Die Zeit ist in Ägypten ein Krokodil. Träge ruht sie im Morast der Geschichte, aber dann, ohne Vorwarnung, schlägt sie zu: höchste Anspannung, extreme Verdichtung, ein Frontalangriff auf das menschliche Vorstellungsvermögen. Die Spätphase der Autokraten-Herrschaft Hosni Mubaraks war so eine Epoche, sie lebte sich zäh wie Kautschuk, und plötzlich, Anfang 2011: 18 Tage Arabischer Frühling – und das System war aus den Angeln.
Oder dieser Morgen in einer Straße an den Pyramiden in Kairo. Junge Männer dösen im Schatten. Was sollte ihre Ruhe stören? Da donnert eine Gruppe Reiter heran. Die meisten sitzen zum ersten Mal auf dem Pferd und taumeln wie Mehlsäcke auf Speed, aber ihr Anführer, keine acht Jahre alt, ist ein Könner und knallt selig mit der Peitsche. Am Schluss rumpelt dröhnend ein Quad-Bike vorüber, garniert mit mehr Antennen und Spoilern als die Konvois in einem „Mad Max“-Film.
So werden diese Tage, so ist dieser Ort. Auf hochfliegende Gespräche mit Archäologen folgen irrlichternde mit Grabräubern. Kurz nach Mitternacht wird eine Mutter in einem Nachtclub ihre Tochter zum Verkauf führen, aber der Moment ist so schnell vorbei, als wäre er nur geträumt.
Die Straße der Reiter
Die Straße der Reiter ist Jimmys Straße. In der Ferne ahnt man die gigantische Dauerbaustelle des Großen Ägyptischen Museums, das einmal das größte Museum der Welt werden soll, der Stolz Ägyptens. Hinter einer umstrittenen, ja, umkämpften Mauer liegen unerreichbar die Pyramiden, davor, gut zugänglich, die Touristenläden mit ihren Parfumflaschen und Hologrammpharaos. Genau hier beginnt eine andere Welt, Jimmys Welt.
Sie ist so hart und ungerecht wie der Rest des Landes, nur spielen Menschen eine untergeordnete Rolle. Besucher der Pyramiden kennen Kutschen und Kamel-Treiber, deren verzweifeltes Geschäftsgebaren die Grenze zur Wegelagerei berührt. Aber nichts bereitet sie vor auf Jimmys Straße, auf Reihe um Reihe von Pferden, die Köpfe über eine Betonrinne mit Grünzeug gebeugt, dazwischen ein Kadaver, frisch und noch nicht aufgedunsen, ein Klepper am Tropf, an einem Baum festgebunden, eine lebensrettende Kanüle im Hals, die Knochen spitz wie Äste. Das ist die Arbeiterklasse unter den Pferden.
In den Seitenstraßen aber, an den Kanälen, die sich unter Palmen entlang und durch Dörfer hindurch ziehen und die diese biblische Szenerie krönen könnten, wenn sie mehr wären als stinkende Kloaken, leben im Schatten von Villen die Luxusgeschöpfe: Reinrassige Araber aus uralten Linien, schnell, ausdauernd, kräftig, seit Menschengedenken von Züchtern der Welt zur Veredelung ihrer Rassen geschätzt. Wären die Bewohner Ägyptens so gepflegt und genährt wie diese Pferde, es hätte nie einen Arabischen Frühling, eine Revolution gegeben.
Es ist noch nicht lange her, da brummte es vor Touristen. Nur die Araber sind geblieben
„Haram“ heißt Pyramide auf Arabisch, Haram heißt auch dieses Viertel. Seit Napoleon ist noch jeder Ägypten-Reisende hier gelandet, und doch sind manche Winkel so verrufen, dass kein Ägypter sie freiwillig betritt. Wer in die Geschichten um die Pyramiden eintaucht, stößt auf vieles, was nach den Regeln arabischer Sitten, der Staatsräson oder auch nur der Logik unmöglich zusammen passt. Aber er begreift die ungeschriebenen Gesetze eines Landes, das seit Herodot so viele zu verstehen glaubten und das sich oft selbst nicht begreift.
