Süddeutsche Zeitung
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Mythos Matterhorn Mythos Matterhorn
Mythos
Matterhorn

Alpenglühglotzer stehen früh auf. Schon vor dem Morgengrauen hört man ihre flüsternden Stimmen und ihre scharrenden Füße. Die Alpenglühglotzer bringen sich um vier Uhr früh mit Fotoapparaten, iPads und Videokameras auf der Kirchbrücke in Stellung. In der Ortsmitte von Zermatt und auf dem Gornergrat 1000 Meter weiter oben warten sie auf die wahrscheinlich schönste Lightshow der Welt – den Sonnenaufgang an der Bergspitze. Damit keiner den spektakulären Blick verfehlt, wird die Brücke als „Foto-Point“ empfohlen.

Das Matterhorn: meistfotografierter Berg der Erde, Pyramide aus Fels und Eis, 4478 Meter, einer der höchsten Gipfel der Alpen. Dieser Berg ist ein Mythos, er wirkt magisch wie kaum ein anderer. Er schreckt die Menschen ab und zieht sie gleichzeitig an, seit 150 Jahren – seit der Erstbesteigung am 14. Juli 1865 durch Edward Whymper, Reverend Charles Hudson, Douglas Robert Hadow, Lord Francis Douglas, mit den Bergführern Michel Auguste Croz, Peter Taugwalder und dessen Sohn Peter. Eine Plakette am Hotel Monte Rosa, in dem Edward Whymper damals wohnte, erinnert an den Erstbesteiger. Und zum Jubiläum veranstaltet Zermatt ein riesiges Brimborium, mit Freilufttheater, Ausstellungen und Konzerten, sogar die Queen ist eingeladen.

Edward Whymper Reverend Charles Hudson Douglas Robert Hadow Lord Francis Douglas
Michel-Auguste Croz Peter Taugwalder senior Peter Taugwalder junior  
Edward Whymper Reverend Charles Hudson Douglas Robert Hadow
Lord Francis Douglas Michel-Auguste Croz Peter Taugwalder senior
Peter Taugwalder junior    
2860 m

Nichts für Langschläfer: Wer das Matterhorn erklimmen will, muss sich schon in den frühen Morgenstunden auf den Weg machen. Foto: Arno Balzarini/Keystone Schweiz/laif

Bergsteiger stehen noch früher auf als Alpenglühglotzer. Während unten auf der Kirchbrücke japanische und indische Gästegruppen um die Wette in die Dunkelheit hineinblitzen, sind die ersten Alpinisten längst unterwegs. Um kurz vor drei Uhr hat der Aufstieg begonnen; Bergführer Jörn Heller geht voran, seine Stirnlampe beleuchtet den ausgetretenen Pfad vom Basislager zur Hörnlihütte. Weil die Hörnlihütte wegen Umbaus noch geschlossen ist, müssen wir erst eine Stunde bis zur Einstiegswand wandern, 400 zusätzliche Höhenmeter. 1250 Höhenmeter sind es dann noch von der Hörnlihütte auf den Gipfel. Dieser Aufstieg gilt als einfachste Route und wird von mehr als 70 Prozent aller Matterhorn-Besteiger gewählt. Einfach ist der Weg jedoch keinesfalls: Auf der Bergtouren-Skala des Schweizer Alpenclubs wird der Hörnligrat als „ziemlich schwierig“ eingestuft. Es gibt lange, anstrengende, fast senkrechte Passagen, der Grat wird nach oben immer schmaler und steiler. Aufs Matterhorn? Ernsthaft? Warum sollte man sich das antun? Manchmal ist die Antwort simpel: „Das Matterhorn zog mich einfach durch seine Großartigkeit an“, erklärte schon Edward Whymper, der Erstbesteiger.

Zelt statt Hütte: Für die Zeit des Umbaus der Hörnlihütte wurde von den Betreibern ein provisorisches Base Camp errichtet. Foto: Marc Kronig, Zeichnung: Edmund Whymper/Project Gutenberg™

3260 m

Die neue Hörnlihütte ist noch eine Baustelle, aber pünktlich zum Erstbesteigungs-Jubiläum soll sie fertig sein. Die alte Hütte und das benachbarte Berghaus Matterhorn, 1880 und 1911 erbaut, wurden 2014 teilweise abgerissen, miteinander verbunden und sollen diesen Sommer als moderne Luxushütte wiedereröffnet werden.

