• Gold und Gier

    Niederlande: Ein Pazifikreich

    Im 17. Jahrhundert war die niederländische Monarchie weltweit in Geistes- und Naturwissenschaften, Kunst und Kultur tonangebend – das „Goldene Zeitalter der Niederlande“ wird es genannt. Dabei hatten sie sich vor allem durch ihre Kolonialpolitik vergoldet, genauer: durch den immensen Reichtum, den sie sich durch ausbeuterische Handelspolitik aneigneten. Dafür nutzten sie große Schiffsgesellschaften, die Niederländische Ostindien-Kompanie (VOC) und ihr westliches Pendant (WIC), die durch Handels- und Landpachtverträge riesige Gebiete in ihre Gewalt brachten.

    Zwar galten die Niederlande lange als eine vergleichsweise eher sanfte Kolonialmacht, da sie die meisten ihrer Gebiete nicht direkt durch Soldaten erobert hatten. Allerdings setzten sie ihre Interessen ebenfalls mit brutaler Gewalt durch. So ließ die VOC systematisch Einheimische ermorden und vertreiben, um den Handel an sich zu reißen. Auch waren die Niederlande 1863 eines der letzten europäischen Länder, die die Sklaverei abschafften, nachdem sie zuvor mehr als eine halbe Million Afrikaner und Afrikanerinnen nach Südamerika und in die Karibik verkauft hatten. Niederländische Stützpunkte lagen insbesondere an Küsten, von dort aus wurden die maritimen Handelsrouten kontrolliert: an der Südspitze und an der westlichen Küste Afrikas, sowie der Ostküste Süd- und Nordamerikas – darunter war auch der Stützpunkt „Nieuw Amsterdam“, das heutige New York.

    Aber keine dieser Kolonien war für die Niederlande über eine so lange Zeitspanne entscheidend wie das heutige Indonesien, wo sich die Kolonialisten durch Gewürzhandel über 350 Jahre hinweg extrem bereicherten. Die Niederlande prägten damit ein Land, das heute über 270 Millionen Einwohner hat und eine der heterogensten Nationen der Welt ist; mehr als 300 Ethnien sind dort beheimatet. Große Teile dieses Archipels wurden überhaupt erst durch die Niederlande zusammengezwungen, damals unter dem Namen „Niederländisch-Indien“. Dass für Indonesien diese einzigartige Diversität bis heute eine Herausforderung ist, spiegelt sich dabei sogar im Staatsmotto wieder: „Einheit in Vielfalt.“

    Zwischen 1945 und 1949 führten die Indonesier und Indonesierinnen, da die holländische Macht nach dem Zweiten Weltkrieg zerrüttet war, einen Unabhängigkeitskrieg. Letztere nannten ihre brutale militärische Reaktion „Polizeiaktionen“ – bei denen mehr als 100 000 Menschen ums Leben kamen. Die niederländische Seite verzeichnete über 5000 Tote. Wie in vielen ehemaligen Kolonien führte das Machtvakuum in eine nationalistische Autokratie, hier sogar zu einem Massenmord an Kommunisten und angeblichen Kommunisten durch Indonesiens Herrscher. Seit 2004 finden jedoch Wahlen statt, und Indonesien gilt als flawed democracy – eine mangelhafte Demokratie. Immerhin.

    Nach der Unabhängigkeit emigrierten gut 300 000 Menschen mit einem niederländischen Pass aus Indonesien, die meisten in die Niederlande. Die Situation vieler dieser Menschen blieb prekär, die Kolonialgeschichte wurde kaum aufgearbeitet. Erst 2013 entschuldigten sich die Niederlande offiziell für die Gräuel des Unabhängigkeitskrieges, in seltenen Fällen werden auch Angehörige der Opfer entschädigt. Vergangenes Jahr etwa wurden einem Indonesier 10 000 Euro Schadenersatz dafür zugesprochen, dass er 1947 in seinem Dorf hatte miterleben müssen, wie ein niederländischer Soldat seinen Vater tötete. Magdalena Pulz