Jimmy wurde vor 55 Jahren als Gamal Faruk Bresch geboren, sein Spitzname klingt weltläufig und westlich. Als das Pyramidenviertel noch vor Touristen brummte, was noch gar nicht so lange her ist, war das ein Vorteil. Wer ahnte, dass einmal nur Araber übrig bleiben würden, um hier auf ihren Miet-Pferden einen Höllenlärm zu machen? Araber, so nennen Ägypter die Besucher aus Saudi-Arabien oder den Emiraten, und darin schwingt die Herablassung der einstigen Hochkultur für die einstigen Beduinen mit, und die Erkenntnis, dass sie im Moment die wichtigsten Kunden sind. Seit Generationen verbringt der halbe Golf den Sommer in Ägypten (die andere Hälfte verbringt ihn auf der Münchner Maximilianstraße). 40 Grad sind besser als 50 Grad, und die geduldeten Ausschweifungen des Pyramidenviertels besser als die verklemmten Verbote der Heimat.
Jimmy reitet, seit er drei Jahre alt ist, sein erstes Pferd bekam er mit 12. Heute stehen im kühlen Dunkel 80 Tiere, kostbare Vollblüter, strapazierfähige Mischungen, einige zum Vermieten, andere zum Verkauf. Früher waren es 100. Jimmy ist Optimist aus Notwendigkeit, aber vor der Wirklichkeit kann er die Augen nicht verschließen. Und die lautet: Das Geschäft könnte besser sein. Die Touristenzahlen steigen im Vergleich zum Vorjahr sanft an, aber jeder Terroranschlag gefährdet den Trend. Jimmys Formel: „Du arbeitest eine Stunde, und zehn Stunden schläfst du.“
Um das wahre Ausmaß des Wandels zu verdeutlichen, taucht Jimmy jetzt mal ab ins Labyrinth der Stallgassen und kehrt mit einem Stapel Fotos zurück. In den Fünfzigern, Sechzigern, Siebzigern war das Pyramidenviertel eine mondäne Adresse. Filmstars und Sänger wie Mohammed Abdel-Wahab und Omm Kalthoum, Legenden ihrer Zeit, hatten hier Apartments und Chalets. Kairo war noch nicht der gefräßige Moloch, der Kilometer um Kilometer Boden verschlang, die Pyramiden waren stadtferne Solitäre. Casinos, auch in der Wüste, boten Bauchtanz und Bier. Damals war das ein respektabler Zeitvertreib, heute sind das im prüden Ägypten anrüchige Vergnügen. „Schauen Sie, mein Vater mit einer Kundin“, sagt Jimmy und hält eine Aufnahme in die Höhe. Sie zeigt einen jungen Mann an der Seite einer Ausländerin in Karobluse und Grace-Kelly-Kopftuch. Jimmy, der mit seiner eisgrauen Bürste selbst ein bisschen glamourös aussieht, schwelgt in Kindheitserinnerungen: „Da habe ich vor dem Casino die Pferde gehalten.“
Die Showbiz-Welt der Wüstenclubs ist längst Geschichte und der Ruf des Pyramidenviertels mit dem Wort „schillernd“ ist heute noch freundlich umschrieben. „Haram“ ist ein Begriff für Armut und Rotlicht, es ist ein Mikrokosmos jener Gegensätze, die Ägypten groß machen oder Ägypten zerreißen: der Atem der Ewigkeit und das Hecheln käuflicher Liebe, eine glanzvolle Vergangenheit und maßlose Zukunftsvisionen, Staatstreue und Terror.