Die eigentliche Hörnlihütte (r.) wurde 1880 erbaut, 1911 errichtete die Gemeinde das Belvédère (l.). Im Sommer 2015 soll die neue Hörnlihütte eröffnet werden. Foto: Kurt Müller, Zermatt Tourismus

Man kann ein Doppelzimmer für 450 Franken reservieren, Frühstück und Marschtee inklusive, der Schlafplatz im Lager kostet 150 Franken. Dazu kommen dann noch die Kosten für den Bergführer, ein Besteigungsversuch kostet gut 1500 Franken. Campen in der Umgebung der Hütte ist strengstens verboten, wer es trotzdem tut, muss 5000 Franken Strafe zahlen. Das klingt alles sehr übertrieben, aber in Zermatt sieht man in der Zugangsbeschränkung über den Preis auch eine Chance. „Einerseits, um den Komfort für die Gäste zu erhöhen“, sagt Hüttenwirt Kurt Lauber, „andererseits, um den Hörnligrat etwas zu beruhigen.“ Die neue Hütte hat 130 Schlafplätze, vorher konnten bis zu 170 Personen dort übernachten. An manchen Tagen treten sich die Gipfelaspiranten am Hörnligrat gegenseitig auf Hände und Füße.

3275 m

Das Matterhorn ist der Mount Everest des kleinen Mannes. Und der Rummel um diesen Berg kann ähnlich nervige Ausmaße annehmen. Der Stress beginnt gleich hinter der Hütte, an der Einstiegswand, wo die Bergführer ihre Gäste anseilen. Der Wettkampf um die beste Ausgangsposition folgt ungeschriebenen Gesetzen: Zuerst starten die Zermatter Bergführer mit ihren Gästen, dann die übrigen Schweizer Bergführer, dann die ausländischen Bergführer. Erst danach reihen sich die Seilschaften ein, die es ohne Bergführer versuchen. Wir haben diesmal vergleichsweise freie Bahn: Es sind nur fünf bis sechs andere Seilschaften unterwegs, da die Hütte geschlossen hat und die Bedingungen nicht besonders gut sind – zu viel Schnee im oberen Bereich, unsicheres Wetter. An Tagen mit idealen Verhältnissen probieren bis zu 300 Leute, auf den Gipfel zu gelangen. Die Sommersaison am Matterhorn ist kurz, sie dauert je nach Schneeverhältnissen von Anfang Juni bis Mitte September, in dieser Zeit versuchen sich bis zu 3500 Bergsteiger am Matterhorn. Nicht alle schaffen es nach ganz oben, viele drehen weit vor dem Gipfel erschöpft um.

3420 m Nur mit Abstand betrachtet hat der Berg diese weltbekannte ikonografische Form. Das Matterhorn ist eine der stärksten Marken der Schweiz, zwei Millionen Touristen kommen im Jahr nach Zermatt. Die Umrisse des Berges prangen auf Bonbons, Schokolade, Kondom-Packungen, Münzen, Briefmarken, Zuckertütchen, es gab sogar mal eine Zigarettenmarke der Geschmacksrichtung „menthol-supercool“ mit dem Matterhorn auf der Schachtel drauf. 1976 warben die Rolling Stones mit dem Matterhorn für ihre Europa-Tournee. Aber je näher man dem Berg kommt, desto mehr löst sich seine klare, scharfkantige Form auf. Im unteren Teil, am Japaner-Couloir, ist das Matterhorn ein Schutthaufen, ein Labyrinth. Man steigt über Felsblöcke, quert Geröllhalden und klettert Rinnen hoch, und man kann sich leicht verirren. Selbst erfahrenen Bergführern passiert es, dass sie die schnellste Route nicht finden und einen zeitraubenden Umweg wählen.

Je näher man dem Berg kommt, desto mehr verliert man sich in ihm. Foto: Günther Riegler

3475 m

Der Grat wird immer steiler, plötzlich steht man vor einem Felsturm. An besonders schwierigen Stellen gibt es Sicherungsstangen aus Metall, um die der Bergführer das Sicherungsseil schlingen kann. Puristen verurteilen solche fest installierten Aufstiegshilfen, die Erstbesteiger wären vor 150 Jahren wohl froh gewesen um derartige Infrastruktur. Die Pioniere hatten drei Seile zum Sichern dabei. Bei zweien handelte es sich um Exemplare des gerade neu vom Alpine Club entwickelten stärkeren „Manilaclubseils“, das andere Seil war älter und dünner.

