Wo die Hoffnung liegt

Ein Jahr nach ihrer Abschiebung: Wie Afghanen auf Lesbos und in Kabul alles daran setzen, um wieder nach Deutschland zu gelangen.

Text: Tomas Avenarius, Bernd Kastner und Jan Heidtmann. Fotos: Jakob Berr und Sandra Calligaro

Es ist, als wölbe sich die Erde auf, als dränge sie nach oben, eine hässliche Beule inmitten einer wunderschönen Landschaft. Wer nähertritt, erkennt zwischen den grellen Rot- und Gelbtönen, dem Neonorange und dem Blassblau einzelne Rechtecke und Riemen aus Nylon, Polyester, Segeltuch. Die hässliche Beule, das sind Tausende übereinanderliegende Schwimmwesten, verschmutzt, zerdrückt, zerfetzt, dazwischen finden sich Reste von Schlauchbooten, Rudern, Außenbordmotoren. Ein Haufen Hoffnung. Baqer Alizada schaut seinen Freund Hussain Ali Samadi lange an, erstaunt, zweifelnd, fassungslos.

Dann sagt er nur: „So viele Menschen.“ Sie stehen vor dem Berg aus Westen und Bootsresten und verfallen in Schweigen.

Gut möglich, dass in dem Abfallberg auch Samadis und Alizadas eigene Westen liegen. Sie trugen sie am 26. September, als sie frühmorgens mit 33 anderen Flüchtlingen im Schlauchboot auf Lesbos anlandeten, erschöpft, aber erleichtert. Erst nach einigen Stunden wurden sie damals von Helfern gefunden.

Im April vergangenen Jahres hat die SZ die beiden Afghanen in Kabul zum ersten Mal getroffen. Sie waren aus Deutschland abgeschoben worden und hatten erzählt, wie verloren sie sich fühlten in ihrer Heimat, aus der sie geflohen waren. Um sie zu schützen, wurden ihre Namen geändert.

Sechs Monate, bevor die beiden Afghanen an dem Berg aus Rettungswesten stehen, im September, gab es zum ersten Mal wieder ein Lebenszeichen von ihnen. Samadi hatte eine SMS geschickt, dazu ein Foto. „Ich bin der Kapitän“, hatte er geschrieben. Auf dem Bild sah man Samadi im Heck eines Schlauchbootes hocken, wie er die Pinne eines Außenbordmotors umklammert, um den Leib hatte er sich eine grell-orange Schwimmweste gezurrt. Vor ihm lag das Meer, im Rücken, grell orange wie seine Rettungsweste, ging die Sonne auf. Samadi reckte das Kinn nach vorne, wirkte, als sei er zu allem entschlossen. Irgendwo auf dem Mittelmeer muss das gewesen sein. Hussain Ali Samadi, 25 Jahre alt und nur wenige Jahre auf einer Schule, war also wieder auf der Flucht.

Ali Samadi

Samadi stammt aus dem Norden Afghanistans. Mit 18 Jahren floh er nach Deutschland, wo er in Würzburg in einem Asia-Imbiss als Nudelkoch gearbeitet hat. Noch heute besitzt Samadi die Lohnabrechnungen. Die sechs Jahre in Deutschland, sagt er immer wieder, seien „sehr, sehr glücklich“ gewesen.

Bei der ersten Begegnung mit Samadi in Kabul im April 2017, knapp drei Monate nach seiner Abschiebung, war von diesem Glück nichts mehr zu spüren. Er steckte in einer Sackgasse, genauso wie Baqer Alizada, auch er hatte im Abschiebeflug IG 2080 gesessen. Zwei von 26 Afghanen, die am 23. Januar 2017 ausgeflogen wurden und am 24. Januar frühmorgens um zehn nach sieben wieder in dem Land angekommen waren, in dem sie nicht mehr leben wollen und aus dem sie geflohen sind. Ihre Asylanträge waren abgelehnt worden oder ihre Duldungen abgelaufen. Polizeibeamte hatten sie abgeholt und zum Frankfurter Flughafen gefahren. An Bord der Chartermaschine haben sich Samadi und Alizada angefreundet, notgedrungen.

