Mein Kind und ihr

Eine Mutter verliert ihre Tochter durch einen Unfall. Eine Frage kriegt sie nicht mehr aus dem Kopf: Was ging in den Menschen vor, die gafften, filmten und alles ins Netz stellten?

Von Karin Steinberger

Sie steht jetzt manchmal an der Ampel und denkt sich, ein Schritt vor, oder ein Schritt zurück, könnte der Tod sein, oder das Leben, und bleibt dann doch einfach stehen.

Sie schaut jetzt manchmal Mädchen an, wie sie an die Straße herantänzeln, wie sie quatschen und kichern und so verdammt sicher sind, dass das Leben immer weitergeht. In ihr schreit alles, geht von der Straße weg, wenigstens ein kleines Stück. Autos können fliegen. Und lässt dann doch alle dort, wo sie sind.

Judith Machacek hat Augen, so blau, dass man sich nicht wundern würde, wenn Wolken darin herumsegeln würden. Sie sagt, es war der Winkel, der exakt richtige Winkel, der ihr Kind gefällt hat. Wie soll man ihn sonst erklären, den Unfall. Eine Autofahrerin verliert die Kontrolle, fährt gegen den linken Randstein, das Auto schraubt sich in die Luft, dreht sich gegen die Fahrtrichtung, fliegt über zwei Fahrbahnen hinweg auf die Fußgängerampel zu am rechten Randstein. 10.41 Uhr, Regen. Auf genau die Ampel, an der Leonie Machacek steht, 20 Jahre alt. Sie trägt die rote Daunenjacke, die die Tante ihr zu Weihnachten geschenkt hat.

Wie viele Millionen Kleinigkeiten müssen passen, um ihre Tochter in dieser Sekunde an dieser Stelle in diesem Winkel aus dem Leben zu kegeln?

Judith Machacek schlägt einen Ordner auf, „Unfall Leonie“ steht drauf. Es ist der Ordner ihrer Tochter Leonie Elaine Machacek, geboren am 1. April 1996, gestorben in der Nacht vom 28. Februar auf den 1. März 2017, um 4.49 Uhr nachts, kurz nachdem die Mutter zugestimmt hat, die Geräte abzuschalten. Sie hat in diesem Ordner alles gesammelt, was zur Abwicklung eines Lebens notwendig ist: Polizeibericht, Krankenhausbericht, Rückfragen der Versicherung, die Buchung der Tochter im Stayokay Hostel, Scheepmakersstraat 27.

Stay okay – wirklich wahr.

Als die Polizei endlich kam, war sie gerade unterwegs, Geschenke kaufen für Leonie

Und es sind Fotos in diesem Ordner, haufenweise Fotos, von Wildfremden gemacht, die ersten schon Minuten nachdem der hellblaue Citroën aus dem Himmel fiel an der Kreuzung Scheepmakersstraat und Schenkviaduct in Den Haag, und ihr Kind zwischen einen Mast und ein Eisengeländer geschleudert hat. Der tödliche Winkel. Ein paar verdammte Minuten.

Judith Machacek schaut sich die Fotos an, die sie aus dem Internet gefischt und ausgedruckt hat. Bilder der Indiskretion, die sich jeder Mensch auf dieser Welt herunterladen und speichern und ausdrucken und kommentieren kann. Man sieht Krankenwagen, Polizisten, Absperrbänder, die im Wind zappeln, und Männer, die dastehen, Hände in den Manteltaschen. Im Vordergrund wuseln Ärzte und Polizisten. „Da liegt meine Tochter“, sagt die Mutter.

Der Schal der Mutter an der Unfallstelle
Der Schal der Mutter an der Unfallstelle

Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken, was passiert wäre, wenn sie nur einen Schritt zurückgegangen wäre, oder vor, wenn sie im Hotel herumgetrödelt hätte. Warum diese Stadt, dieses Land? Warum so spät? Leonie, die morgens um halb neun schon quengelte, wann es endlich Frühstück gibt. Am nächsten Tag wäre sie zur Mutter gefahren, einen Tag früher als geplant, es war ihr zu kalt, zu nass, ihre älteste Tochter, die ihr so ähnlich war.

Es macht keinen Sinn, darüber nachzudenken, es macht einen nur verrückt.

