Mark ist auf dem Land aufgewachsen, in einem Örtchen im Süden, das zwar genug für ein Postkartenmotiv bot, aber zu wenig für einen Jungen, der erwachsen werden wollte.
Mark wollte erwachsen werden; vor allem groß und stark wollte er sein. Weil: Das mit der Größe und seiner Kraft ist immer ein Problem gewesen.
Marks Vater war immer unzufrieden: mit sich, mit seinem Beruf und mit seiner Frau. Am meisten natürlich mit Mark. Diesem kleinen, schwächlichen Jungen, der so schwer an Epilepsie litt und von den Mitschülern gehänselt wurde.
Mark nahm sich alles sehr zu Herzen und meinte: Er sei einfach zu zerbrechlich.
Hatte Mark sein Schulbrot nicht aufgegessen und seine Mutter fand es, und sie fand es – im übertragenen Sinne – doch immer, dann verpfiff sie ihren Sohn beim Vater, um selbst fein raus zu sein. Der ging raus und schlug Mark ins Gesicht.
Epilepsie kommt mit einem Vorboten, dem Starren, und wenn Mark abends in den Fernseher starrte, rief sein Vater: „Hör auf zu starren, Mark.“ Konnte der nicht. Und niemals hätte Mark ausweichen können, so schnell kam die Hand angeflogen.
Am Ende hatte er solche Angst, dass er am Abendbrottisch immer zwei Stühle Platz ließ zwischen sich und dem Vater, damit die Hand ihn nicht erreichte. Und manchmal sagte der Vater dann: „Komm mal neben mich.“
Für das Leben ist Mark immer ein Stückchen zu klein gewesen.
Als Mark ins Gefängnis kommt, ist er süchtig. Etwa ein Drittel der Häftlinge in deutschen Gefängnissen ist abhängig – die meisten von klassischen Drogen wie Heroin oder Crystal. Viele kommen an und haben gleich mehrere Substanzen im Blut. Mischkonsum nennt man das.
Wie geht man mit diesen Insassen um? Hat der Staat nicht die Pflicht, sich in Haft um diese Häftlinge besonders zu kümmern? Damit sie clean werden? Tut er das auch?
Mark hat heute die Statur eines Eichenholzschranks.
Psychischer Druck, sagt Mark, habe die Epilepsie immer wieder ausgelöst. Heute ist sie weg. Vielleicht verstorben mit seinem Vater. Seine Eltern sind nichts mehr als seine „Erzeuger“. „Zuneigung äußert sich nicht, wenn du deinem Kind etwas anziehst“, sagt Mark, der heute 45 ist. „Liebe gab es nicht.“
Mark versuchte es mit Sport: Judo, dann Rückenprobleme; Taekwondo, aber das Epilepsiemedikament verlangsamte seine Reaktion; dann Kraftsport. Viele Stunden am Tag. Es war sein Ausweg. Sport versprach Anerkennung. Mark registrierte: Die anderen Jungs mobbten ihn nicht mehr. Er hingegen langte auch mal zu. Die Mädchen fanden das prinzipiell toll.
In Kombination mit dem Medikament gegen die Epilepsie bewirkte das Testosteron, das er jetzt nahm, dass Mark plötzlich Hanteln drücken konnte, die niemand sonst im Gym drücken könnte.
Er schrieb an die Firma, die das Medikament herstellte, wie das denn sein könne. Eine „Frau Doktor“ rief ihn an. Sie fachsimpelten. Mark fühlte sich ernstgenommen, und er begann, so viele Fachbücher über den Körper und Sport und Leistung zu lesen, dass er bald eine medizinische Bücherwand mit sich herumtrug – im Kopf.
Marks Ehrgeiz wuchs mit seiner Muskelkraft: Er fing als Türsteher an. Die anderen, noch breiteren Türsteher sagten: „Mark, du bist zu schmal. Nimm mal das Doppelte an Testo.“ Aber so richtig Ahnung hatte keiner.
