70 Jahre Magnum

Durch ihre Augen

Jahrzehnte hat die Fotoagentur Magnum diktiert, wie wir die Welt sehen sollen. Eine Hommage an einen Mythos.

von Hannes Vollmuth

Neulich stand in Berlin-Charlottenburg ein Mann mit schlohweißem Haar, Militärhemd und einer schwarzen, ausgewaschenen Jeans am Savignyplatz und blinzelte in die Sonne. Es war Josef Koudelka, 79 Jahre alt, der das Licht an diesem Nachmittag für gut befand, nicht ganz unerheblich für einen der besten Fotografen der Welt. Er hatte keine Kamera dabei. Koudelka hatte sie absichtlich im Hotelzimmer liegen lassen. Ein Mann, der sich über jedes seiner Fotos Gedanken macht.

Koudelka war hier, weil das Museum C/O Berlin eine Ausstellung mit seinen Fotografien vorbereitete, Bilder eines großen Fotografen, Mitglied von Magnum, der legendärsten aller Fotoagenturen der Welt. Neben Koudelka stand seine 31-jährige Tochter, Lucina, die ihn für eine Dokumentation die vergangenen drei Stunden ununterbrochen gefilmt und fotografiert und sein Militärhemd auf- und zugeknöpft hatte, verdammtes Ansteckmikrofon. Jetzt holte Lucina wieder ihr iPhone aus der Tasche, knipste Bild um Bild von ihrem Vater. „Sie fotografiert inzwischen mehr als ich“, sagte Koudelka, „wenn alle Leute um mich herum ständig Bilder machen, ekelt mich das an.“ Dann hob er die leeren schweren Hände, formte einen Fotoapparat und drückte ab. Er sagte: „Klick.“

Wie hätte man dem Mann widersprechen können? Die Welt ist ein einziges Fotostudio. Der Mensch fotografiert sich und wird fotografiert: Überall Kameras, Displays, Screens. Es ist dem modernen Ich einfach unmöglich, sich und seine Welt nicht zu fotografieren. Sich seiner Existenz per Selfie immerwährend zu versichern, auch das ist Fotografie.

Massentourismus, Pisa, 1990: „Die wundersame Urlaubswelt des Martin Parr“, könnte man über alle seine Bilder schreiben. Parr fotografiert dort, wo die internationale Tourismus-Welle über antike Bauwerke zusammenschlägt. Moderner fotografiert bei Magnum niemand.
Martin Parr / Magnum Photos / Agentur Focus
Massentourismus, Pisa, 1990: „Die wundersame Urlaubswelt des Martin Parr“, könnte man über alle seine Bilder schreiben. Parr fotografiert dort, wo die internationale Tourismus-Welle über antike Bauwerke zusammenschlägt. Moderner fotografiert bei Magnum niemand.

Was aber, wenn man wie Josef Koudelka für die bedeutendste Fotoagentur der Welt arbeitet, die davon lebt, Bilder zu machen, die noch niemand gesehen hat?

Magnum hat gerade Geburtstag gefeiert, 70 Jahre. Eigentlich ein Wunder. Fast ein Rätsel. Was ist in der Welt der Fotografie denn schon geblieben, wie es war? Wir alle machen jetzt Bilder. So viele, dass die Geste des Fotografierens gar nicht mehr wahrgenommen wird. Aber die Agentur Magnum Photos gibt es immer noch, sie ist Kult, die wichtigste Instanz, Fotografenolymp. Wie geht das zusammen?

An der Grenze, Kalifornien, 1979: Gibt es das, die Schönheit im Leid? Und wenn ja, ist sie zulässig? Die Festnahme illegaler Einwanderer in Kalifornien, an der mexikanischen Grenze, die Alex Webb aufgenommen hat, ist so ein Bild. Die Ruhe der sich wiegenden Blumen, der stoischen Blick des Mannes, Hände, erhoben, und das Wissen darum, dass die Flucht in ein besseres Leben hier ein Ende hat. Schönheit und Leid, alles zusammen. Und am Himmel zerschneiden Rotorblätter die Stille.