Früher war dieses Viertel der Obstgarten Kairos. In den Schluchten zwischen den Plattenbauten blitzt ab und zu noch das Smaragdgrün von Feldern auf, aber das Gesamtbild ist weder urban noch ländlich, sondern das eines Mischwesens, soziologisch, architektonisch und politisch. Die einstige Landbevölkerung war konservativ, sagt der Schriftsteller Chaled al-Chamissi, der den Deutschen durch sein Buch „Taxi“ bekannt ist. In den Siebzigern aber förderte Präsident Anwar al-Sadat die Islamisten gegen die Linken und siedelte die Religiösen in blitzartig hochgezogenen Neubauten an: „Zwei Kilometer östlich der Pyramidenstraße wohnen diejenigen, die vom Tourismus leben, zwei Kilometer westlich davon die islamistischen Fanatiker. Sie haben nichts miteinander zu tun.“
Das Reptil von Kairo
Dass die Welt nicht nur die Weltwunder, sondern auch die Wut des Viertels zur Kenntnis nahm, liegt sechs Jahre zurück. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo brodelte die Empörung gegen Mubarak, als am 2. Februar 2011 eine apokalyptische Reiterhorde auf Pferden und Kamelen mit Säbeln und Stöcken über die Aufständischen herfiel. Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Für einen Moment sah es aus, als könnte der Aufstand zusammenbrechen, als siegte Mubarak mit einer Truppe, der man die barbarische Natur des Regimes schon von Weitem ansah. Die Berittenen kamen von den Pyramiden.
Die Begegnung mit Mansur ist aufschlussreich für die Frage, wie in diesem Land Macht ausgeübt wird, allerdings weniger wegen der Dinge, die er sagt, sondern vor allem wie. Zuerst der Ort: Ein turnhallengroßes Büro im Hauptquartier seines Klubs im Kairoer Vorort Mohandessin, polierte Pokale, Bildschirme für die Überwachungskameras. Hinter seinem Schreibtisch, wo in anderen Büros ein Bild des Präsidenten hängt, steht in Mortada Mansurs Büro ein Bild von, genau, Mortada Mansur. Mit der linken Hand betätigt er einen Knopf, um Besucher hereinzulassen, mit der rechten eine grüne Fliegenklatsche. Sein Blick: Lauernd. Helle Augen unter schweren Lidern. Ein Reptil.
Seine Kernthesen lauten wie folgt: Mitnichten sei er schuld am Überfall auf den Tahrir-Platz 2011, vielmehr vor Gericht freigesprochen worden; die Angreifer aus Haram seien damals in friedlicher Absicht zum Tahrir-Platz geritten, um gegen die Mauer um die Pyramiden zu protestieren, die sie von ihrem Stamm-Geschäftsplatz abgeschnitten habe.
Der Boss entscheidet mit winzigen Gesten, zarengleich. Plötzlich springt er auf
Dass der Ex-Diktator Mubarak jüngst freigelassen wurde, nun, der Mann sei 90 und spiele mit seinen Enkeln. Dass es Ägypten gerade nicht so glänzend geht: Schuld ausländischer Mächte, in jedem einzelnen Punkt. Die Revolution von 2011 – Mansur nennt sie „Zeit der Zerstörung“ –, die kurze Regierung der Muslimbrüder in den Jahren 2012 und 2013, die Anschläge auf Christen, Polizisten und Soldaten, auch und gerade rund um die Pyramiden: alles Verschwörungen, ausgeheckt von Amerika, Großbritannien, der Türkei, Europa oder Katar. So erkläre sich auch, dass derzeit so wenige Besucher nach Ägypten kommen: Bei Anschlägen in Frankreich werde ja wohl nicht gleich eine Reisewarnung ausgesprochen, oder? Letzteres, immerhin, ist nicht ganz von der Hand zu weisen.
Mansurs Coup aber ist die Behauptung, Donald Trump sei nur eine Kopie von ihm, Mansur, die Gesten, die Sprache, die Frisur. Er lässt Videos vorführen, die das in keiner Weise belegen, und freut sich wie ein Kind über die Verblüffung der meisten Zuschauer.
Das Büro ist voll geworden, die Reihe der Bittsteller lang. Verlegene junge Männer, vielleicht auf der Suche nach einem Platz im Fußballteam, zitternde Frauen, die um Aufschub für Zahlungsverpflichtungen bitten. Mehr ist nicht rauszukriegen, es herrscht Diskretion. Mansur entscheidet mit winzigen Gesten, zarengleich. Plötzlich springt er auf. Ein Mann an Krücken, Fan des Klubs seit Langem, hat ohne Erlaubnis fotografiert, berauscht von der Aura des Augenblicks.