Aber es macht Sinn zu fragen, was mit Menschen los ist, die Fotos verletzter oder sterbender oder toter Menschen in endloser Zahl bereithalten, oder Filmchen anpreisen, auf denen die letzte Sekunde zu sehen ist, Car Crash Compilations oder tödliche Unfälle, live aufgenommen, hunderttausendfach angeklickt und gelikt, Daumen hoch, Daumen runter – als ginge es um Schminktipps oder Tierbabyvideos.

Judith Machacek staunt jetzt manchmal, wie schamlos der Mensch sein kann. Und hört schon aus Trotz nicht auf, an die Menschen zu glauben.

Sie legt die Fotos auf den Tisch, wie Spielkarten, sie sucht ein Bild, findet ein anderes, das himmelblaue Auto auf der abgeknickten Fußgängerampel, da muss Leonie gestanden haben, wo sich die Pflastersteine wölben. Oder hier, sie tippt auf eine Frau, langes Haar, die Fahrerin des Unfallwagens, 22 Jahre alt, sie könnte Leonies Haar streicheln von dort, wo sie sitzt. Leonies Haar, ganz ohne eine Locke, so gar nicht wie die Mutter. Darüber leuchtet die Anzeigetafel, die Trambahnen anzeigt, die nicht kommen.

Und die Mutter denkt seit Wochen, seit Monaten immer nur das eine: Warum liegen da so viele Decken, was sollten sie verhüllen? Und schaut auf die Glassplitter der Heckscheibe, die auf dem Gehsteig glitzern, schnurgerade auf ihr Kind zu.

Dann hat sie das Foto endlich gefunden, das sie sucht, Auto, Ampel, Polizisten, Ärzte mit blauen Einmalhandschuhen, dazwischen ein Mensch am Boden, Beine, Stiefel, feste Sohle. „Ihr starrt auf diese Schuhe und habt keine Ahnung. Für mich ist das die ganze Welt“, sagt Judith Machacek, fährt mit dem Finger über die Stiefelchen, sie haben sie vor Jahren zusammen gekauft, weil Leonie immer so kalte Füße hatte, blau gefroren. Ob sie warme Füße hatte, als sie da lag, mit ihren Wrangler Stiefeln, Leder, mit Lammfell gefüttert?

Die Mutter hält die Teetasse in der Hand, trinkt keinen Schluck, hält sie einfach, starrt auf die Stiefel. Diese Bilder waren schon online, da ging sie gerade durch Bayreuth und überlegte, was sie Leonie zum Geburtstag schenken könnte, 1. April, war ja nicht mehr lang, und freute sich auf den nächsten Tag, auf ihre Töchter, die beide getrennt in Holland unterwegs waren und zusammen zurückkommen wollten. Leonie allein auf Reisen, das erste Mal.

Um 13.09 Uhr ging in Wiesbaden ein Bericht von Interpol Den Haag ein, dass die Deutsche Leonie Machacek verunfallt ist, operiert wird, sich in einem kritischen Zustand befindet und dass um einen Hausbesuch bei den Angehörigen gebeten wird. OP-Beginn 12.08 Uhr. Die Polizei kam um 15.30 Uhr zur Mutter, da war sie gerade unterwegs und kaufte eine Postkarte für Leonie. Sie sucht jetzt die Karte, drei Boote drauf, liest vor: Der eine Tag im Leben, der alles verändern kann, beginnt jeden Morgen neu. Um fünf Uhr kamen sie noch mal, zwei Polizisten, sie wollten sich nicht setzen, sagten was von einem Verkehrsunfall, diktierten ihr Telefonnummern, das war’s.

Sie wusste erst mal gar nicht, welches Kind. Und was, ein Beinbruch? Da kämpfte Leonie seit mehr als sechs Stunden um ihr Leben. Und die Mutter ahnungslos.

Was, wenn sie ins Internet geschaut hätte, wenn sie die Schuhe gesehen hätte, nur die Schuhe, Lammfell. Auch ein Video von Den Haag TV stand schon online, die Trage, der Krankenwagen, und dieser verdammte Wind. 188 Aufrufe hat der Film, wer weiß, wie viele davon von ihr selber sind. Darunter ein Daumen nach unten. Sie könnte schreien, wenn sie daran denkt: Jeder von euch wusste mehr als ich.

Was ist los mit Menschen, die für ein paar Likes ihre Instinkte verlieren?