Alex Webb / Magnum Photos / Agentur Focus

An der Grenze, Kalifornien, 1979: Gibt es das, die Schönheit im Leid? Und wenn ja, ist sie zulässig? Die Festnahme illegaler Einwanderer in Kalifornien, an der mexikanischen Grenze, die Alex Webb aufgenommen hat, ist so ein Bild. Die Ruhe der sich wiegenden Blumen, der stoischen Blick des Mannes, Hände, erhoben, und das Wissen darum, dass die Flucht in ein besseres Leben hier ein Ende hat. Schönheit und Leid, alles zusammen. Und am Himmel zerschneiden Rotorblätter die Stille.

Es hat alles so harmlos begonnen, so vielversprechend. Das Fotografieren, die Alchemie der Dunkelkammer, war seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer beliebter geworden, die Ausrüstung mit dem Zweiten Weltkrieg aber genauso zerstört wie Städte und Häuser, zumindest die in Europa. Stunde Null, auch für die Fotografie. Was gut erklärte, mit welcher Begeisterung sich ein paar Primadonnen der Szene 1947, im Frühjahr, bei jenem eher informellen Mittagessen im Dachrestaurant des Museum of Modern Art in New York zusammentaten und Magnum gründeten. Magnum wie der Revolver, der Champagner, ein griffiger, harter, nach Brillanz klingender Name, nicht gerade bescheiden. 

Sie kannten sich alle aus dem Kampf gegen den Faschismus, in dem sie fotografierend ihr Leben riskiert hatten, aus dem Spanischen Bürgerkrieg und der französischen Resistance: Robert Capa, der den sterbenden Soldaten in der Nähe des spanischen Dorfes Cerro Muriano fotografiert hatte (oder zumindest dafür ausgegeben); Henri Cartier-Bresson, der eigentlich surrealistischer Maler war; William (Bill) Vandivert; David Seymour, den alle Chim nannten; George Rodger. 

Stille nach dem Schuss, Cerro Muriano, 5. September 1936: Robert Capa fotografiert bereits zwei Monate den Spanischen Bürgerkrieg, auf der Seite der Republik, ohne Waffe, dafür aber behängt mit Milizjacke und Kamera. Und dann dieses Bild: ein schutzlos nach hinten sinkender republikanischer Soldat. Tödlich getroffen, wie Capa später erzählte? Ein Märtyrer? Oder doch nur gestellt? Heute ist es eines der wichtigsten Magnum-Fotos aller Zeiten, und eines der umstrittensten dazu.

Robert Capa / International Center of Photography / Magnum Photos / Agentur Focus

Stille nach dem Schuss, Cerro Muriano, 5. September 1936: Robert Capa fotografiert bereits zwei Monate den Spanischen Bürgerkrieg, auf der Seite der Republik, ohne Waffe, dafür aber behängt mit Milizjacke und Kamera. Und dann dieses Bild: ein schutzlos nach hinten sinkender republikanischer Soldat. Tödlich getroffen, wie Capa später erzählte? Ein Märtyrer? Oder doch nur gestellt? Heute ist es eines der wichtigsten Magnum-Fotos aller Zeiten, und eines der umstrittensten dazu.

Es begann die Zeit der großen Illustrierten, von Life, Look, Paris Match, Quick und Stern, an welche die Magnum-Leute ihre Bilder verkaufen wollten, gleichzeitig aber unabhängig sein und selbst die Preise diktieren wollten. Mit handlichen Leica-Kameras zogen sie durch die Welt, 36 Bilder pro Film, schwarz-weiß, ein Objektiv, manchmal zwei, so erledigten sie ihre Arbeit. Und die Illustrierten zahlten, wie der Historiker Anton Holzer in der Zeitschrift Fotogeschichte schreibt. Noch brauchte die Welt professionelle Fotografie. Noch erstickte man nicht in Bildern. Nur zu hohen Feiertagen, der Erstkommunion, Hochzeiten, da kam ein Fotograf, einer.

Die ersten Apparate für den Hausgebrauch, ab den 50er-Jahren im Handel, trugen noch putzige Namen: Agfa Clack, Agfa Click, Kodak Retina. Sie mussten mit kurzen, aber teuren Filmen bespannt werden, die man anschließend zum Drogisten trug. Blieb noch die Wahl zwischen der Entwicklung in Schwarz-Weiß oder Chamois, eine Art Gelbbraun, mit oder ohne Büttenrand. Der Farbfilm setzte sich erst in den 60ern durch. Dann hieß es zwei Wochen warten, die Hälfte der Bilder war meistens unscharf, den Rest klebte man in seine Alben mit dem knisternden Pergaminpapier. Man bewahrte sie wie Schätze. Lange her.