Also begann Mark in Eigenregie verschiedene Pulver, die er über das Internet bestellte, in kleine Medizin-Kapseln zu füllen. Vitamine und Carnitin zum Beispiel. Die kleinen Kapseln füllte er einzeln und mit der Hand. Eine Scheißarbeit, weil: Du triffst kaum die Öffnungen und nach stundenlanger Arbeit verschluckst du die Kapseln innerhalb von zehn Minuten beim Training.
Zusammen mit einem befreundeten Sportarzt mischte und experimentierte Mark mit Aufbau-Präparaten, die seinen Körper mit allem versorgten: für mehr Training, mehr Muskelaufbau, mehr Fettverbrennung und größtmögliche Regeneration.
Er machte schnell Fortschritte. Seine Präparate wirkten besser als die, die es schon auf dem Markt gab. Und die anderen Türsteher wollten jetzt sein Zeug. Also bastelte sich Mark Etiketten, die einen Drachen zeigten, klebte es an die kobaltblauen Dosen und kreiert seine eigene Marke für Ergänzungsmittel, sogenannte Supplements.
Das ging Jahrzehnte gut.
Dann kamen der Zoll und die Staatsanwaltschaft seinen teils verbotenen Importen auf die Schliche: Razzia. Sie beschlagnahmten Rechnungen für Steroide und sogar die Fachbücher. Im Keller gab es eine Wand, die etwas dicker war: Das geheime Mischlabor dahinter fanden sie nicht.
Das Gericht bescheinigte ihm, „Präparate in Pharmaqualität oder höher“ hergestellt zu haben. Das machte Mark etwas stolz.
Vier Jahre Haft.
Als Mark in den Knast kommt, hat er verschiedenste Präparate im Blut, die seine Leistung steigern sollten.
Der Entzug und die Behandlung klassischer Süchte wie Heroin mit Ersatzstoffen wird „Substitution“ genannt. In Freiheit werden Süchtige bei Ärzten in der Praxis therapiert. Aber die Behandlung ist keine gesetzliche Pflicht. Ärzte im Gefängnis entscheiden allein über die Therapie. Für das medizinische Ethos müssen die Mediziner allerdings immer tun, was zum Wohle des Patienten nötig ist. Eine Sucht ganz ohne Medikamente zu entziehen – der gefürchtete „kalte Entzug“ –, ist eine Straftat: Körperverletzung.
Vor seinem Haftantritt hat Mark einen Brief an die Anstaltsleitung geschrieben: Er sei Kraftsportler und nehme regelmäßig eine höhere Dosis Testosteron sowie andere Präparate. Mark weiß: Wenn diese ausbleiben, droht seinem Körper die Hölle. Mark weiß auch: Es ist nur eine Frage der Zeit.
Denn die Präparate, die in seinem Körper stecken, haben verschiedene Abbauzeiten – die einen beginnen rasch mit den Entzugserscheinungen, andere brauchen länger. Manche Tage, andere Wochen.
Sein Körper ist eine chemische Zeitbombe.
Er legt auch dem Arzt nahe, ihn doch zu behandeln. Dabei packt er ein paar Fachworte aus. Der Arzt fand Marks Verhalten vermutlich durchaus arrogant.
Mit Sport im Kraftraum versucht er sich abzulenken. Aber irgendwann schafft es sein Körper nicht mehr. Der Entzug beginnt: mit leichten Depressionen und kaltem Schweiß.
Substitution ist abhängig vom Wohnort, wenn draußen behandelt wird, und vom Ort der Anstalt, wenn jemand sitzt. Es gibt ein Nord-Süd- und ein West-Ost-Gefälle: Im Norden wird mehr substituiert als im Süden. Im Westen mehr als im Osten. Und in Städten wie Bremen, Hamburg und Berlin weit häufiger als auf dem Land. Auch insgesamt gibt es große Unterschiede, wie viel Geld die einzelnen Bundesländer für die Häftlinge in die Hand nehmen.
