Geschichte anonymisiert.

Samadi

So wie Hussain Ali Samadi aus Würzburg. Er geht am Kabul-Fluss entlang, allein, verloren. 24 Jahre alt, er trägt Jeans zur Fleecejacke. Samadi ist keiner, der sich vordrängt, der immer alles haben will. Aber er ist durchaus einer, der etwas abhaben möchte. Früh im Überlebenskampf erzogen, ist er doch arglos geblieben. Er hat sich zwei Tage vor seiner Abschiebung in Frankfurt taufen lassen, in der Hoffnung, das würde ihn retten. Aber die Kirche, bei der er dafür war, ist keine richtige Kirche, die ganze Taufe war umsonst.

Samadi steht am Kabul-Fluss herum, er beobachtet die Bettler vor den Basar-Arkaden, zusammengesackt und halb verhungert, im Rücken die verfilzten Schaffelle der Karakul-Händler und den Stoff der Uniformenschneider. Händler wuseln um die aufgehaltenen Hände herum, Tagelöhner fädeln ihre Karren zwischen Autos hindurch. Taubenschwärme flattern auf, flattern nieder, picken Körner vom Asphalt. Wer Geld hat, kauft eine Handvoll Futter. Es bringt Glück, wenn die Tauben glücklich sind.

Afghanistan, vier Jahrzehnte lang berüchtigt als Kriegsgebiet, Terrorbühne und politisches Jammertal, plötzlich gilt es als irgendwie halbwegs sicheres Herkunftsland. Seit Dezember schiebt Berlin vermehrt Afghanen ab. Der Umgang mit Flüchtlingen wird härter in Deutschland, der Wahlkampf hat begonnen, das Wort Willkommenskultur hat bei Teilen der Bevölkerung seinen Reiz verloren. Wer nach den Abgeschobenen sucht, speziell nach denen, die am 23. Januar im Flug von Frankfurt nach Kabul saßen, der findet ein, zwei Handvoll junger Männer, verunsichert, mit verwirrenden Geschichten, die selten schlüssig sind und immer traurig.

Es sind jetzt auch deutsche Geschichten, deutsche Leben. In Samadis Leben etwa läuft seit gut zehn Wochen so ziemlich alles falsch. Der 22. Januar, es war kalt in Würzburg, die Polizisten kamen morgens um fünf in die Asylunterkunft in der Veitshöchheimer Straße 100, der junge Afghane hatte tief geschlafen. Nur ein paar Sachen durfte er packen, dann war Abmarsch, Zeit für Fragen blieb ihm keine. Eine Nacht in Haft, eine Nacht im Flugzeug, mit 25 anderen Abschiebekandidaten. Die heikelste Phase jeder Abschiebung sind die Stunden vor dem Abflug: Jeder Flüchtling hat zwei Polizisten an seiner Seite, Uniform, Mütze, Stiefel, Handschuhe, Handschellen für den Fall der Fälle. Sie lassen ihn keinen Moment aus den Augen. Keiner soll sich etwas antun, keiner sich wehren, keiner Aufsehen erregen können.

Flug IG 2080 selbst war Routine. Jedenfalls für die Polizisten, den Dolmetscher, die Ärzte sowie die Vertreter der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter, die oft bei diesen Flügen dabei sind. Auch auf dem Flug hatte Samadi links und rechts von sich einen Beamten, wie alle Flüchtlinge. Sie waren nicht unfreundlich, die deutschen Polizisten: „Wir haben uns ein bisschen unterhalten“, sagt er – Samadi kann mit fast jedem.

Seit die Boeing 767 der Charterfluggesellschaft Meridiana in Kabul auf der Rollbahn aufsetzte, gilt: Kein Schritt führt für Samadi nach vorn, keiner führt zurück. Dazu hat er Angst, dass einer dahinterkommt, die Familie, die Freunde, der Clan. Dass er aus Deutschland abgeschoben wurde, war nicht vorgesehen. Dass er wieder da ist, darf niemand wissen. Dass er bei den Deutschen Christ geworden ist, auch nicht. Um keinen Preis.  


Taubenschwärme flattern auf, lassen sich wieder sinken, picken Körner vom Asphalt. Wer Geld hat, kauft eine Handvoll Futter. Es bringt Glück, wenn die Tauben glücklich sind. Samadi hat kaum noch Geld, er trägt im Portemonnaie seine wertlosen Plastikkarten herum. So wie er auch seine Lohnabrechnungen aufhebt, vom Asia-Imbiss Moschmi in Würzburg in der Kaiserstraße 5. Ein Jahr Spüler, danach Nudelkoch. Nudelkoch – er erzählt das mit einer Ernsthaftigkeit, als habe er den Imbiss selbst geführt. Noch etwas ist ihm wichtig: „Ich habe alles selbst bezahlt, Steuern, AOK, mein Essen, meine Wohnung.“

Würzburg liegt gut zehn Wochen zurück. Jetzt also Kabul. Samadi sieht die drei Jeeps im Bazar, sie ruckeln an den Ladenreihen vorbei, bleiben im Stau stecken, auch für sie gibt es kein Vor und kein Zurück. Hinter den Scheiben Uniformen, Gewehre, die Stars-and-Stripes an der Schulter. Eine Patrouille, Amerikaner. Sie sind das Ziel für Autobomber, Selbstmordattentäter, Taliban. 

