Die Elf des Jahres

Die Elf des Jahres

Ein Team mit torgefährlichem Verteidiger, flottem Wikinger und einem Re-Start-König: Ob diese SZ-Mannschaft der Bundesliga-Saison 2019/20 besser ist als die Bayern in Bestbesetzung, das wird die Welt nie erfahren. Doch auch ein paar Nicht-Münchner haben die Kür verdient.

Schwolow - der Paradenkönig

Schwolow - der Paradenkönig

Torhüter

Der Torwart Alexander Schwolow ist nicht so gut wie Manuel Neuer. Beweis: Schwolow hat in der abgelaufenen Saison 32 Tore kassiert, Neuer nur 31. Andererseits: Schwolows Paradenquote (prozentualer Anteil der gehaltenen Bälle bei allen Schüssen, die aufs Tor gingen) lag bei ausgezeichneten 73,3 %, die von Neuer bei erschütternden 72,6 %. Ist Schwolow also doch besser als Neuer?

Jedenfalls ist Schwolow mit 28 so gut wie nie. Sein Trainer in Freiburg, Christian Streich, macht sich ja immer so grässliche Sorgen, und was seinen Torwart betrifft, könnte er nun also verzweifelt fragen: Warum verlässt er uns kleine Freiburger, warum wechselt er für acht Millionen nach Schalke? Schalke?? Womit hat er das verdient??? Schwolows Nachfolger in Freiburg könnte sein bisheriger Stellvertreter Mark Flekken werden, das dürfte Streich beruhigen: Dessen Paradenquote liegt bei 80 %. Christof Kneer

Ginter - der Fehlerlose

Ginter - der Fehlerlose

Abwehr

Der „Fan Club Nationalmannschaft“ gehört nicht zu den renommiertesten Expertenforen des Landes, aber zuletzt wurde im Fanvoting auf dfb.de eine vorausschauende Entscheidung getroffen: Matthias Ginter gewann die Wahl zum „Nationalspieler des Jahres 2019“ – was auch Ginter überraschte. „Damit habe ich niemals gerechnet“, sagte er. 2020 hat es bislang keine Länderspiele gegeben, aber der Verteidiger Ginter, 26, von Borussia Mönchengladbach zählte in der Liga zu den konstantesten Profis überhaupt, spielte seine bisher beste Saison. An einen Fehler von ihm kann man sich jedenfalls nicht erinnern, seine Pässe leiteten ein paar Tore ein – und er spielte praktisch durch. So hat er vorerst gute Chancen bei der Wahl zum DFB-Abwehrchef – einem Voting, das Joachim Löw persönlich verantwortet. Sebastian Fischer 

Alaba - der Multifunktionale

Alaba - der Multifunktionale

Abwehr

Das mit der „ungewohnten Position“ ist bei David Alaba so eine Sache. Als er 2010 vom Bayern-Trainer Louis van Gaal in die erste Elf befördert wurde, setzte der ihn auf der ungewohnten Position des Linksverteidigers ein – Alaba spielte zuvor im linken Mittelfeld. Als er nach Hoffenheim ausgeliehen wurde, spielte er dort auf der ungewohnten Position im zentralen Mittelfeld. In der österreichischen Nationalelf spielt er immer auf der ungewohnten Position im offensiven Mittelfeld, und als Pep Guardiola mal keinen Innenverteidiger mehr hatte, setzte er Alaba auf diese ungewohnte Position. Dort ist er jetzt wieder angekommen, als Münchner Abwehrchef – und allmählich ahnt man, dass man diesen multifunktionalen Wiener, um dessen Verbleib die Bayern bangen, überall hinstellen kann. Nur als Stürmer wäre er verschwendet. Um Tore zu schießen, braucht es, wie im Pokalfinale, nur einen Freistoß in guter Position. Martin Schneider