Sie waren in Kabul angekommen, einer Stadt mit Checkpoints, Schlagbäumen, Sandsack-Bunkern, in der alle die Belagerer fürchten, aber keiner die Belagerer sieht. In Kabul erlebt Samadi drei Terroranschläge, verübt von Taliban oder dem „Islamischem Staat“. Überall patrouillieren Uniformierte mit Waffen, in den Straßen lungern Diebe und Schläger. Samadi und Alizada finden keine Bleibe, haben keine Familie, keine Freunde, keine Jobs. Sie haben nur sich – und die Hoffnung, nach Deutschland zurückzukehren. Nun, fast neun Monate später, sind sie wieder auf der Flucht. Sie haben es bis nach Lesbos geschafft, aber in ihren Flüchtlingsausweisen prangt jetzt ein roter Stempel auf der letzten Seite. Der Stempel besagt: „Die Person darf Lesbos nicht verlassen.“

Der rote Stempel bedeutet: Hier ist die Reise zu Ende
Der rote Stempel bedeutet: Hier ist die Reise zu Ende

Seit Monaten hausen die beiden Afghanen im EU-Auffanglager Moria, einem von fünf griechischen „Hotspots“ an der EU-Außengrenze zur Türkei, in einem hüfthohen Biwak-Zelt, in den Wohncontainern war kein Platz mehr für sie. Sind sie im Zelt, müssen sie kauern oder liegen, sind sie draußen, frieren sie in Wind und Regen. „Die meiste Zeit sind wir im Zelt“, sagt der 26-jährige Alizada. „Hier im Lager gibt es kein Fernsehen, Sport kann man auch nicht machen.“ Wenn es kalt wird, wie jetzt, ziehen sie drei Hemden und Pullover übereinander, stellen den billigen chinesischen Heizlüfter an. Sie können dann nur hoffen, dass das Zelt nicht Feuer fängt.

Samadi und Alizada, der eine klein und drahtig, der andere größer, mit Silberkettchen, Ohrring und sehr wenig Haare über der Stirn. Zwei der zehn Abgeschobenen von Flug IG 2080, die in Kabul noch zu finden gewesen waren im Frühjahr 2017. Alizada , der bis zur Abschiebung in Niederbayern gelebt hatte, sagte damals in Kabul: „Was soll ich in Afghanistan? Ich will zurück nach Deutschland.“ Heute, in Moria und trotz Polizeieinsatz und Abschiebung wieder auf der Flucht, sagt er: „Klar will ich zurück nach Deutschland, nach Bayern, nach Straubing. Wieder zum Gäubodenfest.“

Abschieben. Was von Politikern oft als probates Mittel der Flüchtlingspolitik gepriesen wird, funktioniert offenbar nicht. Zumindest nicht immer. Es sind nicht nur Samadi und Alizada, die einen weiteren Anlauf wagen in ein besseres Leben in Europa. Mindestens fünf der Abgeschobenen von Flug IG 2080 sind längst wieder auf dem Weg nach Deutschland. Die Freunde Samadi und Alizada hängen auf Lesbos fest, ein weiterer Mann soll in der Türkei unterwegs sein. Ein anderer hat seine legale Rückkehr von Kabul nach Deutschland durchgesetzt, er lebt schon seit vier Monaten wieder in Bayern. Ein anderer könnte bald folgen, um eine Münchnerin zu heiraten, Verheiratete dürfen nämlich meist bleiben. Er müsste dann aber auch 10 000 Euro auftreiben, diesen Betrag stellen ihm die deutschen Behörden für seine Abschiebung in Rechnung.

Das Lager

Das Auffanglager Moria ist ein deprimierender Ort. Die Bewohner scheinen ununterbrochen in Bewegung zu sein, sie gehen, rennen, drängen die Wege hinauf und herunter, schieben und schubsen zwischen den Zelten und Containern, dem mit noch höheren Zäunen und noch mehr Nato-Draht gesicherten Innenbereich. Dort sitzt die Lagerverwaltung, dort hat auch die Polizei ihren Stützpunkt. Die meisten Flüchtlinge sind junge Männer, wie Alizada und Samadi, gelangweilt und überreizt, aggressiv vom Nichtstun und der Perspektivlosigkeit. Es wird geschlagen, gestohlen, getrickst, gelogen. Die Faust fliegt schnell, ein Knüppel oder eine Metallstange findet sich immer. Jeder trägt ein Telefon mit sich herum, das Handy ist die Nabelschnur in ein anderes Leben.