Samadi wird nervös, er schaut sich um, blickt ein weiteres Mal nach den Jeeps. Er geht jetzt schneller, lässt den Kabul-Fluss hinter sich liegen. Irgendwann kommt in Hang, er steigt hinauf. Oben auf dem Plateau breitet sich ein Friedhof aus, Kinder rennen zwischen den Gräber umher, ziehen Papierdrachen an Schnüren hinter sich her. Ausgemergelte Pferde scharren mit den Hufen, warten auf Touristen, die auch heute wieder nicht kommen.

Am Rand des Friedhofs liegt das Grabmal des letzten Königs von Afghanistan. Als Greis war Zahir Schah 2002 nach Kabul zurückgekehrt, nach 30 Jahren im Exil in Rom, Via Veneto, Cafe Greco, Fango-Massagen. Solange er regierte, herrschte Frieden im Land, kurz nachdem er 1977 gestürzt worden war, begann der Krieg. Als Zahir 2007 starb, war das Töten noch immer nicht vorbei. Nun liegt der König schon seit zehn Jahren unter dem schwarzem Marmor, und der Frieden lässt sich weiter bitten.  

Kabul im Blick: Samadi im Mausoleum des Königs.
Kabul im Blick: Samadi im Mausoleum des Königs.

Samadi blickt über die Stadt. Am Horizont die Berge, gewaltig und schneebedeckt. Davor die Überreste einer Architektur der Sechziger Jahre, viel rechter Winkel, Afghanistans Hauptstadt war einmal eine moderne Stadt. Kantige Gebäude an pfeilgeraden Straßen, dazwischen kreisrunden Plätze, wie mit dem Zirkel geschlagen. Ein strahlend weißer Ballon schwebt über der Stadt, späht mit Kameras nach Taliban und Terroristen. 

Samadi war nur vier Jahre in der Schule, aber sein Land kennt er. Er liest Kabuls Topographie wie ein Buch. Vom Bergrücken gegenüber ließ ein Warlord Raketen auf Wohnviertel regnen, über Tage, Wochen, Jahre. Derselbe Kriegsfürst, auch das weiß Samadi , sitzt heute in der Regierung, wie so viele Kriegsherren, die das Land 40 Jahre lang zerstört haben. Ein Land, ein Volk mit blutiger Geschichte. Hussain Ali Samadi ist wieder zu Hause.

„Bei der Ankunft am Flughafen haben sie uns gefilmt, im Fernsehen gezeigt. Jetzt sprechen einen wildfremde Leute auf der Straße an: Du warst doch in Deutschland. Du hast jetzt sicher ganz viel Geld?“ Die Ankunft in Kabul, es war das unfreiwillige, das beschämende Schaulaufen von Verlierern. Die Flüchtlinge hatten auf die große Zukunft gesetzt und waren mit leeren Händen zurückgekommen. Goodbye Germany.   

Gelandet in Kabul: die Abgeschobenen von Flug IG 2080.
Gelandet in Kabul: die Abgeschobenen von Flug IG 2080.

2011 flieht Samadi, er ist knapp 19. Iran, Türkei, Balkanroute. „Im LKW“, sagt er, und ganz nebenbei, als hätten Erschöpfung und Müdigkeit in diesen Wochen keine Rolle gespielt: „Ich bin auch sehr viel gelaufen.“ In Deutschland beantragt er Asyl, das Bundesamt lehnt 2012 ab, das Wunderland hat ihm auch sonst kein Angebot zu machen. Er solle zurück nach Afghanistan, er sei doch jung, ungebunden, arbeitsfähig.

Er tut, was abgelehnte Asylbewerber tun: Er klagt. Und tut dann, was abgelehnte Asylbewerber noch tun: Er wartet. Erst nach vier Jahren entscheidet der Richter – gegen ihn. Es sei „nicht anzunehmen, dass der junge Afghane keine Chance hätte, sich etwa als Tagelöhner zu verdingen“. Samadi ist unerwünscht. Rückflug, freiwillig oder mit Zwang, er wird das schon überleben.

Einer in Kabul, der viel mit Flüchtlingsgeschichten zu tun hat, sagt über die Abgeschobenen ganz nüchtern: „Rein rechtlich ist die Entscheidung zur Abschiebung in Ordnung.“ Das dürfe in den meisten Fällen stimmen, klingt aber doch so unterkühlt wie die Urteilstexte zu den Abschiebebescheiden, die dann sauber abgeheftet werden zwischen den mausgrauen Aktendeckeln des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. 

Rein rechtlich? Zwischen den Aktendeckeln liegen Leben. Vertane Chancen, kleine Tragödien, große Katastrophen. So wie das Leben von Samadi. Er und zwei Handvoll der Flüchtlinge von Flug IG 2080 sind immer noch in Kabul, von den anderen verliert sich die Spur.     

Zurück in Afghanistan. 2015 starben hier täglich 14 Menschen, im Durchschnitt. 2016 stieg die Zahl der Attentate in der Hauptstadt um 75 Prozent. Seit 2001, als die Amerikaner die Taliban stürzen, sollen fast 70.000 Menschen umgekommen sein. In diesem Land müssen sie nun überleben. 

Erfahren Sie, wie es Samadi und den anderen Passagieren von Flug IG 2080 erging - die ganze Reportage mit SZ Plus.

 Sie sind in kleineren Städten oder in Dörfern untergetaucht, einer soll wieder in Iran sein, auf dem Weg zurück nach Europa.  

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