Josef Koudelka sah seine erste Fotografie im Alter von zwölf, Tschechoslowakei, 1950, ein Ort bei Brünn. Der Bäcker, ein Amateurfotograf, brachte das Brot, einmal zeigte er dabei seine Landschaftsaufnahmen her. 

Koudelka ging in den Wald, sammelte Erdbeeren, verkaufte sie auf dem Markt, monatelang. Dann erstand er eine zweiäugige Spiegelreflexkamera, Sucher oben, von dort schaute man in den Apparat.

„Hör zu“, sagt jetzt Josef Koudelka in Berlin, „der Bäcker hat mir beigebracht, wie ich einen Film entwickeln konnte.“ Als am 21. August 1968 die Rote Armee in Prag einmarschierte, fotografierte Koudelka eine Woche pausenlos.

Straßenkrieg, Prag, 1968: Josef Koudelka fotografiert den Prager Frühling. Mit zwei Exakta-Kameras über den Schultern, in den Taschen hunderte Rollen Film, die er zuvor aus Kinorollen geschnitten hatte. Die Bilder gingen später um die Welt. Erst im Schutz der Anonymität. Dann mit vollem Namen: „Josef Koudelka, Magnum“.

Josef Koudelka / Magnum Photos / Agentur Focus

Straßenkrieg, Prag, 1968: Josef Koudelka fotografiert den Prager Frühling. Mit zwei Exakta-Kameras über den Schultern, in den Taschen hunderte Rollen Film, die er zuvor aus Kinorollen geschnitten hatte. Die Bilder gingen später um die Welt. Erst im Schutz der Anonymität. Dann mit vollem Namen: „Josef Koudelka, Magnum“.

Rollende Panzer, die Kanonen gerichtet, schussbereit. Koudelka erinnert sich, wie er einer von ganz wenigen mit einer Kamera war. „Ich schoss nur Bilder, ich entwickelte keinen einzigen Film.“ Erst später machte er Abzüge. Ein Amerikaner brachte sie nach New York, zeigte sie einem Freund: Elliott Erwitt, Magnum-Präsident.

Am Ende der Welt, Sibirien, 2000: Seit mehreren Jahren schon reist Jonas Bendiksen durch die Länder der untergegangenen UdSSR,  im südlichen Sibirien auf einer Wiese vor den Resten eines abgestürzten Raumschiffs zu stehen. Die Luft voller weißer Schmetterlinge.

Jonas Bendiksen / Magnum Photos / Agentur Focus

Am Ende der Welt, Sibirien, 2000: Seit mehreren Jahren schon reist Jonas Bendiksen durch die Länder der untergegangenen UdSSR, im südlichen Sibirien auf einer Wiese vor den Resten eines abgestürzten Raumschiffs zu stehen. Die Luft voller weißer Schmetterlinge.

Magnum war dort, in den USA, gerade volljährig geworden, aber schon mitten in der ersten Krise. Die englischsprachigen Illustrierten waren am Ende. Noch drei Jahre, bis Look aufgab, noch vier Jahre, bis Life nur noch unregelmäßig erschien. Capa war tot, 1954 in Indochina auf eine Landmine getreten, der Fotojournalismus war härter geworden, die Konkurrenz schneller, billiger. Etwas geriet ins Rutschen.

Zwei Jahrzehnte hatte Magnum der Öffentlichkeit diktiert, wie man die Welt zu sehen hatte: Durch die Augen von Philip Jones Griffiths hatte man den Vietnamkrieg erlebt, und durch René Burris Linse einen Che Guevara mit Zigarre.

Wo Rauch ist, Havanna, 1963: Über eine Stunde schleicht René Burri im Industrieministerium um Che Guevara herum, macht Bild um Bild, keines ist perfekt. Und dann das: der bärtige Revolutionär mit dicker, aufragender Zigarre im Mundwinkel, stolz und müde, still und nachdenklich.

Rene Burri / Magnum Photos / Agentur Focus

Wo Rauch ist, Havanna, 1963: Über eine Stunde schleicht René Burri im Industrieministerium um Che Guevara herum, macht Bild um Bild, keines ist perfekt. Und dann das: der bärtige Revolutionär mit dicker, aufragender Zigarre im Mundwinkel, stolz und müde, still und nachdenklich.