Ein Streit in Moria kann schnell eskalieren

„Afghanen, Araber, Kurden, Afrikaner – wir mögen uns nicht“, sagt Alizada. „Es gibt immer Streit, ums Essen, ums Duschen, um irgendwas.“ Die 67 griechischen Polizisten im Lager fürchten die Zusammenstöße, wirken trotz Schlagstöcken und Stiefeln hilflos. Zelte und Wohncontainer werden überfallen, zerstört, ausgeraubt. „Moria ist sehr gefährlich“, sagt auch Samadi, der sonst immer gelassen wirkt. „Wenn du Streit hast mit einem, kommen fünf oder zehn oder 15 andere, mit Messern.“ Und Dimitri Vafeas, der Vize-Direktor des Lagers, sagt achselzuckend: „Plötzlich gehen da Algerier auf Marokkaner und Afghanen auf Syrer los. Was weiß ich denn, warum?“ Ein Flüchtlingslager ist Transitzone, ein Zuhause kann es niemals sein.

Vor den Zelten und Containern kochen Frauen auf offenen Feuern Essen, so wie sie es aus der Heimat kennen. Manche befreien das Lageressen, für das sie stundenlang anstehen, von Soße und Gewürzen, kochen es noch einmal, auf die gewohnte Art. So wird das Essen zu Heimat. Um die Frauen herum rennen Kinder, es ist eine Jugend in Schmutz und Elend. Im Winter ist es kalt, windig, feucht und schlammig, im Sommer wird es heiß und stickig sein.

Kinder wachsen im Lager in Schmutz und Elend auf
Kinder wachsen im Lager in Schmutz und Elend auf

Wenn sie dann noch da sind und nicht zurückgeschickt worden sind in die Türkei oder in ihre Heimat. Die Glücklicheren werden es vielleicht nach Athen geschafft haben, zur Asylanhörung auf dem Festland, dort stehen die Chancen besser. Im internationalen Krisenkauderwelsch heißen sie die „am stärksten verletzlichen Personen“. Es sind die, die den griechischen Behörden und den EU-Vertretern Folter, Vergewaltigung, Verfolgung und andere Traumata glaubhaft machen können. Alizada, der selten klagt und vieles wegsteckt, sagt: „Die Psychologen fragen einen, ob man schlecht schläft, schreckliche Sachen träumt.“ Er hat ihnen von einem früheren Selbstmordversuch erzählt, aber dann schüttelt er den Kopf und sagt: „Bei denen muss man gut reden können. Ich habe das nicht so gut hingekriegt.“

Die, die es nicht hinkriegen, werden im Lager von griechischen Entscheidern und EU-Experten befragt. Wer durchfällt, dem droht schnell die Abschiebung, in die Türkei oder ins Heimatland. Flucht ähnelt einem Würfelspiel, seinen Sechser kann keiner abrufen. Moria funktioniert wie eine gewaltige Reuse, in der die Flüchtlinge festhängen. Ein Übergangslager, geplant für 3000, in den schlimmsten Zeiten aber bevölkert von 8000 und heute noch immer belegt mit gut 5000 Insassen. Viele bleiben Monate, manche länger als ein Jahr.

Viele EU-Politiker sehen das Camp und die vier anderen Hotspots auf den griechischen Inseln Samos, Chios, Kos und Leros als Erfolgsgeschichte; als Instrument wirkungsvoller Flüchtlingspolitik.  

Wer von der Türkei aus übersetzt und nach Europa will, bleibt im Hotspot hängen. So lassen sich die Migrantenzahlen senken, wenigstens vorübergehend. Die Flüchtlinge nennen Moria daher „Guantanamo auf Lesbos“, betrachten die Insel als Gefängnis. Ob Samadi, Alizada oder Flüchtlinge aus dem Irak, aus Syrien oder Nigeria, alle denken ähnlich: Dass Moria ein unmenschlicher Ort sei.

Lesbos. Azurblaue Buchten, knorrige Olivenbäume, osmanische und genuesische Burgen, in der Hauptstadt Mytilini liegen am Kai Tavernen und Clubs. Griechenlands drittgrößte Insel steht für Nachtleben und Urlaubsidylle. Aber nur für die, die mit Ferienfliegern hierherkommen. Werwie die Afghanen Samadi und Alizada mit dem Schlauchboot anlandet, dem bietet die Insel nur Polizisten, Stacheldraht, Frontex, Europol und ein tristes Lagerleben.  

"Ich hatte noch nie ein Boot gesteuert"

Für Samadi ist es bereits die dritte Flucht. Im Sommer 2017 wurde er von den türkischen Behörden in Çanakkale am Mittelmeer aufgegriffen und wieder nach Kabul ausgeflogen. Aber Samadi ist keiner, der viele Worte verliert. Wenige Tage nach der zweiten Abschiebung hat er sich wieder auf den Weg gemacht. Erst Pakistan. Dann Iran, mit Schleppern, nachts im Auto und immer in Angst vor einem Regime, das Afghanen von der Straße wegfängt und sie einen unerklärten Krieg in Syrien kämpfen lässt.