Kletterseile bestehen heute aus Kunstfaser, sind biegsam und reißfest zugleich. Whympers Seile wurden aus Manilahanf gefertigt. Fotos: Matterhorn-Museum Zermatt, Predrag Vuckovic/iStock

Den ersten Teil des Aufstiegs gingen die Männer ungesichert, erst weiter oben, am sogenannten Dach, banden sie sich ein – und zwar alle sieben zusammen, mit den unterschiedlichen Seilen. Ein folgenschwerer Fehler, wie sich später zeigte. Heutzutage gehen die Bergführer immer nur mit einem Gast, die Ausrüstung ist natürlich viel besser als damals: elastische Kunststoffseile, Schraubkarabiner, Helm, Klettergurt, atmungsaktive Bekleidung, stabile Bergschuhe, leichte Steigeisen, Eispickel.

3540 m

Whympers Seilschaft im Steinschlag-Couloir: Seine Erinnerungen an die Versuche, das Matterhorn zu besteigen, hielt der Erstbesteiger in Wort und Bild fest. Zeichnung: Edmund Whymper/SZ Photo

Diese Rinne sieht genauso aus, wie sie heißt: Steinschlag-Couloir. Die Hauptgefahr für Verletzungen am Hörnligrat: Steinschlag, ausgelöst durch Bergsteiger weiter oben. Pro Saison fliegt Air Zermatt ungefähr 80 Rettungseinsätze per Helikopter am Matterhorn. Seit der Erstbesteigung vor 150 Jahren kamen am Matterhorn mehr als 500 Menschen um, der Großteil davon auf der Schweizer Seite. An keinem anderen Berg der Schweiz sterben so viele Alpinisten. Seit in den 1980er-Jahren Fixseile an den gefährlichsten Stellen installiert wurden, kommen nicht mehr ganz so viele Bergsteiger ums Leben. Bruno Jelk, Chef der Zermatter Bergrettung, hat bereits mehr als 200 Leichen vom Matterhorn geborgen – und 600 Menschen lebend gerettet.

Quelle: Schweizer Alpen-Club SAC

3680 m

Das Matterhorn war der letzte Viertausender der Alpen, der bestiegen wurde. Mit dem Datum ging damals die goldene Ära des Alpinismus zu Ende. Schon seit 1857 gab es zahlreiche Versuche, das Matterhorn zu besteigen, zumeist von der italienischen Seite her. Lange galt dieser Gipfel selbst unter erfahrenen Bergsteigern als unbezwingbar. Man erzählte sich Mythen von Bergdämonen und Geistern, die den Aufstieg verhindern wollten.

Doch Abenteurer wie der Brite Edward Whymper versuchten es trotzdem, zeitgleich war auf der italienischen Seite eine Seilschaft über den Liongrat unterwegs. Whymper wählte den Hörnligrat, der ihm leichter erschien. Wobei „einfach“ ein relativer Begriff ist – im Vergleich zur Eiger-Nordwand ist der Aufstieg sicher leicht, aber im Vergleich zu einer anspruchsvollen Bergwanderung immer noch sehr schwer. Es gibt Kletterstellen bis zum Schwierigkeitsgrad 3-, und konditionell muss man ziemlich gut trainiert sein. In der Nähe der Bohrlöcher am Hörnligrat sieht man die Holzreste einer alten Hütte. Sie sind ein Zeugnis dafür, dass der Berg nach und nach erschlossen wurde. Ein Spaziergang ist der Hörnligrat aber ganz sicher nicht, der Weg wird vielfach unterschätzt. „Das Matterhorn ist ein leichter Berg für einen guten Bergsteiger“, heißt es in einem Fachbuch, doch leider wird der zweite Teil des Satzes gerne überlesen.

3820 m

Kleine Verschnaufpause am faulen Eck. Die Sonne scheint mittlerweile auf den Grat, doch es ist immer noch kalt, man braucht Handschuhe, Mütze und zwei Jacken. Zwischen den Felsen liegt Schnee, es gibt immer wieder vereiste Stellen. Oft könne man bis zur Solvayhütte ohne Steigeisen gehen, sagt Bergführer Jörn Heller. Am faulen Eck muss man darauf achten, dass man auf dem richtigen Weg bleibt und nicht in die Ostwand steigt – immer wieder passieren Seilschaften solche Verhauer. Die Erstbesteiger um Edward Whymper kletterten damals aus Versehen in die steile Nordwand – und brauchten für eine kurze Passage eineinhalb Stunden, bis sie wieder zurück auf dem Grat waren.