Ihr fällt der Zettel ein, sie holt ihn aus dem Ordner, darauf in einer Schrift wie gemalt alle Namen, Telefonnummern, Mama, Schwester, Onkel, Adresse zu Hause, Adresse der WG in Konstanz, wo Leonie an der Hochschule Kommunikationsdesign studierte, Fakultät Architektur und Gestaltung. Sie war so, fast penibel, kannte jede Öffnungszeit, die Einwohnerzahl jeder Stadt, in die sie fuhr. Der Zettel lag im Rucksack, den sie am Rücken trug. Ein Anruf.

Die Mutter klickt das Video an, sie kennt mittlerweile jeden dieser Typen, die herumstehen, schamlos, nutzlos, als wäre das ein Schauspiel auf einer Bühne: Das Leiden der Leonie Machacek, die am Tag ihres Todes ins Escher-Museum gehen wollte, weil sie seine Kunst liebte, zwanzig Minuten Fußweg, Öffnungszeit elf Uhr.

Am Tisch liegt die Eintrittskarte für das Museum, an der Hotelrezeption gekauft. Das Letzte, was ihr Kind in der Hand hatte.

Der Mango-Kokos-Tee schwappt in der Tasse, er muss eiskalt sein mittlerweile, sie sagt: „Ich würde gerne jeden Einzelnen fragen, wieso stehst du hier? Wieso guckst du dir das an? Was hast du davon?“

Das Wohnzimmer um sie herum ist apricotfarben und vollgehängt mit Bildern, alles hier ist bunt und selber gemacht. Dazwischen Fotos von Leonie, die lacht, Grimassen schneidet, ihre großen, weißen Zähne, die grau-blauen Augen. Judith Machacek fragt sich immer öfter, wo ist eigentlich der Respekt, die Empathie, die Schamgrenze?

Sie tippt auf einen dieser Typen, roter Trainingsanzug, breitbeinig, unbeeindruckt, nein, gelangweilt. Das Foto hat ein Zeuge gemacht, leicht verletzt, zu dem Zeitpunkt war noch nicht mal die Polizei am Unfallort, die Fahrerin klettert gerade aus dem Wagen, unverletzt, um Leonie herum hocken Leute, mehr erkennt man nicht. Einen Meter entfernt steht ein Mann und schaut in die Luft. Als wäre nichts.

Und Judith Machacek denkt sich jedes Mal: Wartet der auf die Trambahn?

Oder der hier, lehnt sich auf das Geländer und schaut runter auf ihr Kind. Wie man vom Balkon glotzt, wenn unten jemand schlecht einparkt. Genau so.

Sie will nicht ungerecht sein, aber sie hat eine solche Wut. Hat er gefragt, ob er helfen kann, oder steht er nur da und schaut meiner Tochter beim Sterben zu?

In London hat die Polizei eine Kampagne gestartet: run, hide, tell, viele Prominente machen mit. Es scheint dringend zu sein. Es ist eine Reaktion darauf, dass es bei Terrorattacken offenbar den Trend gibt, stehen zu bleiben und zu filmen, statt wegzurennen und sich in Sicherheit zu bringen. Angst ist eine Überlebensstrategie, sie ist existenziell, angeboren. Was ist los mit den Menschen, wenn sie für ein paar Likes ihre Instinkte verlieren?

An der Ampel hat Leonie Machacek noch mit zwei Deutschen geredet, hey, was macht ihr heute? Dann war das Gespräch vorbei, Lärm, Glassplitter, die einen leicht verletzt, und Leonie meterweit weg, auf dem Rücken, die Augen geschlossen, als würde sie schlafen.

Es sind verschiedene Phasen, die Judith Machacek durchgemacht hat. Erst funktioniert man einfach, der Tod kommt mit einem Wust an Papierkram daher, man muss entscheiden, ob das Kind in einem Sarg nach Hause kommen soll oder in einer Urne. Sie konnte sich das nicht vorstellen, dass die Tochter als ganzer Mensch in den Urlaub fährt und in einem Becherchen zurückkommt. Sie haben sie dann erst in Bayreuth eingeäschert.

Der Bestatter hieß Himmel. Sie schaut einen an mit ihren blauen Augen. Seltsam, oder?

Dann kam die Organspendephase, der Gedanke verfolgte sie, habe ich das Falsche gemacht? Sie erinnert sich an vieles nicht, was in dieser Nacht passiert ist, die Fahrt von Bayreuth nach Den Haag mit Bruder und Schwiegersohn der Schwägerin, die verzweifelt kargen Whatsapp-Nachrichten ihrer jüngeren Tochter, 18 Jahre alt, die aus Amsterdam kam und fünfeinhalb Stunden vor ihr am Bett der Halbschwester saß. Wie kommt ihr voran? Um 1.45 Uhr nachts war die Mutter bei ihren Kindern im Krankenhaus, bei Louisa und Leonie, die jetzt eine Nummer hatte, Patientin 26097120.