In Istanbul trifft er seinen Gefährten Alizada, zusammen suchen sie einen afghanischen Schlepper auf. Nachts steigen sie in einen Kleinbus, fahren von Istanbul in den türkischen Küstenort Çanakkale, dort schlagen sie sich zum Strand durch, mit 33 anderen Afghanen sitzen sie im Schlauchboot. „Ich hatte noch nie ein Boot gesteuert. Sie sagten mir, kein Problem. Siehst du das Licht da drüben? Orientier dich daran. Immer geradeaus!“ Weil Samadi bereit ist, das Schlauchboot zu steuern, erlässt ihm der Schlepper die 700 Dollar für die Überfahrt nach Lesbos.

Die Boote auf einer Müllkippe an der Nordküste von Lesbos tragen türkische Namen
Die Boote auf einer Müllkippe an der Nordküste von Lesbos tragen türkische Namen

Vom türkischen Festland sind es keine zwanzig Kilometer nach Lesbos, die winzigen Flüchtlingsboote fahren auf Sicht, kommen an einem entlegenen Strand an. Manche werden vorher von den Schiffen der griechischen Küstenwache aufgefischt, andere kentern, gehen unter. Samadis Boot braucht gut zwei Stunden übers Meer. Kaum einer an Bord kann schwimmen, auch Samadi nicht. „Wir hatten Angst“, sagt er.

Sie alle trugen Rettungswesten, aber der eine oder die andere wird gewusst haben, was sich die Flüchtlinge erzählen: Dass die Westen, die in der Türkei für 20 oder 30 Euro verkauft werden, oft nicht mit luftigem Styropor gefüllt sind, sondern mit billigem Schwamm. Die Schwämme halten einen Menschen nicht über Wasser, sondern ziehen ihn in die Tiefe, wenn sie sich mit Wasser vollsaugen. „Jedes Mal, wenn ich Gas gab, haben die anderen mich zurückgehalten und geschrien“, sagt Samadi. „Also bin ich ganz langsam gefahren.“

Die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland ist den Beiden , die das Schicksal aneinander kettet, geglückt, doch auf Moria sitzen sie nun fest, hinter drei Meter hohen Maschendrahtzäunen, bekränzt von rasiermesserscharfem Nato-Draht. Die roten Stempel in ihren Pässen verbieten ihnen das Weiterreisen.

Die Öde im Lager, die sinnlosen Gänge nach Mytilini, ohne sich dort irgendetwas leisten zu können, das ist jetzt ihr Leben. Das überforderte griechische Lagerpersonal, die hochbezahlten EU-Asylexperten und die idealistischen Ehrenamtlichen aus aller Welt versuchen, dieses Elend zu verwalten. Doch Moria bedeutet Stillstand des Lebens, Not auf Pappe, unter Plastikplanen, in Containern. Weinende Kinder, überforderte Frauen, frustrierte Männer, niedergedrückt vom Nichtstun.

Ein Iraker betreibt in einem Holzverschlag einen kleinen Friseurladen
Ein Iraker betreibt in einem Holzverschlag einen kleinen Friseurladen

An wenigen Orten zeigt sich Europa so mitleidslos wie in Moria. Das Camp ist inzwischen die zweitgrößte Stadt auf Lesbos. Nachts flackern zwischen den Zelten Lagerfeuer unter einem honiggelben Vollmond, silbern schimmern die Blätter der Olivenbäume. Vor dem Hauptlager erstreckt sich das Behelfslager, hier leben arabische Familien, alleinreisende Mütter mit Kindern. Eine Syrerin macht ihr Baby sauber, mit einem einzigen Feuchttuch, vom Kopf bis zu den Füßen. „Hier draußen im Zelt fühle ich mich als Frau sicherer als drinnen im Lager“, sagt Ragah al-Daher und zieht ein deutsches Schreiben aus der Tasche, einen Antrag auf Familiennachzug für sie und ihre drei Kinder. Ragah al-Dahers Ehemann ist schon in Deutschland, der Familiennachzug aber bleibt weiter eingeschränkt. Ragah Al-Daher wird warten müssen.