    SZ-Grafik: saru
  • Genozid in der Wüste

    Deutsches Reich: Nur 30 Jahre

    Das einzig Gute, was sich vom deutschen Kolonialabenteuer berichten lässt, ist sein frühes Ende. Durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg 1918 büßte das Deutsche Reich seine Kolonien in Afrika und in Ostasien ein, die es erst nach 1884 bekommen hatte. Unter dem verpeilt-nationalistischen Kaiser Wilhelm II. sollten Flottenbau und Kolonien dem Reich den „Platz an der Sonne“ sichern, doch waren die meisten Gebiete ein Verlustgeschäft. Die traditionellen Kolonialmächte hatten sich bereits die einträglichen Plätze gesichert.

    In Namibia, ehemals Deutsch-Südwestafrika, erinnern Giebelhäuser, Straßennamen und die etwa 25 000 Menschen zählende deutsche Minderheit samt eigener Zeitung bis heute an die kurzlebige Herrschaft des Kaiserreichs – und die Mahnmale für die Opfer des ersten Genozids des 20. Jahrhunderts. 1904 bis 1908 warf die „Schutztruppe“ einen Aufstand der Herero und Nama nieder und ließ die Besiegten in der Wüste verdursten oder in Lagern sterben (heute gibt es eine sehr überflüssige Debatte hierzulande, ob man diesen Völkermord auch Völkermord nennen dürfe).

    Ein überraschendes und hoffentlich nicht nur vorläufiges Happy End bietet die neueste Geschichte. Bis 1989 war Namibia zwar ein militärischer Vorposten des Apartheidregimes in Südafrika. Die aus der sozialistischen Widerstandstruppe Swapo hervorgegangene Regierung schaffte aber, was ihr wenige zugetraut hatten: die vielen Ethnien zu einer Regenbogennation zusammenzufügen. Bodenschätze und nachhaltiger Tourismus tragen zur Stabilität bei. Entschädigungen für die Kolonialgräuel lehnt Berlin ab, leistet aber viel Entwicklungshilfe für das Land – das dennoch mehr Zuwendung verdient hätte. Das umstrittenste Denkmal Namibias, den „Schutztruppenreiter“ von 1913, hat man übrigens einfach von seinem Sockel über der Hauptstadt Windhoek geholt und als simples Ausstellungsstück in den Hof des Geschichtsmuseums „Alte Feste“ gestellt. So cool und klar kann der Umgang mit den Dämonen der Geschichte sein. Joachim Käppner

  • "Die Bürde des Weißen Mannes"

    Großbritannien: Empire der Illusion

    Eine Rebellion, in Blut erstickt: Britische Kavallerie bei der Niederschlagung des Sepoy-Aufstandes in Indien 1857. (Foto: Mauritius)

    Es war, wie Winston Churchill schrieb, „eine der großen Stunden im Leben“. Der unbeugsame britische Kriegspremier war auf dem Schlachtschiff Prince of Wales zum Treffen mit US-Präsident Franklin D. Roosevelt gekommen. Am 9. August 1941 unterzeichneten sie die „Atlantik-Charta“, den humanen Gegenentwurf zur Terrorwelt Nazideutschlands. Zugleich, ohne es zu wollen, unterschrieb Churchill das Ende des Empire.

    Denn der Wille, „eine bessere Zukunft zu schaffen“, in der die Menschen frei und die Völker selbstbestimmt leben, ließ sich nun gar nicht mit dem größten Kolonialreich der Geschichte vereinbaren. Die Handels- und Seemacht Großbritannien beherrschte ein Viertel der Weltbevölkerung und riesige Territorien, als deren „Perle“ Indien galt. London war das Herz des Welthandels. Güter und Ressourcen der unterworfenen Gebiete nährten die britische Industrie.