In der Hand hielt die Mutter den Bären und die Ente, von Leonie selbst genäht. Sie sah jung aus, wie sie da lag, den Verband von der OP wie eine Kappe auf dem Kopf, Blutkrusten an den Schläfen, ein feiner Faden blutiger Flüssigkeit lief ihr aus dem Mund. Judith Machacek hielt die Hand ihrer Tochter, streichelte ihr Gesicht, hatte Angst, sich zu ihr zu legen, legte stattdessen den kleinen Bären an ihr Herz, hatte Angst, etwas kaputt zu machen, wo sie nichts mehr kaputt machen konnte.

Dann die Fragen, ob es einen Organspendeausweis gibt. Sie dachte an die Schienen, die Leonie als Baby tragen musste, Sichelfußstellung, nichts Schlimmes, aber die Mutter litt und rannte in Fachgeschäfte, ließ ihr lustige, bunte Schienen bauen. Ob sie sich vorstellen könne, den Körper ihrer Tochter freizugeben, so viele Leben könnte man retten. Und sie dachte, was man in Leonies Taschen findet, wenn man etwas sucht, Puffreis und Reiswaffelkörner und kleine Metallhaarklämmerchen und einzelne Ohrringe, immer einzeln.

Sie wusste, Leonie würde ihr Herz geben, bedingungslos, jedem, aber der Arzt sagte, das Herz kann man nicht mehr transplantieren, es ist in einem zu schlechten Zustand. Was würden Sie denn sonst nehmen, fragte die Mutter. Alles, sagte der Arzt. Das ging für sie in dem Moment nicht, die Lippen, die Augen, was heißt das überhaupt, alles. „Ich habe  gesagt, dass Leonie immer gerne geteilt hat. Aber ich möchte, dass sie jetzt wenigstens ihren Körper behalten darf“, sagt sie und weint leise.

Sie hat viel vergessen aus dieser Nacht, aber nicht die Kraft ihrer jüngeren Tochter, nicht die Enttäuschung des Arztes, den unterschwelligen Druck, nicht Leonies geblümte Lieblingsdecke unter dem EKG-Gerät, die sie immer dabei hatte, nicht die vielen Fragen, die sie stellen wollte. Keine einzige stellte sie. Hat Leonie noch etwas gesagt? Welche Verletzung hatte sie? Hat ihr jemand geholfen? War sie allein?

Danach hat sie  alles über Organspenden gelesen, auch, dass man in Bulgarien kein Widerspruchsrecht hat, ist eine  Notstandsregelung, sie  nehmen  sich wohl, was sie brauchen. Sie wird, sagt sie jetzt, im Leben nicht mehr nach Bulgarien fahren.

Sie ist Künstlerin, hauptberuflich, hat Menschen in den Tod begleitet. Aber seit dem Tod der Tochter ist die Arbeit in der Sterbebegleitung gerade undenkbar, sagt sie und liest Leonies letzte Nachricht vor: "Och, wie cool! Ich freue mich schon!!!!!" Sie wollten zusammen nach Dänemark. Um 13.04 Uhr antwortet die Mutter. Zu spät.

Der Unfallort
Der Unfallort

In ihrer Wut schreibt sie einen Brief an die Gaffer, Fotografierer und Hilfsverweigerer

Dann kam Münchberg, 3. Juli, das Busunglück auf der A 9, nicht weit von Bayreuth entfernt. 18 Tote, 30 Verletzte. Und Menschen, die filmten und zusahen, wie Menschen verbrannten. Und sie fragte sich: Waren die bei meiner Tochter auch?

Sie hat versucht, sich in ihr Kind hineinzuversetzen, wie sich das anfühlt, wenn man so daliegt, vor aller Augen. Es gab Tage, da hat sie sich Straßen voller Menschen vorgestellt, Augen groß wie Luftballons.