Samadi und Alizada wissen, dass Frauen in ihren Zelten überfallen und vergewaltigt werden. Dass sich viele aus Angst nachts nicht aus den Zelten trauen, um auf die Toilette zu gehen – weshalb sie Windeln tragen. Dass Babys vom Schmutz krank werden, dass Flüchtlinge sich das Leben nehmen. Dass Prostitution blüht, zwischen den Flüchtlingen und mit Einheimischen, dass junge Mädchen von Menschenhändlern verkauft werden. Und dass es Wege gibt, doch aufs Festland zu gelangen, trotz roten Stempels: Auf einem Lkw, der mit der Fähre zum Festland fährt. Zwischen 700 und 800 Dollar soll die riskante Fahrt kosten, bei der man Gefahr läuft, zwischen der Ladung versteckt zu ersticken.

Am Hafen, in den Dörfern, auf der Landstraße – überall auf Lesbos sind die Flüchtlinge unterwegs: Allein, in Gruppen, meist nur Männer. Seltener sieht man Paare, die Kinderwagen vor sich herschieben und weitere Kleinkinder hinter sich herziehen, Plastiktüten am Arm, mit Gurken und Tomaten. Spiros Galinos, der Bürgermeister von Mytileni, sagt: „Wir haben den Überblick verloren.“ Dann stellt er resigniert eine Frage: „Wieso sollen Lesbos und vier andere griechische Inselchen in der Ägäis allein schultern können, was auf ganz Europa lastet?“

Der Bürgermeister von Mytileni, Spiros Galinos, in seinem Büro
Der Bürgermeister von Mytileni, Spiros Galinos, in seinem Büro

Manchmal zeigt sich, wie absurd und widersprüchlich die ganze Abschiebepolitik ist. Ashraf Mansour war wie Samadi und Alizada Passagier von Flug IG 2080. Er hat keine zweite Flucht versucht, sondern es ist ihm geglückt, legal von Kabul zurück nach Deutschland zu gelangen. Seit Oktober 2017 lebt der Afghane wieder in Bayern, er ist offiziell eingereist und macht nun eine Ausbildung zum Altenpfleger. Er arbeitet in einer Branche, der es an Fachkräften fehlt. In der Berufsschule macht er sich sogar so gut, dass ihn die deutschen Schüler um Rat fragen.

Dass er zurückkommen durfte, hat nichts mit der Menschenfreundlichkeit deutscher Behörden zu tun, sondern mit der Unbeirrbarkeit von Ute Klock (Name geändert). Die Asylaktivistin, Mitte 60, hatte nicht hinnehmen wollen, dass einem jungen Mann, der Deutsch spricht und kurz vor einer Ausbildung stand, mit einem Behördenstempel und ein paar Federstrichen die Zukunft genommen wird. Einfach so, trotz aller Politikerreden über Humanität und Integration. Da wurde einer zurück in ein Land geschickt, in dem nicht einmal das nackte Überleben gesichert war. Schon am Tag, an dem Mansour sich das erste Mal in Kabul auf die Straße traut, detoniert eine Bombe, er wird verletzt. Nicht nur Mansour, auch Ute Klock weiß: Kabul ist kein Ort zum Leben. Kabul ist ein Ort zum Sterben.

Rechnung für die Abschiebung: 7 500 Euro 

Doch der Weg zurück ist verstellt. Die Ausländerbehörde lässt Ute Klock wissen, dass man für die Abschiebung von Flüchtlingen zuständig sei, nicht für deren Rückkehr. Sie verhängt eine Einreisesperre, drei Jahre, das Übliche. Eine Rechnung über 7 500 Euro folgt, für den Aufwand der Abschiebung, das Flugticket, den Polizeieinsatz. Ute Klock macht dennoch weiter, findet einen Arbeitgeber, der einem abgeschobenen Flüchtling einen Ausbildungsplatz verspricht, ohne ihn je gesehen zu haben – mit der Diakonie, in einem Seniorenheim. Das beeindruckt die Ausländerbehörde, sie setzt die Einreisesperre herunter, erst auf ein Jahr, dann auf ein halbes.

Das Einzige, was noch fehlt, ist das Visum. Selbst das scheint zu klappen, aber dann – Kabul ist kein Ort zum Leben, Kabul ist ein Ort zum Sterben –, explodiert just an dem Tag, an dem Ashraf seine Einreiseerlaubnis abholen möchte, vor der deutschen Botschaft eine Autobombe. Ashraf wird nur leicht verletzt, die Botschaft aber so stark zerstört, dass sie die Arbeit einstellen muss. Erst Monate später, im Oktober 2017, landet der im Januar 2017 abgeschobene Afghane Ashraf Mansour wieder in Deutschland, mit einem Ausbildungsvisum, ausgestellt von der Botschaft in Pakistan. Trotzdem fühlt er sich sehr schlecht, er will mit Reportern nicht reden. Er kämpft mit der Sorge, die Rechnung für die Abschiebung nicht begleichen zu können und erneut von der Polizei geholt zu werden. Ute Klock beruhigt ihn, er sei ja nicht alleine: „Wir sind deine Familie.“