Mansur brüllt, setzt sich, brüllt, springt auf, brüllt erneut. Die anderen lachen nervös und beschwichtigend. Umsonst. Da hinkt der unglückselige Fotograf auf den Fußball-Chef zu und küsst ihn in einer Demutsgeste auf die Stirn: „Bist du noch böse?“ Die Spannung weicht.
Unweigerlich denkt man an Filme, in denen Unterwelt-Bosse gemütliche Mafia-Runden verderben, weil sie den Kopf eines Teilnehmers mit einem Baseball-Schläger zertrümmern. Was ist das für ein System, das solche Figuren hervorbringt, was für Figuren, die alle Systeme überleben? Einziges Fazit: Wenn es nicht Mansur war, der die Reiter aus Haram auf die Aufständischen hetzte, dann muss es ein Mann wie er, dann müssen es Methoden wie diese gewesen sein.
Pharaonische Pläne
Zurück zu den Pyramiden, wo auf einer Art Parkplatz ein Titan der Antike der Zeit beim Verrinnen zusieht. Ramses II. zog vor elf Jahren hierher. Er hatte es vorher nicht schlecht getroffen, direkt vor dem Bahnhof, 1-A-Lage, viel Publikumsverkehr. Aber für die hohe Schadstoffbelastung war er mit seinen 3200 Jahren doch zu alt. Der Umzug war eine Weltsensation, zehn Stunden Fahrt, 1500 Soldaten, aber hätte man ihm verraten, dass seine 83 Tonnen im Frühjahr 2017 noch immer hinter Stahlmanschetten und schwarzen Tüchern eingeklemmt wären, hätte er sich’s vielleicht überlegt.
Die Sandalen des Tutanchamun sahen aus wie verbrannt – jetzt könnte man sie tragen
In der Mittagshitze ragt die Statue auf wie der Zeiger einer Sonnenuhr am Rande einer Baustelle, auf der das größte Museum der Welt entsteht, das Grand Egyptian Museum. Nur entsteht es leider schon sehr lange. Seit der Ausschreibung sind 16 Jahre vergangen, und man kann nicht sagen, dass sie alle mit fieberhafter Tätigkeit gefüllt waren. In den Wirren nach dem Mubarak-Sturz 2011 kam die Arbeit fast zum Erliegen. Inzwischen erkennt man Umrisse, Geschosseinteilung, Dachkonstruktion, die schiere Dimension: 90 000 Quadratmeter Ausstellungsfläche sollen es werden, mehr als der Louvre. Man ahnt das Atrium, wo Ramses II. irgendwann die Besucher begrüßen soll, die große Treppe für Dutzende weitere monumentale Statuen. Eine Galerie für den Schatz des Tutanchamun ist geplant, eine flugzeughallengroße Vitrine allein für Cheops’ nie ausgestellte zweite Sonnenbarke, ein Kindermuseum, kurz: „Es wird ein neues Bilbao werden, ein Flagship-Museum, das die nächsten 100 bis 150 Jahre das Museum Ägyptens sein soll“, sagt Tarek Taufik, der Direktor des Museums.
Taufik hat diesen Posten seit drei Jahren, er spricht ein tadelloses Deutsch, und er weiß: aus pharaonischer Perspektive sind 150 Jahre keine Zeit, aber Menschen, beispielsweise Gläubiger, haben weniger Geduld. Eine Milliarde Dollar soll der Wahnsinnsbau kosten, was nicht nur für ein Land mit begrenzten Einkünften wie Ägypten eine pyramidale Summe ist. Drei Viertel davon decken Kredite aus Japan, der letzte wurde vor ein paar Monaten gewährt, den Rest muss der ägyptische Staat aufbringen, dem es da auch nicht anders geht als Jimmy und seinen Kollegen: Es fehlen die Touristen, und damit fehlt das Geld. Und bald werden die ersten Kredite fällig.