Hinteregger - die Waffe

Hinteregger - die Waffe

Abwehr

Man will den Analysten der besten Klubs in Europa ja nicht sagen, wie sie ihre Arbeit zu machen haben. Aber wenn sie wissen möchten, wie im Finalturnier der Champions League Tore gegen Bayern erzielt werden könnten, dann sollten sie sich zwei Szenen von Innenverteidiger Martin Hinteregger ansehen. Bei Frankfurts 2:5 in München traf der Österreicher zweimal nach Eckbällen. Damit ist er für ein Drittel der Ligagegentore des Meisters nach der Corona-Pause verantwortlich. Für Hinteregger waren es die Saisontore sieben und acht, er ist der torgefährlichste Abwehrspieler der Liga. Bayern-Trainer Flick wusste, dass Hinteregger „bei Standards eine extreme Waffe“ sei. Er traf trotzdem. Sebastian Fischer

Davies - der Sprinter

Davies - der Sprinter

Abwehr

Am Ende des Tages, der ihn in ganz Fußballeuropa endgültig berühmt gemacht hatte, wurde Alphonso Davies auf seine große Stärke angesprochen. Der 19 Jahre alte FC-Bayern-Linksverteidiger ist ein feiner Techniker, er ist cool im Zweikampf und vor dem Tor, vor allem ist er blitzschnell. Ende Februar, nach dem 3:0 bei Chelsea in der Champions League, wurde Davies gefragt, ob sich die kanadische Leichtathletik-Nationalmannschaft schon gemeldet habe (Antwort: nein) – und auch, was seine Bestzeit über 100 Meter sei. Davies überlegte kurz, dann sagte er: 11 Sekunden. Er überlegte noch einmal, dann korrigierte er sich: „Vielleicht 11,1“. Und wer das jetzt gar nicht mal so schnell findet, der vergisst, dass Davies auch mit dem Ball am Fuß nicht viel länger braucht. Benedikt Warmbrunn

Kimmich - der Chef

Kimmich - der Chef

Mittelfeld

Wenn ein geborener Chef in einem Seitenbüro sitzt und mittelwichtige Sachen macht, kann das auch gut gehen. Die Frage ist aber, ob es der Firma wirklich nützt, wenn der geborene Chef vor lauter Gestaltungsdrang immer wieder Chefsachen an sich reißt und dadurch seine mittelwichtigen anderen Aufgaben manchmal vernachlässigt. Es war jedenfalls der Königszug des Trainers Flick, den geborenen Chef Joshua Kimmich von der mittelwichtigen Rechtsverteidiger-Rolle zu befreien und ins Mittelfeld zu stellen. Seitdem ist jeder da, wo er hingehört: Kimmich im Zentrum – und der FC Bayern an der Spitze. Christof Kneer

Havertz - der 100-Millionen-Mann

Havertz - der 100-Millionen-Mann

Mittelfeld

Die Hinrunde von Kai Havertz, da waren sich alle einig, war nicht so gut: Zwei Tore, eine Vorlage – da müsse mehr kommen, wenn Leverkusen die nie bestätigten 100 Millionen Euro Ablöse für ihn haben wolle, hieß es. Und: Es kam mehr. In der Rückrunde dirigierte Havertz das Spiel, schoss Tore, entschied Spiele, stellte ein paar für ihn normal gewordene Rekorde auf (etwa als jüngster Ligaspieler, der die 35-Tore-Marke knackte – als Mittelfeldspieler). Schnell waren sich alle einig, dass das mit den 100 Millionen schon in Ordnung gehen würde – wenn nicht gerade Corona wäre. Havertz sagte dazu den schönen Satz „Ich bin wieder der Alte“, mit damals 20 Jahren. Und jetzt? Hat Bayer 04 die Champions League verpasst, und der 21-Jährige kann sich seinen neuen Klub aussuchen. Es wollen ihn eh alle – nur mit dem Bezahlen ist das so eine Sache. Martin Schneider