    Der britische Kolonialismus war stärker als andere bemüht, sich als zivilisatorisches Projekt hinzustellen, das den Unterworfenen Wohlstand und Frieden verschaffe; eben dies sei „die Bürde des weißen Mannes“, wie es der Schriftsteller Rudyard Kipling nannte. Nostalgiker des Empire wie Churchill vertraten diese Illusion bis zuletzt. Der Autor Joseph Conrad dagegen zeichnete auch den britischen Kolonialismus 1899 als „Herz der Finsternis“, in dem selbst der grausame Elfenbeinhändler Kurtz sein Leben mit den Worten „das Grauen, das Grauen“ beschließt. Auch im Empire wurden Rebellionen in Blut erstickt. Noch 1919 kostete das Massaker im indischen Amritsar Hunderte friedliche Demonstranten das Leben. Die Ressourcen des Empire und Truppen seiner weitgehend autonomen Staaten Südafrika, Neuseeland, Australien und Kanada halfen Großbritannien 1940/41, als letzte Bastion der Demokratie standzuhalten. Dann aber war die Zeit des Empire vorüber, mit Ausnahmen (wie Indien oder Malaysia) gelang ein vergleichsweise geordneter Weg der Kolonien in die Unabhängigkeit. Millionen Menschen von dort wanderten später als Bürger des Commonwealth nach Großbritannien ein. Viele von ihnen stiegen auf in Gesellschaft und Politik, so ist Londons erster muslimischer Bürgermeister, Sadiq Khan, Sohn einer aus Pakistan stammenden Familie. Dennoch gibt es bei der Integration massive Defizite und eine entsprechend intensive Rassismus-Debatte.

    2020, am Rande einer „Black Lives Matter“-Demonstration, wurde Churchills Statue in London mit dem Wort „Rassist“ beschmiert, eine Attacke, die das Andenken des Mannes nicht verdient, ohne den die Nazis 1940 sehr wahrscheinlich den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte. Aber der Vorfall erinnert daran: Menschenrechte sind nicht teilbar, für niemanden. Joachim Käppner

  • Später Traum vom Imperium

    Italien: Giftgas und Granaten

    Italien war keine der mächtigsten Kolonialmächte und eine der spätesten: Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts beteiligte sich das Land am Wettlauf auf die verbleibenden Gebiete in Afrika, dem „cramble for Africa“. Grund hierfür ist, ähnlich wie im Falle des Deutschen Reichs, dass Italien sich zuvor als Nationalstaat noch konsolidieren musste. 1889/90 kolonialisierten die Italiener Eritrea und Somalia. Beim Angriff auf das Kaiserreich Abessinien (das heutige Äthiopien) aber erlitt Italien eine vernichtende Niederlage, eine Besonderheit in der Geschichte des Kolonialismus – Abessinien blieb frei, vorerst.

    Ebenfalls begehrenswert war für Italien das nahe Nordafrika. Das Osmanische Reich, das noch Libyen beherrschte, schwächelte stark. Als die Osmanen besiegt waren, setzten libysche Einheimische unter ihrem Helden Omar Mukhtar den Kampf um ihre Freiheit weiter, letztlich vergeblich. Als 1922 Italiens Faschisten unter Benito Mussolini die Macht an sich rissen, begann eine besonders grausame Spätphase des italienischen Kolonialismus. In Konzentrationslagern wurden 40 000 Libyer und Libyerinnen getötet: Erschossen, dem Hungertod ausgesetzt, durch Gas ermordet oder bei lebendigem Leib verbrannt. Auch Äthiopien wurde nun besetzt, was anders als im 19. Jahrhundert weltweit Entsetzen hervorrief, auch hier kam Giftgas zum Einsatz, Hunderttausende wurden getötet. Vor ein Gericht kamen diese Taten nie – auch weil Italien, dessen Kolonien bis 1943 von den Alliierten befreit wurden, im selben Jahr auf deren Seite wechselte und es kein Tribunal wie 1945 in Nürnberg gab.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg näherten sich Italien und Libyen an, durch ökonomische Kooperationen, aber auch durch ein offizielles Schuldeingeständnis Roms 1999 für die Verbrechen der Kolonialzeit. Anders als in Frankreich wanderten nur wenige Migranten aus den Ex-Kolonien nach Italien ein. Durch den Bürgerkrieg in Libyen verliert Italien dort Einfluss, auch zugunsten eines Staates, den es einst von dort verdrängt hatte: der Türkei, vormals das Osmanische Reich. Magdalena Pulz