Es war wie eine Sucht, sie saß vor ihrem Computer und gab Unfall ein und Gaffer, fast manisch. Sie las von Menschen, die sich Gartenstühle hinstellten, während ein Junge in Bad Oeynhausen in Lebensgefahr schwebte, von Leuten, die auf Leitplanken kletterten auf der A 3, um die Verletzten sehen zu können, von Erwachsenen, die von einer Brücke bei Aalen herunter filmten, ihre Kinder an der Hand, während unten Menschen starben, von Rettungskräften, die auf der A 5 in voller Montur 800 Meter bis zum Einsatzort laufen mussten, um einem schwer Verletzten zu helfen, weil Neugierige mit ihren Autos alles blockierten und dann auch noch die Helfer anmotzten, sie sollen sich nicht so anstellen.

Judith Machacek erzählt jetzt von Leonies Vater, der die Bitte des Kindes nie genutzt hat, es kennenzulernen, von Leonies Fruktoseallergie, im Hostel hatte sie: sechs Avocados, eine halbe Gurke, Knäckebrot, Nüsse, Kichererbsen. Leonie halt. Und redet doch wieder über die Gaffer: „Da muss doch was in mir tot sein. Mich erschreckt das, ich möchte das nicht hinnehmen.“

Eigentlich hoffte sie bei jedem Unfall wieder, das Gegenteil zu lesen, sie wollte glauben, dass jemand geholfen, ihr Kind im Arm gehalten hat. Sie fand einen Link auf Twitter vom Unfall, darunter drei Herzchen. Und dachte sich: Herzchen? Für wen? Die Fahrerin? Das tolle Foto? Für Leonie?

Als es nicht mehr auszuhalten war, hat sie einen Brief geschrieben an die Gaffer, nein, eigentlich an alle: „Ich meine euch Gaffer, Filmer, Fotografierer, Hilfsverweigerer. Wo auch immer ihr seid, unabhängig von Geschlecht, Bildung, Status und Nationalität. Für meine vor kurzem verstorbene Tochter schreib ich diese Zeilen, für die Toten vom Busunglück bei Münchberg und für all die Opfer und Angehörigen von Unglücken, die vielleicht genauso empfinden wie ich. . . Was hätte ich darum gegeben, in diesen Sekunden und Minuten nach dem Unfall bei meiner Tochter sein zu können. Sie in meinen Armen zu halten, sie zu berühren und ihr noch einmal zu sagen, wie sehr ich sie liebe. Aber ich war viel zu weit weg . . . Stattdessen aber seid ihr da? Auf euch ist Verlass?“

Sie hat das Gefühl, sie sitzt in einem Klassenzimmer, und an der Tafel werden Sachen gezeigt, bei denen jeder aufschreien müsste. Aber keiner schreit auf. Sie möchte nicht mehr sitzen bleiben, sie möchte nicht mehr so tun, als sei nichts.

Wie das wohl ist, wenn man da so liegt und sich nicht wehren kann. Und alle glotzen

Im Internet hat sie gelesen, dass Gaffen als Ordnungswidrigkeit bei 20 Euro anfängt. Zwanzig. Das sind sieben Wurstsemmeln bei der Bäckerei Lang. Andererseits: Gerade wurde in Günzburg ein LKW-Fahrer zu 90 Tagessätzen und einem Monat Fahrverbot verurteilt, er stieg aus und filmte mit seinem Smartphone. Es tut sich was.

Am 10. Oktober war die Verhandlung in Den Haag, neun Uhr morgens, nicht ein Zeuge geladen, ihre Therapeutin äußerte Bedenken, in ihrem Zustand hinzufahren. Also fuhr sie nicht hin. Sie schrieb einen Brief an den Richter, den die Opferhilfe Niederlande vorlesen sollte. Und hörte dann, dass es keine Zeit gab, ihn vorzulesen. Per Whatsapp bekam sie Bescheid: 1000 Euro Strafe, sechs Monate Führerscheinentzug. Das war das ganze Urteil? Der Tod ihrer Tochter – Folge einer „Unachtsamkeit“.

Sie geht jetzt in den Speicher und bringt eine Kiste mit, stellt sie auf den flauschigen Teppich, setzt sich daneben. Darin ein bunter Waschbeutel, „The Hobbit“ auf Englisch, ein Rucksack, die Riemen zerschnitten. Sie holt eine weiße Tüte aus der Kiste, macht sie auf, zieht ein Halstuch raus, braune Wrangler Schuhe, die Sporteinlagen noch drin, eine Strumpfhose, zerschnitten, einen Rock, zerschnitten, einen roten BH, zerschnitten. Er war ihr Weihnachtsgeschenk für Leonie. Sie zieht die Jacke der Schwester raus, die sich Leonie ausgeliehen hatte, wegen der Kälte, die Daunenjacke der Tante. Man hat ihr alles vom Körper geschnitten, musste ja schnell gehen.