Wenn man nun angesichts der dramatischen Verarmung vieler Menschen durch Inflation, Teuerung und Arbeitslosigkeit den Bau einfach Bau sein ließe und das bombastische Projekt auf Eis legte? Ganz schlechte Idee, sagt Taufik: „Würden wir jetzt aufhören und in fünf Jahren weiterbauen, es würde durch die neuen Verträge fünf Mal so teuer.“
Nachdem die Eröffnung des Museums längst hätte stattfinden sollen, aber Jahr um Jahr verschoben wurde, fassten Taufik und die Regierung einen, wie man noch sehen wird, nicht unumstrittenen Plan. Sie wollen die Abteilung mit dem Schatz des Tutanchamun bereits 2018 eröffnen, ein „soft opening“ vor der Öffnung des Gesamtkomplexes zwei Jahre später. Diese Abteilung zusammen mit dem Atrium und der großen Treppe kämen auf 15 000 Quadratmeter, rechnet Taufik vor, zwei Stunden brauche der Besucher, um allein diesen Teil zu würdigen, 5000 Objekte gebe es zu sehen, 3000 davon nie gezeigt: „Das wird ein vollwertiges Museum.“
Der Satz soll für den Moment unwidersprochen stehen bleiben, um einen Blick auf Tutanchamuns Sandalen zu werfen, für die das Grand Egyptian Museum ein Glücksfall ist, genauer, die Restaurierungslaboratorien, die seit Jahren fertiggestellt sind und arbeiten. Unter hohen Decken reinigen Restauratoren Statuen wie jene vier Figuren eines Priesters aus der 5. Dynastie, nehmen eine falsch zusammen gesetzte griechisch-römische Sphinx auseinander und setzen sie neu zusammen, kleben Totenmasken, fixieren Fußschemel.
Mohammed Aiad, 31, hat einen meterlangen Papyrustext nach einer neuen japanischen Methode restauriert – auf feinstem Japan-Papier, nicht unter schweren Glasscheiben, die das zarte Gewebe beschädigen. „Ein Zentrum wie unseres gab es in Ägypten noch nie, das gibt es überhaupt nirgends“, sagt er. Nach dem Studium hat Mohammed im Kundencenter einer Mobilfunkfirma gearbeitet. Ägyptens Mittelschicht investiert ein Vermögen in die Bildung ihrer Kinder, nur ist diese Investition fast nichts mehr wert. Hier aber kann der Restaurator endlich als Restaurator arbeiten und vom Weltniveau träumen.
In einem Karton liegen Rollen dunkler Stoffbänder – Tutanchamuns Unterwäsche. Sie lagerte, wie der ganze Schatz dieses berühmtesten Sohnes Ägyptens, im Ägyptischen Museum am Tahrir-Platz. Das Haus war sagenhaft überfüllt, vor allem die Magazine. Inzwischen ist nicht nur die Unterwäsche sauber aufgerollt. Auch die schwarzen Ledersandalen des Gottgleichen, deren Palmblatt-Fragmente zuvor wie verschmortes Gemüse aussahen, sind praktisch wieder tragbar.
Nur: Wenn der Schatz Tutanchamuns ins neue Museum nach Giseh gebracht wird und die Mumien in das ebenfalls neue Museum für Zivilisationen, das im Kairoer Stadtteil Fustat gebaut wurde, was bleibt dann übrig vom Ägyptischen Museum am Tahrir-Platz, der berühmtesten Rumpelkammer des Nahen Ostens? Antikenminister Chaled al-Anani hat diese Frage hundertmal gehört: „Alle Meisterwerke, alle großen Objekte bleiben am Tahrir-Platz.“
Wie Taufik ist auch der Minister ein Getriebener, der Vollstrecker fremder Pläne, geschmiedet in einer Zeit des Aufschwungs und märchenhafter Touristenzahlen. Dabei hat er nicht nur ein einzelnes, unvollendetes Museum übernommen, sondern zwanzig: neue wie das Museum für Zivilisationen, restaurierte wie das Griechisch-Römische Museum in Alexandria, zerbombte wie das soeben wiedereröffnete Museum für Islamische Kunst in Kairo oder das Museum im oberägyptischen Malawi.