Hassani will Frau und Sohn aus Kabul nachholen

Zurück nach Deutschland, nach Baden-Württemberg, das hat auch Ahmad Hassani geschafft. Schon vor 15 Jahren war der Kommandeur einer Mudschahedin-Einheit, der erst gegen die Sowjets und dann gegen die Taliban kämpfte, nach Deutschland geflohen. Asyl bekam er nie, er wurde immer nur geduldet – bis zu jenem Tag, als er mit Flug IG 2080 nach Kabul abgeschoben wurde. Kurz nach der Landung brach er noch am Flughafen zusammen. So desolat war sein psychischer Zustand, dass die afghanischen Behörden, sonst nicht zimperlich, ihn umgehend zurück nach Deutschland schickten, mit dem Flieger, mit dem er gerade erst gekommen war. Ein paar Wochen später, beim zweiten Versuch, ihn abzuschieben, schritten Deutschlands oberste Richter ein. Als Hassani schon im Polizeiwagen saß, auf dem Weg zum Flughafen, untersagte das Bundesverfassungsgericht im allerletzen Moment die Abschiebung, wegen schwerer Verfahrensfehler von Behörden und Justiz. Er kann nun bleiben, das Asyl-Bundesamt glaubt ihm, dass die Taliban ihm nach dem Leben trachten. Er hat Wohnung und Job und will nun Frau und Sohn aus Kabul nachholen, ihre Chancen sind minimal.

Nach dem weltweit aufsehenerregenden Anschlag auf die Botschaft im vergangenen Mai hatte Berlin die Abschiebungen von Afghanen ausgesetzt, erst im September startete wieder eine Chartermaschine, zwei Wochen vor der Bundestagswahl. Auch im Januar 2018 kommt ein Flug aus Deutschland an, diesmal aus Düsseldorf. 19 übermüdete Männer stehen am frühen Morgen vor dem Flughafenterminal, Reisetaschen und Plastiktüten in den Händen. Es ist ein kühler und sonniger Tag, vom Vorplatz aus sind die Bergzüge des Hindukusch zu sehen. Sie wachsen im Nordosten direkt über der Stadt spektakulär in die Höhe und erinnern daran, dass Afghanistan einmal Ziel von Bergsteigern aus aller Welt war, später dann, in den 1970er-Jahren, ein Meilenstein auf dem „Hippie-Trail“, der sich von Westeuropa über Iran und Afghanistan nach Indien wand, auf dem kiffende Studenten im VW-Bus Abenteuer und Freiheit suchten. Die Männer, die an diesem Morgen aus dem Flieger gestiegen sind, sehen die Bergketten nicht. Sie halten die Köpfe gesenkt und starren auf den Boden.

Morteza Ansari

Morteza Ansari hat den ersten Ankunftsschock lange hinter sich. Auch er war auf Flug IG 2080, seit Januar 2017 hängt er in Kabul fest. Am Anfang, als man sich in Deutschland noch für die abgeschobenen Flüchtlinge interessierte, hatte er angereisten Reportern ein Interview nach dem anderen gegeben. Dann rief ihn sein Bruder an, der in München eine Pizzeria betreibt: „Lass bitte keine Fotos mehr von dir machen. Meine Gäste fragen mich ständig nach dir.“

Ansari ist der Pechvogel der Familie. Seine Schwestern und Brüder leben in Deutschland, der Schweiz, in Österreich, nur er sitzt fest in Kabul, obwohl auch er es fast geschafft hätte. Fünf Jahre Nürnberg, er hat dort Deutsch gelernt, einen Schulabschluss gemacht, sich mit einer Tschechin verlobt. Abgeschoben wurde er trotzdem. „Ich war in meinem Leben noch nie so traurig“, sagt Ansari über den Tag, als er mit Samadi, Alizada und den anderen im Flugzeug saß, links und rechts von sich deutsche Polizisten. Die Abschiebung war ein Drama auch für Ansaris Familie: „Erst dachten sie, ich hätte Scheiß gebaut und wäre deshalb abgeschoben worden.“