3860 m

Sonnenaufgang am Gebiss. Foto: Titus Arnu

Der Berg zeigt Zähne: Eine Reihe markanter Zacken unterhalb der Solvayhütte wird „Gebiss“ genannt. Hier ist die Luft schon ziemlich dünn, man kommt an die 4000-Meter-Grenze, spätestens hier braucht man Steigeisen. Die Erstbesteiger trugen Lederstiefel mit Nägeln, die aus der Sohle herausstanden, das sollte ihnen Halt geben. Douglas Hadow, der jüngste und unerfahrenste Teilnehmer der Seilschaft um Edward Whymper, hatte Lederschuhe mit ziemlich glatten Sohlen an – ein Teil der Fehlerkette, die später zum Drama beim Abstieg führte. Über die „untere Mosleyplatte“, eine klettertechnisch anspruchsvolle Stelle (3-), geht es steil hinauf zur Solvayhütte.

4003 m

Die Solvayhütte, ein winziges Schutzhäuschen auf halbem Weg zwischen dem Einstieg zum Matterhorn und seinem Gipfel, wird von Bergsteigern gerne als Schlafstätte missbraucht. Fotos: CC BY-SA 3.0, Günther Riegler

Ziemlich genau auf 4000 Meter steht ein Holzhäuschen mit zehn Schlafplätzen auf dem Grat: die Solvayhütte. Es gibt einen Tisch, ein paar Stühle, eine Kochstelle und ein paar Matratzen, man könnte eine Weile dort ausharren, wenn es sein muss. Es gibt eine Faustregel: Diese Stelle muss man in etwa zwei Stunden von der Hörnlihütte aus erreicht haben, sonst kann man gleich wieder umdrehen. Es ist die Hälfte des Aufstiegs, aber erst ein Viertel der gesamten Strecke, also darf man nicht zu lange pausieren. Die Hütte ist eigentlich eine winzige Notunterkunft, aber sie wird oft von Bergsteigern missbraucht, die dort übernachten, um eine bessere Ausgangsposition für den Gipfel zu haben. Bergführer Jörn Heller schaut skeptisch auf die schwarzen Wolken, die von Italien aus rüberschwappen, und er schaut skeptisch auf seinen Gast, der ziemlich erschöpft scheint. „Ich bin schon mal vom Blitz getroffen worden, auf dem Mönch“, erzählt Heller, „und ich habe es überlebt. Ein zweites Mal brauche ich diese Erfahrung nicht unbedingt.“ Es ist eher unwahrscheinlich, dass wir den Gipfel erreichen. Zumal die ernsthaften Passagen erst noch kommen, weiter oben.

4160 m Erzwingen kann man den Gipfel nicht, auch wenn das immer wieder Bergsteiger versuchen: „Die Leute haben einen Machbarkeitswahn“, sagt Edith Zweifel von Zermatt Tourismus. Wer 1500 Franken für Bergführer und Hüttenübernachtung ausgibt, möchte dann gerne auch ein Erfolgserlebnis. Doch erkaufen lässt sich das Matterhorn keinesfalls, auch wenn das manche Touristen glauben. Die Wetterbedingungen am Hörnligrat kann der beste Bergführer nicht organisieren, und wenn der Gast nicht fit genug ist oder plötzlich Panik bekommt, geht es nur noch darum, heil wieder ins Tal zu kommen. Dazu kommt noch der psychologische Faktor. Je weiter oben man an diesem Wahnsinnsberg unterwegs ist, desto höher ist auch der Respekt vor ihm. Vor uns liegt die Schulter: eine anstrengende, fast senkrechte Passage, es geht fast 200 Meter an Fixseilen hoch.

Tausende Bergsteiger versuchen sich jedes Jahr am Matterhorn, die meisten lässt der Gipfel abblitzen. Foto: Christian Gisi/Mammut

4220 m

Schon im Jahr 1890 gab es ein Konzessionsgesuch für eine Seilbahn auf den Gipfel. Heimatschützer protestierten damals aus „wirtschaftlichen, sittlichen und vaterländischen Gründen“. 1950 plante Graf Dino Lora Totino eine Seilbahn von Cervinia auf der italienischen Seite zum Gipfel des Matterhorns. Daraufhin richtete das Alpine Museum in Zermatt einen Einspruch mit 90 000 Unterschriften an die italienische Regierung, die dem Protest stattgab und das Matterhorn zum schützenswerten Naturwunder erklärte. Naturwunder hin oder her – eine Seilbahn wäre jetzt ganz nett für die restlichen Höhenmeter. Über den immer schmaleren und ausgesetzten Schultergrat geht es Richtung Dach, einige Stellen sind mit Fixseilen und Sicherungsstangen ausgestattet. Jeder Schritt nach rechts und links kann einer zu viel sein, die Wände fallen 1500 Meter senkrecht ab. Ein Blick nach rechts: Hier hat der Schweizer Extrembergsteiger Dani Arnold kürzlich einen Speed-Rekord aufgestellt und die Nordwand in 1,46 Stunden durchstiegen, solo und ungesichert. Normalbergsteiger sind auf dem wesentlich leichteren Hörnligrat nun schon mindestens 3,5 Stunden unterwegs.