Paris, das war vor allem Henri Cartier-Bresson mit seinem Mann, der am Gare Saint-Lazare über eine Pfütze springt, die Fotografie-Philosophie des entscheidenden Augenblicks, des L’instant décisif. Bilder, die eingingen in unser visuelles Gedächtnis.

Auf dem Sprung, Paris, 1932: „Da war ein Zaun“, erzählte Henri Cartier-Bresson später, „und ich steckte meine Kamera durch den Zaun.“ Der springende Mann. Die Pfütze. Die Spiegelung. Und dieses Plakat im Hintergrund. 1932, hinter dem Bahnhof Saint-Lazare, Paris. „Es war der Bruchteil einer Sekunde“, sagte er. Das war seine Fotografie-Philosophie: der entscheidende Augenblick, in dem sich alles fügt.

Henri Cartier-Bresson / Magnum / Agentur Focus

Auf dem Sprung, Paris, 1932: „Da war ein Zaun“, erzählte Henri Cartier-Bresson später, „und ich steckte meine Kamera durch den Zaun.“ Der springende Mann. Die Pfütze. Die Spiegelung. Und dieses Plakat im Hintergrund. 1932, hinter dem Bahnhof Saint-Lazare, Paris. „Es war der Bruchteil einer Sekunde“, sagte er. Das war seine Fotografie-Philosophie: der entscheidende Augenblick, in dem sich alles fügt.

Und noch etwas hatte Magnum geschaffen: einen Branchen-Mythos. Genährt von einem brutalen Auswahlverfahren für alle Neumitglieder, das die Besten der Besten suchte, bis heute. Befeuert von Erzählungen über das Jahrestreffen der Agentur, eine Artusrunde voller Exzentriker: Türen wurden geschlagen, es wurde geschrien, mit dem Schuh auf den Tisch geklopft, einmal soll einer im Fensterrahmen gestanden haben, Leute, hört auf oder ich springe. Es war auch ein Haufen kompromissloser, egomanischer Idealisten, denen egal war, ob die Agentur Geld verdiente oder nicht. Was zählte, war das Bild. Das beste Bild. Nicht zuletzt für Josef Koudelka. 1971 kam er zur Agentur und verabschiedete sich sofort wieder, mit zwei Hemden, einer Hose und seiner Mundharmonika, für die nächsten Jahrzehnte, ein Langzeitprojekt, um irgendwann mit 300 000 Bildern zurückzukommen, von denen er nicht einmal 100 für so gut befand, um sie in seinem Buch „Exiles“ Platz finden zu lassen. 

Und noch etwas machte Magnum Konkurrenz: das Publikum selbst. Aus Japan kamen Spiegelreflex-Kameras, Nikon, Canon, Pentax, Konika, Zooms und Autofocus. Die Menschen trafen sich zu Diaabenden, Mettigel auf dem Wohnzimmertisch, tanzender Staub im Lichtkegel ratternder Projektoren. Rimini, Nizza, die Costa Brava, der Blaue Nil. Hunderte Dias wurden an solchen Abenden durchgejagt. Klack. Klack. Klack. „Es scheint schlechterdings unnatürlich, zum Vergnügen zu reisen, ohne eine Kamera mitzunehmen“, schrieb Susan Sontag 1977 im Essay „Über Fotografie“, nicht ahnend, was noch folgen würde.

Zum ersten Mal konnte eine breite Schicht ihr Leben dokumentieren. Die große Demokratisierung der Bildermacht. Kameras wurden noch kompakter, Filme noch günstiger, bis zu dem Punkt, an dem die Geschichte der Fotografie kippte. Der Moment, an dem die Zahl der Bilder exponentiell zu wachsen begann. Als die Digitalkameras die Haushalte fluteten, Anfang der Nullerjahre war das. Selbst Aldi verkaufte bald digitale Knipsen, für weniger als 100 Euro. Man steckte sich gegenseitig Bilder-CDs zu. Trug Speicherkarten zu Schlecker, bastelte klickend nach Feierabend am Rechner Fotobücher, Australien, Südfrankreich, die USA. Nur ein paar Kulturpessimisten ekelten sich schon damals vor dem Foto-Ramsch. Für die meisten Menschen galt: Feuer frei.