  Wie es war, das vergangene Jahr, in Kabul? „Ich habe überlebt.“ Die ständigen Terroranschläge verunsicherten ihn, Arbeit finde er keine. „Die Armee, das sind die Einzigen, die dir einen Job anbieten“, sagt Ansari. „Die schicken dich nach Kandahar, da stirbst du dann.“ Seine zwei besten Freunde haben Kabul verlassen, der eine ist in die USA geflohen, der andere nach Norwegen. Die wenigen Bekannten, die geblieben sind, wollten ständig, dass er sie einlade. „Die denken, ich hätte Millionen aus Deutschland mitgebracht.“ Dabei liegen auf seinem deutschen Konto gerade einmal 350 Euro. Und selbst die sind unerreichbar. In Afghanistan ist eine deutsche EC-Karte ein Stück Plastik, wertlos.

Vom Leben in Deutschland blieben nur ein paar Plastikkarten übrig
Vom Leben in Deutschland blieben nur ein paar Plastikkarten übrig

Ansaris Hoffnung ist seine Verlobte. Er will sie heiraten, dafür dürfte er nach Deutschland einreisen, dann könnte er wohl bleiben. Das war jedenfalls der Plan. Doch dann kam der Bombenanschlag, die deutsche Botschaft stellte ihren Betrieb praktisch ein, sie sitzt nun in einem Nebengebäude der US-Botschaft, in einem Hochsicherheitsbereich, kaum erreichbar. Wie lange es dauern wird mit den Papieren, dem Aufgebot, der Hochzeit, alles bleibt unklar. Manchmal, wenn er nachts nicht schlafen kann, schaut er auf die Uhr und rechnet aus, wie spät es gerade in Deutschland ist. „Dann erinnere ich mich daran, dass ich um diese Zeit mit meiner Verlobten früher oft noch in der Stadt spazieren war.“

Abgeschobenen wie Ansari bleibt nur die Hoffnung darauf, dass es klappt mit der Hochzeit oder dass das Asylverfahren in Deutschland wiederaufgenommen wird. Oder eben darauf, dass man bei irgendwem tausend oder zweitausend Euro verdienen oder leihen kann, das Geld für den Schlepper, der die nächste Flucht organisieren soll. Samadi, Alizada und Ansari, sie alle wollen nicht aufgeben, wollen nach Deutschland zurückzukehren. Sie klammern sich an jeden Schimmer.

Munir Farhad

Und dann sind da diejenigen, die selbst zum Hoffen keine Kraft mehr finden. So wie Munir Farhad. Seine Gesichtszüge wirken schlaff, die Stimme klingt schleppend, in seinem Blick liegt Leere. Farhad ist mit dem Bus aus einem Kabuler Vorort gekommen, schon das ist ihm schwergefallen. „Manchmal gehe ich auf die Straße, dann weiß ich nicht mehr, wo ich bin“, sagt er. Farhad hat keinen Arzt, aber schluckt Medikamente gegen seine Kopfschmerzen, gegen die Orientierungslosigkeit. Weil die Tabletten nicht wirken, „nehme ich manchmal drei und nicht nur eine“, fügt er hinzu.

Wie das frühere Leben von Farhad genau verlaufen ist, lässt sich nur mithilfe von Asylhelfern klären, der Afghane kann nicht einmal sein genaues Alter benennen. Die Familie stammt aus einem Tal nahe Kabul, er diente als Rekrut bei der Polizei, als bei einem Einsatz eine Sprengfalle explodierte. Die rechte Hand verkrüppelt, ein Finger fehlt, der Oberkörper ist mit Narben übersät. Dann wird der Vater ermordet, die Täter angeblich Taliban. 2010 hat Farhad genug von Afghanistan, er macht sich auf den Weg nach Europa. Mutter und Geschwister fliehen derweil nach Iran, der Kontakt ist abgerissen. „Sie sagen, als der Vater starb, warst du nicht für uns da. Jetzt sind wir nicht für dich da.“

In Deutschland hangelt sich Farhad von 2011 an durch, von Duldung zu Duldung, in einem bayerischen Flüchtlingsheim. Ein Geistlicher und seine Frau kümmern sich, schicken ihn zum Psychologen. Der attestiert eine posttraumatische Belastungsstörung, mit Schlafstörungen, Albträumen, Depressionen, Selbstmordgedanken. Farhad kommt in eine Psychiatrie, sechs Wochen ist er dort, es geht ihm danach besser. Einen guten Monat nach seinem Klinikaufenthalt aber wird er abgeschoben. Dass Farhads Arzt die Lage gänzlich anders einschätzt, interessiert Richter und Behörden nicht: „Da der Patient weiterhin akut suizidal ist, ist aus ärztlicher Sicht eine Abschiebung in sein Heimatland nicht zu verantworten“, hatte der Mediziner geurteilt.