Judith Machacek fährt mit der Hand über dunkle Flecken, Blutflecken, schiebt alles zurück in die Mülltüte, die ihr die Polizei in Den Haag übergeben hat. Und sitzt plötzlich in einer Wolke aus Daunen, die um sie herumtanzen, fängt einzelne auf, steckt sie zurück in die Tüte. Sie will den Geruch bewahren, nach Weichspüler und Frühlingsfrische. So roch ihr Kind.

Sie hat sich allem ausgeliefert, hat sich an die Unfallstelle gestellt, Stunden nachdem die Geräte abgeschaltet wurden, hat Zeugen gesucht und gefragt: Gab es viele Gaffer? Einer fragte zurück: Was sind Gaffer? Ganz einfach, sagt sie, es sind Menschen, die nicht helfen, nur zuschauen. Sie meldete sich bei einem Erste-Hilfe-Kurs an, eine Mutter, die gerade ihr Kind verloren hat. Aber sie dachte sich, wenn vor meinen Augen etwas passiert, ich muss helfen können. Wenn sie jetzt in einem Stau steht, fährt sie weit an den Rand, immer bereit für die Rettungsgasse, so weit, dass sie andere Autofahrer genervt überholen.

Es war ein Samstagabend, als Judith Machacek erfuhr, dass ihre Tochter nicht alleine war. Zeugen schrieben ihr, dass sie sofort bei Leonie waren, dass ihr Herz fest schlug, dass sie ruhig war und still. Sie schrieben von Händen voller Blut und davon, dass sie selber Väter sind.

Es war wie ein Pflaster, dass ein Vater ihr Kind gehalten hat, als es im Sterben lag. Leonie Machacek, die den Menschen vertraute und die der Zufall an eine Fußgängerampel stellte, auf die ein Auto fiel, hatte als sie starb drei Väter bei sich, die sie hielten und ihr sagten, dass alles gut wird und dass sie bei ihr bleiben, auf Holländisch. Das spielt keine Rolle, sagt die Mutter.

Judith Machacek klickt ein letztes Video an, es sind Aufnahmen der Hotelkameras vom 28. Februar. Man sieht, wie Leonie die Treppe runterkommt, die rote Jacke, wie sie in ihrem Rücksack wühlt, Postkarten anschaut, wie sie rausgeht auf die Scheepmakersstraat, vorbei an den Leihrädern, sieht die warmen Schuhe. Die Mutter sagt: „Da läuft mein Kind in den Tod.“

Unten im Bild ist die Uhrzeit eingeblendet, es ist 10:39:59 Uhr, als Leonie Machacek aus dem Bild marschiert. Um 10:41 Uhr kamen die erste Notrufe. Eine Minute und eine Sekunde später. Pedestrian versus car steht im Krankenhausbericht. Klingt, als hätten beide Seiten eine Chance gehabt.

Dann fällt der Mutter etwas ein, Leonies Profilbild bei Whatsapp, sie hat es gerade erst entdeckt. Leonies Füße, dazu der Satz: „Ich bin dann mal auf dem Mond.“ Daneben eine kleine Rakete.

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„Jeder Mensch ist ein Gaffer“, sagt der Verkehrspsychologe Haiko Ackermann. Es ist menschlich, neugierig zu sein, und vor langer Zeit war Neugier auch überlebenswichtig. Aber das ist sie heute nicht mehr. Gaffen ist eine Art Lustbefriedigung geworden, es ist, sagt Ackermann, eine milde Form der Schadenfreude, eine Vergewisserung: Aber mir ist nichts passiert. Und in den sozialen Medien kann man mit so einem Filmchen auch noch entsprechende Aufmerksamkeit abgreifen, als wäre es ein Verdienst, dabei gewesen zu sein. Aber was tut man den Opfern damit an, den Angehörigen? Dies hier ist Judith Machaceks Brief an die Gaffer:

„Stattdessen seid ihr da … – was für eine bittere Alternative!“

Ich meine euch Gaffer , Filmer, Fotografierer, Hilfsverweigerer. Wo auch immer ihr seid, unabhängig von Geschlecht, Bildung, Status und Nationalität. Für meine vor kurzem verstorbene Tochter schreib ich diese Zeilen, für die Toten vom Busunglück bei Münchberg und für all die Opfer und Angehörigen von Unglücken, die vielleicht genauso empfinden wie ich.