Seitenwechsel: Ras Jdir, 2011. An der Grenze zu Tunesien: Alle wollen nur noch weg aus dem Krieg zwischen Rebellen und regierungstreuen Gaddafi-Anhängern in Libyen. In der Mitte steht ein Mann, wartend, zögernd.  Versucht er zu verstehen, was hier passiert? Paolo Pellegrin sagt: Der Anblick dieses Zuschauers habe ihn damals am meisten gepackt.

Paolo Pellegrin / Magnum Photos / Agentur Focus

Seitenwechsel: Ras Jdir, 2011. An der Grenze zu Tunesien: Alle wollen nur noch weg aus dem Krieg zwischen Rebellen und regierungstreuen Gaddafi-Anhängern in Libyen. In der Mitte steht ein Mann, wartend, zögernd. Versucht er zu verstehen, was hier passiert? Paolo Pellegrin sagt: Der Anblick dieses Zuschauers habe ihn damals am meisten gepackt.

2007 die nächste Revolution: Das iPhone kam auf den Markt, die Fotografie mit dem stets griffbereiten Smartphone begann. Seither prasselt es Bilder. Fotografie war nie so wichtig und gleichzeitig so unwichtig wie heute. Man denkt nicht mehr darüber nach, man klickt. Selbst das Klick-Geräusch ist digital, eine Reminiszenz an die analoge Geschichte. Man kommuniziert in Bildern, als wäre es eine Art Sprache – und als wäre es Atem, verbrauchen sich die Bilder auch dabei.

Eigentlich kompletter Wahnsinn: Von einem Neugeborenen in der westlichen Welt, davon kann man ausgehen, gibt es nach einem Monat mehr Bilder als von einem Menschen, der vor zehn Jahren gestorben ist. Fotografieren ist heute weder eine Frage des Alters, des Geldes, des Bildungsgrades oder des Milieus. Oma fotografiert, Opa fotografiert, die Enkel fotografieren. Papa fotografiert immer noch, jetzt digital. Wir alle fotografieren, alles: das Haustier, das Frühstück, das Kind, uns selbst. Ich fotografiere, also bin ich.

Pakistan, 1984. Grüne Augen, in denen alles zu lesen war: der Schrecken des Afghanistankriegs, die Angst, die Furcht, die Flucht. 17 Jahre später fand das Magazin die Frau erneut: in der Nähe von Kabul, verheiratet, drei Töchter. Ihr Name: Sharbat Gula. Steve McCurrys größtes Motiv.

Steve McCurry / Magnum Photos / Agentur Focus

Pakistan, 1984. Grüne Augen, in denen alles zu lesen war: der Schrecken des Afghanistankriegs, die Angst, die Furcht, die Flucht. 17 Jahre später fand das Magazin die Frau erneut: in der Nähe von Kabul, verheiratet, drei Töchter. Ihr Name: Sharbat Gula. Steve McCurrys größtes Motiv.

Ein Bild zu machen, 100, 1000 oder keines, alles kostet gleich viel: nämlich nichts. Sie landen auf Speicherkarten, auf Festplatten, irgendwo im Netz. Auf den digitalen Müllhaufen unserer Zeit. 95 Millionen werden alleine auf Instagram hochgeladen, täglich. Ein weißes Rauschen der Bilder. Keine Magie des entscheidenden Augenblicks mehr. Nichts.

Und die Profis? Die meisten Fotoagenturen, die Magnum geähnelt hatten, sind mittlerweile verschwunden: Sygma und Gamma, Konkurs gegangen und verscherbelt. Nach einer Beinahe-Insolvenz spielt auch die französische Sipa keine große Rolle mehr. Die Medienrevolution, die Zuschauer zu Produzenten macht, vollzieht sich in der Fotografie so brutal wie nirgendwo sonst. Wenn man über die 70er und 80er gesagt hatte, etwas geriet ins Rutschen, muss es heute heißen: freier Fall.

Auch bei Magnum sollen die vergangenen Jahre, was man so von den Mitgliedern hört, ziemlich dramatisch gewesen sein. Im vergangenen Juli trat David Kogan, Magnum-CEO, vor die Presse und verkündete, dass Magnum zum ersten Mal in seiner Geschichte zwei Investoren habe, eine Zäsur. Die Fotoagentur muss neue Wege gehen, um weiter danach suchen zu können, was sie immer noch auszeichnet und am Leben hält: das beste Bild.