4390 m Bis in 4260 Meter Höhe waren die sieben Erstbesteiger historischen Aufzeichnungen zufolge ungesichert unterwegs. Eine mutige Pionierleistung, denn am Dach wird das Gelände zunehmend schwieriger und steiler, die Rinnen sind mit Schnee gefüllt und die Felsen oft mit einer Eisschicht überzogen. Irgendwo zwischen Dach und Gipfel muss es damals passiert sein. Im Abstieg rutschte der erschöpfte Hadow auf einer vereisten Platte aus, das Seil riss die Kameraden mit, vier von ihnen rutschten auf den Abgrund zu. Whymper und zwei Begleiter wollten die anderen halten, doch ihr dünnes Behelfsseil aus Hanf riss. Die vier verschwanden im Nichts. 2000 Meter tiefer barg man wenige Tage später drei zerschmetterte Körper, ein vierter blieb verschollen, bis heute. Das gerissene Seil kann man heute im Matterhorn-Museum am Dorfplatz von Zermatt besichtigen, es ruht auf einem roten Samtkissen.

Kurz vor dem Gipfel ist der Berg mit Schnee und Eis bedeckt. Foto: Christian Gisi/Mammut

Später gab es wilde Theorien über die Ursache des Absturzes: Hatte Bergführer Taugwalder das Seil gekappt, um sein eigenes Leben zu retten? War Whymper für die Tragödie verantwortlich? Eine ernsthafte Debatte über den Sinn und Unsinn solcher alpiner Unternehmungen entspann sich. Queen Victoria erwog sogar, das Bergsteigen zu verbieten.

4478 m

Nachdem Whymper den Gipfel als Erster erreicht hat, macht er eine Skizze. Er ahnt nicht, dass auf den Triumph eine Tragödie folgt. Zeichnung: Edmund Whymper/Project Gutenberg™

Kurz vor dem Gipfel konnte Edward Whymper nicht mehr an sich halten und band sich aus dem Seil los. Bergführer Michel Croz tat es ihm gleich, auf den letzten Metern lieferten die beiden Männer sich ein Wettrennen. „Um viertel vor zwei lag die Welt zu unseren Füßen, das Matterhorn war erobert. Hurra! Kein anderer Fußabdruck war zu sehen“, notierte Whymper. Er fertigte eine Zeichnung an, Digitalkameras und Selfies wurden erst viele Jahrzehnte danach erfunden. Whymper kostete den historischen Erfolg damals aus, so lange es ging, wie er in seinem 1880 erschienenen Buch „The Ascent of the Matterhorn“ schrieb. Die Erstbesteiger johlten und warfen Steine vom Gipfel, um die Seilschaft auf der italienischen Seite, die noch 200 Meter weiter unten war, auf den Sieg aufmerksam zu machen.

Knapp 150 Jahre später ist nichts Derartiges zu vermelden, wir müssen weit unterhalb des Gipfels umkehren. Eine richtige Entscheidung. Das Wetter wird immer schlechter, die Motivation lässt nach, die Schritte werden unsicherer. Die anderen Seilschaften sind ebenfalls auf dem Rückweg. Den ganzen vergangenen Sommer über war kaum jemand ganz oben gewesen. Zwei Monate lang hatten die Zermatter Bergführer die Tour komplett aus ihrem Programm gestrichen. „Nicht vergessen: Der Berg ist der Chef“, hatte uns Edith Zweifel vor dem Aufbruch mit auf den Weg gegeben. Das würde man jetzt gerne in Stein meißeln – wenn man 1. einen Hammer, 2. einen Meißel auf den Berg geschleppt hätte und 3. noch die Kraft dazu hätte. Trotzdem: Schon beim Abstieg, der noch einmal die volle Konzentration erfordert, wünscht man sich, vielleicht doch mal irgendwann ganz oben zu stehen. Auf diesem mythischen Berg, dessen Gipfel trotz Tourismusgetöse und Marketingmaschinerien nichts von seiner mythischen Kraft und seiner Magie verloren hat.