Vor einigen Wochen, wurde meine Tochter (20) als Fußgängerin von einem aus der Bahn gekommenen Auto getroffen. Sie stand in einem Nachbarland wartend an einer roten Ampel und freute sich auf einen Tag im Kunstmuseum. Nur Stunden später starb sie an ihren schwersten Verletzungen. Was hätt ich darum gegeben, in diesen Sekunden, und Minuten nach dem Unfall bei ihr sein zu können. Sie in meinen Armen zu halten, sie zu berühren und ihr noch einmal zu sagen, wie sehr ich sie liebe und schätze. Aber ich war viel zu weit weg. So, wie viele Angehörige bei Unglücken weit weg sind.

Stattdessen aber seid ihr da? Auf euch ist Verlass?

Ich will daran glauben, dass meine Tochter in ihren letzten bewussten Sekunden und Minuten die Menschen spürte und sah, die für sie da waren. Jene, die sich am Unfallort an ihre Seite knieten, sie erstversorgten und hielten. Vielleicht waren sie unsicher, hatten sie Angst oder waren gerade in Eile, sie halfen trotzdem. Ich las in einem Protokoll, dass es Menschen gab, die sich versichert hatten, dass Hilfe unterwegs war oder vor Ort geholfen wurde. Vielleicht gingen manche weiter und hatten dafür ein Gebet für sie oder einen guten Gedanken. Nichts anderes mag ich glauben, könnte ich nicht ertragen ….. .

Ich mag gar nicht daran denken, wenn Sie euch Gaffer als letztes wahrgenommen hätte! Mit ihren schwersten Verletzungen auf der Straße liegend, eurem ungenierten Blick, euren Handys und Kameras ausgesetzt zu sein. Wer von euch mag sich da hineinfühlen? Es entsetzt mich, dass ihr in der Lage seid, euren Blick in dieser Weise auf Menschen und Unfallorte zu richten, die so viel Leid innehaben. Das ihr euch an dem Schicksal anderer ergötzt und auch noch in der Lage seid, all das kurz darauf mit euren Nachbarn, Freunden und in sozialen Netzwerken zu teilen. Mit welcher Gesellschaft umgebt ihr euch, dass sie sich für solche Bilder interessiert? Macht es euch größer, wichtiger oder besonders, Urheber solcher Fotos und Filme zu sein? Ist euer eigenes Leben so langweilig und uninteressant, dass immer mehr von euch diesen Kick brauchen? Nur nah genug ran, nur schnell genug dabei, am Leid der anderen!

Vielleicht möchtet ihr mir sagen, dass ihr nur gaffen könnt, anstelle zu helfen, weil ihr das Leid oder den Tod nicht aushaltet? Aber fotografieren könnt ihr dasselbe dann schon? Ihr könnt kein Blut sehen, aber dies filmen, das geht? „Die andern machen es auch?“ Die anderen, wer soll das sein? Das seid auch immer ihr für euer Gegenüber! Im Netz gab es Fotos zu meiner Tochter, wie sie auf offener Straße reanimiert und notversorgt wurde. Ich sah das betroffene Gesicht der Notärztin, die wartende Motorradescorte, den Hubschrauber und vieles mehr. Ein Video wurde von einer Nachrichtenagentur eingestellt. Das anzusehen war sehr schwer. Niemand bereitete mich als Mutter auf solche Bilder vor, keiner fragte, ob ich damit einverstanden war, dass es sie gibt. Fotos, die das Sterben meiner Tochter dokumentierten. Fotos wissen in einem solchen Moment schon viel mehr als man selbst.

Als ich vor wenigen Tagen von dem Busunfall in Münchberg hörte, nur wenige Kilometer von mir weg - und dass Menschen in ihren Autos in den ersten Reihen saßen und rein gar nichts taten um den Verunfallten und Überlebenden zu helfen - das hat mich sprachlos gemacht! Das ist unglaublich, dass euch das gelingt. Das ist unmenschlich, zutiefst beschämend. Was seid ihr nur für Vorbilder für unsere Zukunft? Was ist da los mit eurem Herz, eurem Verstand, eurem Mitgefühl? Ist jede Scham in euch vergessen oder schämt ihr euch wenigstens zuhause?? Oder ist da gar kein Ort mehr in euch herangewachsen, der sich wahrhaft betroffen fühlen kann, bereit ist zu helfen und sei es mit einem guten Wort?