Straßenobst: New York, 2014. Warm, intensiv, elegisch – so sieht Christopher Anderson die Welt. Das Licht, meist ist es das Spätnachmittagslicht New Yorks, modelliert die Körper der Menschen und Gebäude, selbst fallen gelassene Früchte auf der Straße. Mit Anderson die Welt zu betrachten, ist gleichbedeutend mit: in einen anderen Modus der Wahrnehmung einzutauchen.

Christopher Anderson / Magnum Photos / Agentur Focus

Straßenobst: New York, 2014. Warm, intensiv, elegisch – so sieht Christopher Anderson die Welt. Das Licht, meist ist es das Spätnachmittagslicht New Yorks, modelliert die Körper der Menschen und Gebäude, selbst fallen gelassene Früchte auf der Straße. Mit Anderson die Welt zu betrachten, ist gleichbedeutend mit: in einen anderen Modus der Wahrnehmung einzutauchen.

Ein Haus in einem Vorort von Gent, Ostflandern, Belgien, knarzende Dielen, Jugendstil. Eine junge Frau sitzt zwischen MacBook, iPhone und vielen Kabeln. Sie nutzt Instagram, Facebook, sieht manchmal 1000 Bilder pro Tag. Bieke Depoorter, 31 Jahre, eines der jüngsten Magnum-Mitglieder überhaupt. Sie sagt: „Ich habe kein Problem damit, dass jeder Bilder macht, das wäre ja anmaßend.“

Als Jugendliche fotografierte sie mit ihrer ersten Digitalkamera ihren Hamster. Mit 18 ging sie auf die Royal Academy of Fine Arts in Gent, für ihr Abschlussprojekt reiste sie durch Russland. Fremden Menschen in winzigen Dörfern hielt sie einen Zettel hin: Ob sie bei ihnen übernachten könne? Sie fotografierte in Schlafzimmern, Kinder, alte Frauen, manche nackt. Sie brachte Bilder von schmerzender Intimität nach Hause und gewann gleich mal den Magnum Expression Award, als Unbekannte, ihr Ticket in den Olymp, wo immer noch fast jeder Fotograf hin möchte: Magnum, der Leuchtturm in der Bilderflut.

Feuerpause: New York, 11. September 2001. Er war der erste Deutsche bei Magnum und von 2003 bis 2007 sogar der Präsident: Thomas Höpker, der sich dagegen entschieden hatte, dieses Bild vom 11. September zu zeigen. Fünf Jahre später erschien es dann doch – unter Protest.

Thomas Hoepker / Magnum Photos / Agentur Focus

Feuerpause: New York, 11. September 2001. Er war der erste Deutsche bei Magnum und von 2003 bis 2007 sogar der Präsident: Thomas Höpker, der sich dagegen entschieden hatte, dieses Bild vom 11. September zu zeigen. Fünf Jahre später erschien es dann doch – unter Protest.

Doch etwas ist anders. Und das hat auch mit Bieke Depoorter zu tun.

2015 wollte sie in Istanbul fotografieren, auf gewohnte Art. Doch ihr Inneres sträubte sich. „Ich fühlte mich nur wie ein Tourist.“ Monate später in Südfrankreich, ein Stipendium in Sète: dasselbe ungute Gefühl. Sie begann, Situationen mit Menschen in deren Häusern zu inszenieren. Das kam ihr wahrer vor. Die Fiktion ergriff ihr Werk.

Ende 2017 hat Depoorter ein Buch fertiggemacht, Titel: „As It May Be“. Sechs Jahre Arbeit, Menschen in Ägypten, zu Hause, sehr privat. Weil ihr am Ende wieder etwas gefehlt hatte, reiste sie zurück, bat andere Menschen, Kommentare auf ihre Bilder zu schreiben, und wieder andere, die Kommentare zu kommentieren. Jetzt hat sie Foto-Hypertexte. „Wir Fotografen müssen über andere Formen nachdenken, unsere Geschichten zu erzählen“, sagt sie. 

Bildsprache: Ägypten, 2015. Bieke Depoorter ist eines der jüngsten Magnum-Mitglieder – und gerade dabei, Fotografien neu zu denken.