Mark hatte - so gesehen - die schlechtmöglichste Anstalt für sich erwischt.
Denn manche Anstaltsleitungen sind der Auffassung, es müsse nicht substituiert werden. Sie sehen auf Süchtige herab. Das „Europäische Komitee zur Verhütung von Folter“ (CPT) stellte bei einem Besuch in drei deutschen Anstalten gravierende Unterschiede in den Behandlungen fest: Während Substitution in manchen Gefängnissen Standard ist, wird sie Häftlingen in anderen komplett vorenthalten.
Der Freistaat Bayern wurde ausdrücklich vom CPT und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gerügt: Niemand dürfe „Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden“. Heroin wird mit Methadon, Buprenorphin oder Diamorphin behandelt. In Ländern wie Österreich, Spanien und der Schweiz sind diese Behandlungen längst Standard.
Vor Jahren schon hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die europäische Richtlinie zur gleichen Behandlung innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern unterschrieben – die sogenannte „Dubliner Erklärung“. Sie gilt formal seit dem 1. Januar 2011. Für Mark indes gilt sie nicht.
Marks Anstalt lässt trotz seiner flehenden Bitten ausrichten: keine Substitution für Mark. Er könne „die Zeit mal nutzen, um richtig clean zu werden“.
Vermutlich ist das als eine Art Geschenk zu verstehen.
Hierzulande werde „die Behandlung der Mehrzahl der Inhaftierten verweigert“, schreibt die Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin (DGV) in einer aktuellen Stellungnahme. Eine Substitution werde häufig sogar abgebrochen, wenn Patienten draußen behandelt worden sind, aber ins Gefängnis kommen. Nur etwa fünf Prozent der männlichen Strafgefangenen würden in Deutschland ordnungsgemäß substituiert, schreibt die DGV. Und dabei sei es klare Vorgabe und Pflicht für die Ärzte, „Inhaftierte bei bestmöglicher Gesundheit zu halten“.
Die Schuld tragen auch die behandelnden beziehungsweise nichtbehandelnden Ärzte.
Warum sie dies tun, beziehungsweise nicht tun, darüber wird spekuliert: Auch bei Ärzten draußen hat die Substitution nicht den besten Ruf. Manche Mediziner meinen, man kapituliere damit vor der Sucht und dem Junkie. In manchen Anstalten gilt vorauseilender Gehorsam, der politische Druck aus den Ministerien, diese Behandlung nicht durchzuführen.
Dabei ist die Situation denkbar schlecht: In allen Gefängnissen sind Drogen jederzeit verfügbar. Ein Ausbleiben der Substitution hat daher eher zur Folge, dass unbehandelte Inhaftierte wieder zur Spritze greifen. Auf den Fluren wird das nichtdesinfizierte Spritzbesteck rumgereicht: „Sagen wir es deutlich“, sagt der Gefängnisarzt und Suchtmediziner Karlheinz Keppler: „20 bis 30 Inhaftierte teilen sich eine Spritze, die sogenannte Stationspumpe.“ Auch darum sind Krankheiten wie Hepatitis-C im Gefängnis zehnmal häufiger verbreitet als draußen.
Eine fehlende Behandlung kommt die Gesellschaft teuer zu stehen. „Irgendwann lässt man diese Leute wieder frei, dann schwappen die im Gefängnis übertragenen Erkrankungen dieser Risikogruppe in die Bevölkerung über“, sagt Keppler. „Prison Health“ ist „Public Health“.
Mark bekommt das Zittern. Mark bekommt kalten Schweiß. Mark kann nicht mehr denken und schlafen und Depressionen suchen ihn heim.
Sport kann er kaum noch machen.
Dabei müssen gerade Hochleistungssportler ihre Körper langsam wieder abtrainieren, um einen Kollaps zu verhindern. Mark verfolgt Geschichten über einen Fußballspieler vom FC Bayern, den sie in Haft trainieren lassen. Warum kümmert man sich nicht um ihn – weil er nicht beim FC Bayern ist?