  • Grauen im Kongo

    Belgien: Des Königs Privatreich

    König Leopold II. als Würgeschlange: In Belgisch-Kongo waren die Einheimischen faktisch Sklaven, wie diese Karikatur von 1906 kritisiert. (Foto: Mauritius)

    Bei der „Kongo-Konferenz“, die 1884 und 1885 unter der Leitung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck in Berlin stattfand, wurde das Gebiet der heutigen Demokratischen Republik Kongo Belgiens König Leopold II. als Privatbesitz zugesprochen. In der Folge wurde im „Kongo-Freistaat“ ein besonders brutales System der Ausbeutung etabliert: Der König vergab Nutzungsrechte an Unternehmen, die die lokale Bevölkerung als Zwangsarbeiter missbrauchten. Provinzverwalter sowie die „Force Publique“, eine Armee aus afrikanischen Söldnern unter dem Kommando europäischer Offiziere, überwachten, dass bestimmte „Kautschuk-Quoten“ erfüllt wurden.

    Wer sie nicht erfüllte oder sich wehrte, wurde erschossen oder ausgepeitscht. Frauen wurden als Geiseln genommen und vergewaltigt, Aufstände niedergeschlagen, unzähligen Menschen Gliedmaßen abgehackt. Durch die Zerstörung der traditionellen Landwirtschaft machten die belgischen Kolonialisten die Bevölkerung zudem abhängig von Nahrungsmittellieferungen. Die Gewinne aus dem Kautschukabbau flossen fast vollständig in die Tasche König Leopolds II.

    Als die Taten, die schätzungsweise zehn Millionen Menschen das Leben gekostet haben, zu Beginn des 20. Jahrhunderts als „Kongogräuel“ bekannt wurden und international Empörung auslösten, sah sich Leopold II. gezwungen, den Kongo 1908 an den belgischen Staat zu verkaufen. Doch auch in der Kolonie „Belgisch-Kongo“ endete die Ausbeutung von Mensch und Natur nicht. 1920, nach dem Ersten Weltkrieg, ging zusätzlich ein Teil von Deutsch-Ostafrika, die heutigen Staaten Ruanda und Burundi, an Belgien über. Im Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche Rohstoffe für die Kriegswirtschaft im Kongo abgebaut, unter anderem Uran für das US-Atomwaffenprogramm.

    In den Fünfzigerjahren wuchs der Widerstand der Bevölkerung. Erst 1958 erlaubte Belgien die Gründung politischer Parteien, die sehr bald die Unabhängigkeit forderten. Die folgenden Unruhen wurden von belgischen Soldaten zwar niedergeschlagen, doch der Wandel war nicht mehr aufzuhalten: Am 30. Juni 1960 wurde der Kongo unabhängig und Patrice Lumumba erster Ministerpräsident.

    Ungefähr 110 000 Menschen mit Wurzeln in den Ex-Kolonien Kongo, Ruanda oder Burundi leben heute in Belgien, eine Minderheit auch unter den gut 25 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund im Land. Viele von ihnen haben seit der Reform des belgischen Staatsbürgerschaftsrechts auch einen belgischen Pass. Bis heute wurde die eigene und besonders düstere Kolonialvergangenheit in Belgien nicht ausreichend aufgearbeitet, doch aktuell ist etwas in Bewegung geraten: Im Zuge der „Black Lives Matter“-Bewegung kam es im Juni 2020 in Brüssel zu einer Demonstration mit 10 000 Teilnehmern, und in den vergangenen Monaten wurden aus Protest im ganzen Land zahlreiche Statuen von Leopold II. beschmiert.

    Zum 60. Jahrestag der Unabhängigkeit am 30. Juni drückte der belgische König Philippe dem kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi sein Bedauern über die Gräueltaten seines Vorfahren aus – ein bisher einmaliger Vorgang. Kürzlich wurde zudem eine parlamentarische „Kommission für Wahrheit und Versöhnung“ eingesetzt, um die Rolle Belgiens in Afrika zu untersuchen und sich regelmäßig mit Vertretern von Diaspora-Organisationen auszutauschen. Es wird viel zu tun sein. Nadja Schlüter