Anani hat die Eintrittspreise für die Pyramiden erhöht, in Luxor und in Kairo ein Jahresticket für die Sehenswürdigkeiten eingeführt, das Ägyptische Museum einmal die Woche nachts geöffnet. Reicht das? „Ich brauche Geld, um die archäologischen Stätten zu schützen, die nach der Revolution geplündert wurden. Ich bezahle die 38 000 Angestellten meines Ministeriums aus den Tourismuseinnahmen, und die habe ich im Moment nicht, also muss ich mir beim Staat Geld leihen“, sagt Anani: „Wenn Sie mich fragen, ob ich das Grand Egyptian Museum heute noch einmal bauen würde? Auf keinen Fall.“
Der Duft der Vergangenheit
Kein Text über Pharaonen kommt ohne Zahi Hawass aus, und dieser erst recht nicht, denn die unfinanzierbaren Museen, das Grand Egyptian Museum, ja, die Gesamtplanung für das Pyramidenareal sind aus seiner Feder. Auf einem Bücherstapel in seinem Büro liegt Hawass’ Indiana-Jones-Hut, sein Markenzeichen, bald will er das Modell im großen Stil verkaufen. Er schnuppert daran und tut genüsslich: „Ah, der Duft der Vergangenheit!“
Zahi Hawass soll schuld sein am Blutvergießen. Doch er sagt, er habe die Pyramiden gerettet
Zur Gegenwart. Die Soft-Opening-Pläne mit der Tutanchamun-Abteilung hält er für Stuss. „Man eröffnet das ganze Museum oder gar nichts. 2018 ist die Metro zum Museum nicht fertig. Der Verkehr wird furchtbar sein. Wer will Tutanchamun auf einer Baustelle sehen? Warten wir bis November 2022 – dem 100. Jahrestag der Entdeckung des Tutanchamun-Schatzes durch Howard Carter.“
Aber kann denn das Soft Opening nicht neue Touristen nach Ägypten locken? Hawass entschieden: „Die Touristen werden nicht kommen.“ Lauter: „Sie werden nur kommen, wenn wir eine weltweite Kampagne machen.“ Noch lauter: „So wie ich es 2005 gemacht habe, als ich den Tutanchamun-Schatz auf Reisen geschickt habe!“ Mit hervortretenden Augen: „Solche Kampagnen brauchen wir wieder! Jetzt! Nicht 2018!“ – In Ordnung, nur bitte nicht mehr schreien. – „Ich meine Sie ja gar nicht, sondern die anderen.“
Er glaubt das tatsächlich: dass die Welt nur von den Schätzen Ägyptens erfahren müsse, dann werde sie auch wieder kommen. Als seien die Pyramiden ein Geheimtipp, als halte nicht Angst, sondern ein Beratungsdefizit die Menschen von einer Reise ab. Hawass war fast zehn Jahre Chef der Antikenbehörde und nach dem Mubarak-Sturz ein paar Monate auf dem damals neu geschaffenen Posten des Antikenministers. Mancher vermutete, er werde danach vor Gericht landen, weil er der Mubarak-Gattin Susanne sehr verbunden war, doch dazu kam es nicht.
Dabei war er, Hawass, der wahre Grund für die Kamel-Schlacht auf dem Tahrir-Platz 2011. Die Mauer um die Pyramiden, die die empörten Kamel-Treiber auf den Tahrir-Platz gebracht hatte – sie war seine Idee. Er ist sogar stolz darauf: „Es war das Beste, was ich je getan habe. Die Pyramiden waren bedroht. Ich habe sie gerettet.“
Natürlich hält er auch den nächsten Schritt für alternativlos: Der am stärksten frequentierte Zugang zu den Pyramiden soll geschlossen und nur noch ein Eingang aus der Wüste möglich sein. In Golfwagen sollen die Besucher zwischen Cheops und Chephren herumgefahren werden, während Kutschen, Kamele und Verkäufer draußen warten. Die Händler sind skeptisch. Shops und Restaurants sollen entwickelt werden, schön, aber werden wir noch weiter von den Kunden entfernt? Hawass ist unbeeindruckt: „Das Problem ist: Bei den Pyramiden redet jeder mit. Diese Leute beklagen sich, aber sie begreifen nicht. Sie haben eine goldene Schale, und anstatt sie zu polieren und Geld damit zu machen, pinkeln sie rein, sie kacken rein. Aber ich muss die Pyramiden schützen. Für Ägypten. Für die Ägypter.“
Eine Zwiebel hilft gegen den Kobra-Biss. Aber was bitte hilft gegen die Regierung?