Bieke Depoorter

Bildsprache: Ägypten, 2015. Bieke Depoorter ist eines der jüngsten Magnum-Mitglieder – und gerade dabei, Fotografien neu zu denken.

Früher reichte es für Magnum, Dokumentarist zu sein, exklusive Bilder vom Ende der Welt zu liefern, ein Flüchtlingsmädchen mit stechend grünen Augen am Ende der Welt. Heute müssen Menschen wie Bieke Depoorter experimentieren, sie müssen auch gedanklich und konzeptionell der Masse voraus sein. Eine Umdrehung weiter. Und sei es durch Fiktion.

Da kommt’s Vogerl: Edinburgh, 1950. Eine Gruppe Pinguine spaziert seelenruhig einen Gehsteig entlang. Was Werner Bischof damals natürlich wusste und für sich nutzte: Der Zoodirekter der schottischen Stadt führte die Tiere jede Woche durch die Straßen. Ein Werbe-Gag.

Werner Bischof / Magnum Photos / Agentur Focus

Da kommt’s Vogerl: Edinburgh, 1950. Eine Gruppe Pinguine spaziert seelenruhig einen Gehsteig entlang. Was Werner Bischof damals natürlich wusste und für sich nutzte: Der Zoodirekter der schottischen Stadt führte die Tiere jede Woche durch die Straßen. Ein Werbe-Gag.

Für Magnum mit seinen gut 90 Fotografen bedeutet das: Man sucht Formen für morgen, während man noch die schwarz-weiß Aura von gestern kultiviert. Man macht Werbefotografie und jede Menge Merchandise. Kaum ein Thema, zu dem es nicht schon ein Magnum-Buch gibt: Magnum und Kino, Magnum und Revolution, Magnum und Radrennen, Magnum und Fußball, es gibt ein Buch das heißt einfach nur „Magnum Magnum“.

Auf Auktionen erzielen Magnum-Fotografien heute sechsstellige Summen. Bilder von Magnum hängen in den großen Museen. Und im Pariser Büro kümmert sich eine Frau, die direkt vom Auktionshaus Sotheby’s kam, ausschließlich um den Verkauf hochpreisiger Abzüge. Die Agentur hat mit Journalismus begonnen, macht aber heute vor allem: Kunst. Bei Magnum hassen sie das Wort.

Hundeblick: New York, 1974. Wenn es etwas gibt, dass Elliott Erwitt fotografisch liebt, dann Hunde. Und am besten noch wie hier: Hundebeine, Menschenbeine und ein Chihuahua.

Elliott Erwitt / Magnum Photos / Agentur Focus

Hundeblick: New York, 1974. Wenn es etwas gibt, dass Elliott Erwitt fotografisch liebt, dann Hunde. Und am besten noch wie hier: Hundebeine, Menschenbeine und ein Chihuahua.

In der neuen Welt der Fotografie, in der jeder ein Fotograf ist, gibt es heute alles gleichzeitig, neben und sogar übereinander. Die Genres schieben sich ineinander, die Fiktion in die Realität, das Analoge ins Digitale, das Retrohafte ins Moderne. Gleichberechtigt steht der Smartphone-Knipser neben Bieke Depoorter, neben dem Amateurfotograf, neben Josef Koudelka, der weder Computer noch Handy besitzt.

Eine irre Zeit für die Fotografie, in der auch Magnum nicht alle Antworten kennt. Aber: „Magnum stellt immer noch die wichtigen Fragen“, sagt Hans-Michael Koetzle, Kurator, Buchautor und wohl der größte Fotografie-Kenner, den Deutschland hat. Was ist Fotografie? Wie erzählen wir Leben? Allein auf der Foto-Plattform Instagram wollen täglich 2,6 Millionen wissen, was Magnum macht.

Der britische Magnum-Fotograf Martin Paar hat auf seiner Kuba-Reise im vergangenen Frühjahr fast nur noch Menschen fotografiert, die etwas fotografierten (oft sich selbst). Zwei Frauen am Tresen einer kubanischen Bar, behängt mit Kameras, Smartphones in den Händen, in der Selfie-Pose versunken, entrückt lächelnd. Was für eine Entwicklung seit Josef Koudelka, der eine Welt fotografierte, die uns fremd war, weil wir sie nicht kannten. Martin Parr zeigt nun eine Welt, die uns vertraut ist und die wir doch als fremd empfinden. Er zeigt uns.

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