„Das war kalter Entzug“, sagt Mark.
Er bettelt die Anstaltsleitung und den Arzt an. Ohne Erfolg.
Doch der Anstaltsarzt gibt Mark schließlich Diclofenac; ein Mittel gegen leichte bis mittlere Schmerzen. Ein kalter und damit verbotener Entzug ist es nur, wenn gar kein Medikament verabreicht wird. Mark will „angemessen behandelt werden“.
Seine Muskeln beginnen derweil schon den Abbau. Weil es große Muskeln sind, wird das zum Problem: „Wenn sich ein Muskel derart rapide abbaut, muss das irgendwohin“, sagt Mark. „Das Protein geht über die Nieren raus. Die Nierenröhrchen verschließen sich. Das war kein normaler Abbauprozess.“
Ergebnis: Nierenfunktionsstörung.
Dazu kommt eine Herzmuskelinsuffizienz. Eine typische Krankheit, wie sie eigentlich eher bei alten Menschen vorkommt, bei denen das Herz den Körper nicht mehr ausreichend mit Blut und Sauerstoff versorgen kann. Aber Marks Körper war über Jahrzehnte auf Dauersport ausgelegt und reagiert nun sensibel auf die neue Situation.
Überlebensraten bei einer Herzmuskelinsuffizienz liegen über fünf Jahre bei knapp 50 Prozent.
„Plötzlich fühlten sich meine Muskeln an, als wenn sie zerreißen“, sagt Mark. „Das war extrem. Die haben sich verkürzt und verhärtet, und das waren Schmerzen bei jeder Bewegung.“ Der jahrzehntelange Präparate-Konsum war schuld.
Dann bricht sein Immunsystem ein. Mark schleppt sich von einer Grippe zur nächsten.
Die Quittung bekommt Mark, als er das Gefängnis verlässt. Er wendet sich an einen Urologen, und der stellt fest, dass Marks Körper schon seit Jahren das körpereigene Testosteron nicht mehr produziert. Das kann sich auf die Hoden auswirken und auf die Zeugungsfähigkeit.
Mark verklagt seine Anstalt.
Bei klassischen Drogen sind die Rückfallquoten hoch. Viele kommen wegen ihrer Sucht immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt und landen daher mehrfach im Gefängnis.
Drogensüchtige könne man nicht wirksam in einer Haftanstalt therapieren, meint der Gefängnisarzt Karlheinz Keppler. Eine Behandlung süchtiger Straftäter außerhalb der Gefängnisse sei sinnvoller. „Addieren Sie die drogentypischen Delikte der Beschaffungskriminalität wie Einbrüche und Diebstähle zu den Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz“, sagt er. „Da würden fast 30 Prozent der Haftplätze frei werden.“
Inzwischen hat Mark sich selbst behandelt und auch wieder mit Testosteron angefangen. Schlagartig sei es ihm besser gegangen – und die Depression: verschwunden. „Du wirst plötzlich vom alten zum jungen Mann“, sagt Mark.
Seinen geliebten Sport hat er zurück; und es stehen auch wieder Präparate im Schrank. Seine alte Firma will er reaktivieren. Dieses Mal rein mit legalen Mitteln.
Süchte sind stark. Süchte sind Muster. Süchte sind alte Freunde und noch ältere Gewohnheiten.
Wenn sich die Lebensumstände nicht ändern, sagen Experten, wenn Süchtige nicht alte Handlungsmuster und alte Bekanntschaften hinter sich lassen, dann kommt die Sucht immer wieder. Auch nach vielen Jahren im Gefängnis.
Sie setzt sich neben dich aufs Sofa, legt den Arm um dich und fragt: Und, wo waren wir?
*Name von der Redaktion geändert
Die Recherche zu dem Projekt „Acht Häftlinge“ ist eine Kooperation von Süddeutscher Zeitung, Bayerischem Rundfunk und Correctiv.