Das hätten eure Kinder, eure Eltern oder Angehörigen sein können! Es hättest auch DU sein können, der da um sein Leben ringt oder der gerade gestorben ist….. So etwas zu lesen oder zu hören, ist für mich in meiner aktuellen Situation, wie jedes Mal auf´s Neue ein bisschen mitsterben.

Und was ist mit euch Politikern los?? Müsst ihr erst euer Kind, euren Angehörigen durch einen Unfalltod verlieren, um zu begreifen? Mit 70€ Bearbeitung für das Klauen eines Kaugummis, wird in Geschäften strenger bestraft als das Überholen auf dem Seitentreifen mit 25 € bei einem Unfall. Gaffen für 82,50 € incl. einem Punkt, falls überhaupt umgesetzt? Wieso kostet das nicht pauschal jeweils 1000€ und Punkt? Handy, Kamera an Ort und Stelle weg! Kann man an Rettungsfahrzeugen Kameras installieren, die nachhaltig beweisen, wer den Rettungsengpass mitzuverantworten hat? Denn Fotos, mögt ihr Gaffer doch so gerne und das Recht am eigenen Bild, hat euch beim anderen noch nie interessiert! Erste Hilfe Auffrischungskurse müssten für Autofahrer ein Muss sein, alle 3 Jahre gegen Gebühr, damit es nachhaltig und finanzierbar ist. Führerscheinkontrolle? Bitte kurz die stabile Seitenlage mit zeigen! Wer Auto fährt, muss in der Lage sein zu helfen. Hilfe gibt es in unterschiedlichster Form! Wer es nicht kann oder nicht bereit dazu ist, ob man dem ein Auto geben sollte? Da gäbe es noch mehr….., vermutlich ebenso unsere eigenen Gesetze, die all die Möglichkeiten wieder aushebeln, denn unser Land ist doch ach so frei und überaus sozial…….. . Ach ja, ist es das?

Seid ihr Politiker und Richter euch bewusst, was ihr für Signale setzt, mit den bisherigen lächerlichen Strafen und dem Appelliren an die Moral?? Vielleicht noch Bewährung? Gaffer zeigen uns inzwischen täglich, dass sie nur noch wenig Moral, Feingefühl und Schamgefühl haben. Und ihre Tabus werden stündlich weniger. Wer in seiner Funktion Strafen und Bußgelder ausarbeitet und androht, ohne für die Möglichkeit der Umsetzung zu sorgen, macht sich unglaubwürdig und hält andere Köpfe zur Verantwortung hin. Das geht so nicht! Bußgelder müssen so hoch sein, dass sie die Nachverfolgung und Umsetzung möglich machen, zur Not mit Schaffung neuer Arbeitsplätze. Bußgelder könnten den Opfern zu Gute kommen. Das wir uns überhaupt Strafen ausdenken müssen, damit wir untereinander bereit sind Rettungsgassen zu bilden, Rettungsräume zu respektieren oder uns zur Hilfe am Nächsten verpflichtet fühlen, ist eine traurige und klare Botschaft. Waren wir nicht schon mal weiter?

Es geht mir um unsere Werte und unsere Haltung die wir leben! Wenn wir nicht respektvoll uns und anderen gegenüber sind, wer ist es dann? Ich wünsche mir, dass wir das Leben der Verunglückten mehr wertschätzen, Hilfe in jedem Maße zulassen und unterstützen, anstelle diese zu blockieren. Ich wünsche mir, dass wir die Würde und Scham der Unfallopfer, der Sterbenden und der Toten besser schützen.

Mein Kind lag an einem Fußgängerüberweg , schwerstverletzt. Andere verunfallten in Bussen oder in ihren Autos. Sie starb. Viele starben und sterben täglich an anderen Orten. Väter, Mütter, Söhne und Töchter. Partner, Geschwister ….. Wir Angehörigen konnten und können nicht rechtzeitig an diesen Orten sein, um unsere Lieben zu halten, sie zu berühren, ihnen zu sagen, wie sehr wir sie lieben, wie sehr wir sie brauchen oder - sie vermissen werden.

Aber ihr,

ihr, könntet das in Zukunft für uns tun. ………

Judith Machacek, Bayreuth

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