Also für Leute wie Hussein? Aus Husseins Perspektive immerhin arbeiten Hawass und er durchaus in ähnlichen Metiers. Hussein – er nennt sich der „Jäger“ – ist Grabräuber. Er ist außerdem Schlangenjäger, Fallensteller und Vogelfänger, aber das Geld bringen Skarabäen oder Affenfiguren, die er in Einmachgläsern aufbewahrt. Hussein heißt selbstverständlich anders und lebt in einem der Nester um die Pyramiden, die weder Krankenhaus noch Polizeistation und manchmal nicht mal eine Schule besitzen.
Hussein hat drei Kinder, keine Möbel außer Kisten mit Sägespänen, in denen er Schlangen und Eidechsen hält, die er dann an medizinische Einrichtungen verkauft. So sagt er. Seit Monaten geht er nicht mehr auf die Jagd, weil Polizei und Armee im Anti-Terror-Kampf auf den Feldern zwischen Dschihadisten und Nicht-Dschihadisten nicht so fein unterscheiden.
Zwiebel hilft gegen einen Kobrabiss, Limonensaft gegen einen Skorpionstich, zählt er auf: „Aber was hilft gegen die Regierung?“ Es brodelt, sagt er, Dreiviertel des Dorfes fressen ihren Zorn in sich hinein, den Zorn auf Präsident Abdel Fatah al-Sisi, die „Dattel“, zu Deutsch: die dumme Nuss. „Sisi macht uns fertig, er bringt uns um.“
Und das neue Museum? Es soll Jobs bringen, das Erbe der Antike für künftige Generationen sichern. Hussein bleibt hart: „Keine Ahnung, für wen die Politiker das alles anstellen, sie tun es nicht für mich. Um mich kümmert sich kein Mensch. Die Antike ist mir egal. Ich muss überleben.“
Abseits der Bühne
Wie auch immer Hawass’ Nachfolger das Viertel entwickeln, das Aisch al-Bulbul dürfte auf der Karte empfehlenswerter Destinationen unerwähnt bleiben. Über Tutanchamuns Sandalen, selbstgestohlene Skarabäen spricht Ägypten gern. Über das Aisch al-Bulbul nur hinter vorgehaltener Hand.
Erst wenn sich die Nacht auf die Pyramiden senkt, regt sich im Aisch al-Bulbul Leben. Nest der Nachtigall, so heißt das bekannteste Etablissement der Stadt wörtlich, und es klingt für Ägypter nicht romantisch, sondern nach einer Behausung für das männliche Genital. Die Anlage liegt ein wenig versteckt hinter einem Villenriegel, Luftlinie vielleicht zwei Kilometer von der Museumsbaustelle und drei von den Pyramiden entfernt. Herzstück ist ein Bungalow mit einer Windmühle darauf, der allen Ernstes „Moulin Rouge“ heißt. Tagsüber sieht man verfallene Häuser und Müllberge. Nachts weisen pinkfarbene Neonleuchten den Arabern und anderen Interessierten den Weg, neben den schweren Limousinen warten die Fahrer.
Jeder in der Gegend kennt das Aisch al-Bulbul. Alle raten Frauen von einem Besuch bei Nacht ab. Von Waffenschmuggel ist die Rede, von Geldwäsche und Drogen. Von Müttern, die ihre Töchter verkaufen.
Der Manager des Ladens, nennen wir ihn Herrn Mahmoud, hat überhaupt nichts gegen Journalisten, nur würde er gern eine Erlaubnis sehen, nicht die staatliche Pressekarte, sondern irgendwas von der Polizei, der Staatssicherheit, ein Okay von seinen Bossen, wobei er offenlässt, ob seine Bosse und die Staatssicherheit dasselbe sind oder getrennte Branchen.