Es gibt drei Fotos von Farhad. Auf einem sieht man einen fröhlichen jungen Mann. Das Bild wurde nach der Therapie in Deutschland aufgenommen. Auf dem anderen sieht man Farhad an einer Straße in Kabul sitzend, kurz nach der Abschiebung, seine Habseligkeiten in einer blauen Plastiktüte. Auf dem dritten schließlich liegt Farhad auf einem Krankenhausbett, der Bauch, ein Bein, ein Oberarm bandagiert. Er war, offenbar verwirrt, auf eine von Kabuls viel befahrenen Straßen gelaufen und angefahren worden. Und dann ist da der Munir Farhad von heute, mit seinem eingefallenen Gesicht und dem leblosen Blick. Auch er möchte eigentlich wieder nach Europa, doch ihm fehlt die Kraft dazu: „Ich muss hier weg.“

Das Leben in Kabul: Ein Kind hütet Schafe, am Himmel kreisen Helikopter
Das Leben in Kabul: Ein Kind hütet Schafe, am Himmel kreisen Helikopter

Kabul ist eine Stadt im latenten Kriegszustand. Die Vereinten Nationen sprechen bei Afghanistan von einer „volatilen Lage“, aber das meint ein und dasselbe: Ein Land, das seinen Menschen keine Zukunft bietet. Militante Islamisten haben so viele Anschläge verübt, wie seit dem Sturz des Taliban-Regimes vor 16 Jahren nicht mehr. Tausende Zivilisten sind durch Angriffe und Selbstmordattentate umgekommen, jüngst griffen Militante in Dschalalabad das Hilfswerk „Save the children“ an, es gab mehrere Tote. Kurz zuvor hatten die Taliban-Kämpfer das Interconti gestürmt, das größte Hotel von Kabul. Sie schossen Stunden um sich, mehr als 40 Menschen kamen ums Leben. Hinzu kommt die stark steigende Kriminalität. Mafiosi entführen jeden, der Lösegeld verspricht, ob er Afghane ist oder Ausländer. All das summiert sich zu dem, was Alizada und Samadi in Moria, was Ansari und Farhad in Kabul erzählen: In Afghanistan gibt es keine Sicherheit, für niemanden.

All das weiß man im Auswärtigen Amt und an der Behelfsbotschaft in Kabul. Aber die Diplomaten kommentieren die Sicherheitslage nicht. Was auch immer sie sagen, wäre ein Politikum, eine Antwort auf die drängende Frage, ob Flüchtlinge von Deutschland nach Afghanistan überhaupt abgeschoben werden können. Sie wissen, das weite Teile des Landes inzwischen wieder von den Taliban beherrscht werden, die mit ihren regelmäßigen Terroranschlägen beweisen, dass sie fast jederzeit und überall angreifen können. Die Regierung und die ausländischen Truppen können nicht einmal die Hauptstadt schützen, daran ändern auch die Soldaten der Antiterroreinheiten nichts oder die vielen Pick-up-Trucks mit den Maschinengewehren oder die Hubschrauber, die über Kabul kreisen. Selbst der Chef des Bundesnachrichtendienstes in Berlin hat dieser Tage eingeräumt, dass bis zu 40 Prozent der Fläche Afghanistans nicht mehr von staatlichen Kräften kontrolliert werden. Sicher ist Afghanistan also keinesfalls.

Das ist auch der Grund, warum Alizada und Samadi nicht mehr in ihrem Heimatland leben möchten. Alizada steht vor seinem Zelt in Lesbos. Ihm ist kalt. Er weiß genau, was er nicht will: in Moria bleiben. Er weiß genau, was er will: zurück nach Straubing. Er möchte jetzt Heizungsbauer lernen, die Altenpflege, das sei nichts für ihn gewesen. Samadi steht neben ihm. Auch er schmiedet Pläne für die eigene Zukunft. „Wenn ich es bis Athen schaffe“, sagt er, „arbeite ich da ein Jahr. Dann habe ich das Geld zusammen für den Schlepper und komme zurück nach Deutschland.“

Er möchte wieder im Asia-Imbiss arbeiten, Nudeln kochen. Mit den Besitzern habe er noch Kontakt. „Die würden mich sofort wieder einstellen.“ Zum Abschied reicht er die Hand und lächelt. „Bis in einem Jahr dann, in Würzburg.“ 

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