Müller - der Immer-Spieler

Müller - der Immer-Spieler

Mittelfeld

Nur mal angenommen, man wäre Trainer des FC Bayern. Hier drei Dinge, die man nie machen dürfte. Erstens: Thomas Müller auf die Bank setzen. Zweitens: Müller das Gefühl geben, dass er nicht nur zur Schonung draußen sitzt. Drittens: Sagen, dass Müller nicht gut genug ist. Leider tat Trainer Niko Kovac im Herbst diese drei Dinge in kurzer Folge, obwohl sie ihm bestimmt gesagt haben, dass Müller bei den Bayern immer spielt. Das hatte schließlich einst der gottgleiche Louis van Gaal festgelegt. Kovac aber sagte sogar, dass Müller eingewechselt werden sollte, falls „Not am Mann“ sei. Wenig später war Kovac nicht mehr Trainer. Unter Nachfolger Flick spielt Müller natürlich (fast) immer, insgesamt kam er auf acht Saisontore und 21 Vorlagen. Seitdem war bei Bayern nie wieder Not am Mann. Benedikt Warmbrunn 

Werner - der wechselnde Torjäger

Werner - der wechselnde Torjäger

Sturm

Als dieses sonderbar lange Jahr losging, im Sommer 2019, war Torjäger Timo Werner gar nicht mehr fest eingeplant bei RB Leipzig. Monatelang bahnte sich ein Transfer an. Dann blieb er doch (mit Exit-Klausel), und es folgte eine Hinrunde mit Sonne pur: Werner traf 18 Mal, RB wurde Herbstmeister. Die Großwetterlage im Corona-Frühling war dann eher heiter bis wolkig. Immerhin: Werner kam noch auf 28 Tore, RB erreichte erneut die Champions League. Doch beim Finalturnier der Königsklasse im August wird Werner schon weg sein. Und weil man las, er habe darauf wegen seines Wechsels zum FC Chelsea keinen Bock mehr, gab es eine öffentliche Moraldebatte. Werner selbst sagt seither: Er hätte gerne mitgespielt in Lissabon, aber seine alter und neuer Klub wurden sich finanziell nicht einig. Bei RB hat man die Sache etwas anders empfunden. Moritz Kielbassa

Haaland - der Rekord-Wikinger

Haaland - der Rekord-Wikinger

Sturm

Obwohl Erling Haaland flott mit dem Ball am Fuß unterwegs ist, gibt es doch zwei, drei Bundesligaspieler, die noch einen Tick schneller sprinten. Einmal nicht Erster in einer Einzelwertung? Kaum zu glauben beim Dortmunder Winter-Zugang aus Norwegen. Haalands atemberaubendes Tempo lässt sich an vielen anderen Statistiken bestens ablesen, eine kleine Auswahl seiner Rekorde: Er benötigte 183 Sekunden für das erste Ligator, 23 Minuten für den ersten Dreierpack, und die ersten sieben Tore erzielte er mit einer Chancenverwertung von 100 Prozent. Das alles mit 19 Jahren! So einen stürmischen Einstand gab es in der Bundesliga noch nie. Thomas Hürner

Lewandowski - der Weltfußballer

Lewandowski - der Weltfußballer

Sturm

Der Sommer war schon vorbei, der Herbst ging zur Neige, da passierte es tatsächlich: Ein Bundesligaspiel endete ohne Tor von Robert Lewandowski. Just der spätere Absteiger Düsseldorf zähmte den Polen am zwölften Spieltag. 16 Tore hatte Lewandowski zuvor erzielt. „Eine Achse, die nur aus Neuer und Lewandowski besteht, ist zu wenig“, klagte er damals in der Münchner Herbstkrise. Inzwischen weiß man: Die Bayern würden wohl auch mit einer Achse, die nur aus Lewandowski besteht, bequem zur Meisterschaft rollen. Nach 51 Pflichtspieltoren des Stürmers reichte Trainer Flick formlos eine Bewerbung ein: „Da kann man mal darüber nachdenken, einen Spieler aus der Bundesliga zum Weltfußballer zu machen.“ Dafür müssten aber wohl in der Champions League noch ein paar Tore dazukommen. Thomas Gröbner