Er führt mit gepresster Stimme ein Telefonat mit einem Unbekannten, das einen jähen Umschwung ins Joviale bewirkt. Sehr gerne werde er alle Fragen beantworten. Wie lange es seinen Club schon gebe? – „Oh, ewig, mindestens dreißig Jahre.“ – Die Kunden? – „Viele Atheisten, viele Araber. Auch Stammkunden.“ – Die Geschäfte rundum laufen ja nicht so gut. Und bei Ihnen? – „Ich kann nicht klagen. Gott und Präsident Sisi sei Dank erholt sich der Tourismus.“ Der Aufenthalt im Nest der Nachtigall, es liegt auf der Hand, lässt sich nur um den Anschein maximaler Naivität fortsetzen. Natürlich wüsste man gern, was John, der Amerikaner, hier macht, schwarzer Blouson, monströser Bizeps, Zuhältertyp. Er sieht nicht aus, als wisse er Neugier zu schätzen.
Erstaunlich unproblematisch ist hingegen der Blick ins Innere. Durch den schummerigen Saal führt ein Laufsteg wie eine Schneise. An den Wänden hängen Bilder von Cabarets, die Säulen enden in einer Art Schraubenmutter-Kapitell. Auf den Tischen stehen Obst und Gemüse in ausladenden Alu-Dekorationen. Alles mehr Butterfahrt als Bordell.
Die erste Bauchtänzerin wogt auf die Bühne, das goldene Kleid klafft vorn auf und gibt den Blick auf ein gigantisches kettenhemdartiges Bustier frei. Sie lädt einen jungen Saudi zum Tanzen ein, der grinsend über die Bühne stolpert. Der Manager lässt Geldscheine auf die Gäste regnen, als wolle er sie zur Großzügigkeit animieren, aber die Geste verpufft, weil er die Noten sofort wieder einsammeln lässt.
Dann kommen die Frauen, immer zu zweit, eindeutig Professionelle, thematisch festgelegt: Eine Mädchenhafte, mindestens 30, mit rotem Teddy, Haar-Extensions bis zu den Knien und einem Hemdchen, das sie vor Interessierten mit Babygeste hebt. Eine Zweite in Nietenjeans und Tanktop, eine Dritte im Flokati-Jäckchen. Einige Gäste rauchen Wasserpfeife. Alle behandeln die Kellner wie alte Freunde, alle wissen inzwischen, dass Journalisten zuschauen. Welche Geschäfte auch immer in dieser Nacht abgewickelt werden, sie geschehen nicht auf dieser Bühne.
Vielleicht muss das Mädchen für eine Nacht mit einem Saudi gehen. Oder für einen Sommer
Gegen halb zwei ein betont herzlicher Abschied. Der Manager drückt übertriebenes Bedauern aus. Jetzt schon? Dabei müsse man unbedingt den Rest der Show anschauen! Seine Erleichterung über das Ende des Besuchs kann er aber auch nicht ganz verbergen.
Draußen, am Fuß der Treppe ins Moulin Rouge, hält ein Taxi. Eine Frau im schwarzen Kopftuch steigt aus, seltsam konservativ gekleidet für dieses Milieu. Entschlossen schreitet sie hinauf, an der Hand ein vielleicht 14-jähriges Mädchen. Die Frau könnte seine Mutter sein, aber auch eine Kupplerin. Vielleicht muss das Mädchen für eine Nacht mit einem der Saudis gehen, vielleicht für einen Sommer. So sind die Gesetze dieses Viertels.
Oft lassen die Gäste der Clubs die Nacht mit einem Ritt ausklingen, zuckeln die Pferdestraße hinab in die Wüste, vorbei an den Pyramiden von Giseh Richtung Memphis, der alten Hauptstadt, zu den Nekropolen von Abu Sir, Sakkara und Dahschur. Die meisten schwanken wie Mehlsäcke auf Speed, vielleicht sind sie Anfänger, vielleicht noch betrunken.
Die Morgensonne begrüßt sie sanft, begrüßt dieses Land, in dem das Erhabene und die Gosse Nachbarn sind. Begrüßt eine Region, die der Menschheit die Stadt, die Schrift und das Rad schenkte, und deren Bewohner manchmal wirken, als sei die eigene Vergangenheit für sie ein anderer Planet. Ohne die Größe der Antike wären sie heute einfach nur Menschen in schwierigen Zeiten. Und nicht die Kinder von Titanen.