Stindl - der Geisterspieler

Stindl - der Geisterspieler

Geisterspieler

Der 19. April 2019 war ein schmerzhafter Tag für Borussia Mönchengladbach – im Ligaspiel in Hannover brach Lars Stindl in der 1. Minute das Schienbein. Ausgerechnet dort, bei den 96ern, hatten die Borussen Stindl vier Jahre zuvor ausgelöst. Für nur drei Millionen Euro bekamen sie: einen Elfmeterschützen, Nationalspieler, Kapitän und den gewinnbringendsten Geisterspieler der Saison 2019/20. Denn als das Publikum weg blieb, war Stindl, 31, wieder voll da. Gut ein Jahr nachdem der Knochen barst, zog der stille Kämpfer die Borussia – vorbei ging’s im Ligafinale an Bayer Leverkusen auf Platz vier und damit rein ins Millionengeschäft der Champions League. Selten brachte ein Profi seinem Klub eine bessere Rendite. Klaus Hoeltzenbein

Flick - der Trainer des Jahres

Flick - der Trainer des Jahres

Trainer

Früher gab es in der Bundesliga vor allem gute Trainer und schlechte Trainer. Der Blick auf sie war eher holzschnittartig, es gab den Schleifer, den Kumpeltypen, den akribischen Arbeiter. In der öffentlichen Wahrnehmung hatte der Trainer jahrzehntelang nur zwei oder vielleicht auch drei Aufgaben: Er musste da sein (erstens), er musste im Zweifel schuld sein (zweitens), und manchmal (drittens) musste er am Vorabend des Spiels auch die Aufstellung an die Boulevard-Zeitung durchtelefonieren. 

Erst allmählich hat die Liga angefangen zu begreifen, dass der Trainer der wichtigste Mann im Klub ist, und entsprechend dieser Erkenntnis wuchs das Bedürfnis, Trainer genauer zu kategorisieren. Zuletzt wurde fast ein Kulturkampf daraus, sog. Ex-Profis (Modell: Funkel, Merkmal: Pragmatismus) standen sog. Laptoptrainern (Modell: Kohfeldt, Merkmal: Innovationsfreude) gegenüber, und es war Geschmackssache und manchmal auch Zufall, welches Modell gerade als stilbildend galt. Aber natürlich blieben auch diese Kategorien oberflächlich: Wozu zählte etwa Jürgen Klopp, der in seinen Anfängen mit neuartig wirkendem Umschaltfußball die Bayern besiegte (Innovation!), zuvor aber gestandener Zweitligaspieler (Ex-Profi!) war?

Und nun zu Hansi Flick.

Die Geschichte von Flick und den Bayern ist deshalb so spektakulär, weil sie inzwischen so selbstverständlich wirkt. Gab es mal einen anderen Bayern-Trainer als Flick? Man hat das ja fast vergessen: dass Flick im November 2019 mal als Zwei-Spiele-Trainer anfing. Mit verblüffender Ruhe und einer Widerstandsfähigkeit, die ihm selbst Vertraute nicht zugetraut haben, schmeißt Flick seitdem den anspruchsvollsten Laden, den der deutsche Fußball zu bieten hat. Als wäre es das Einfachste von der Welt, mischt Flick Empathie mit einer Klarheit, die sich auch mal öffentlich gegen den Sportchef Salihamidzic wenden kann. Flick denkt das Spiel offensiver als Vorgänger Kovac, er hat Entscheidungen getroffen, die das Team vitalisiert und stabilisiert haben (Kimmich und Alaba ins Zentrum), er hat Goretzka durchgesetzt und Müller und Boateng wiederbelebt.

Schreckliches Modewort: Flick ist authentisch. Er spielt nichts, macht keine Show, bezieht Erfolge nicht auf sich. Er lässt seine Spieler aus Überzeugung leben.

Vielleicht ist das sein Erfolgsgeheimnis: dass er nicht zu fassen ist. Flick passt in keine Kategorie, oder in alle. Er war Assistent beim WM-Sieg 2014, er ist ein Routinier und gehört mit 55 zu den älteren Trainern der Liga. Aber er ist auch ein Rookie, er war noch nie auf diesem Niveau der Chef. Er war Spieler bei Bayern und ist mit allen altmodischen Wassern gewaschen, gleichzeitig ist er als Ex-Sportdirektor des DFB mit neumodischem Akademiewissen vertraut. Man könnte sagen: Hansi Flick ist Ex-Profi und Laptoptrainer. Christof Kneer