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WIE WIR TICKEN

Der Mensch und das Tempo

WIE WIR TICKEN

Der Mensch und das Tempo

WIE WIR TICKEN

Der Mensch und das Tempo

„Das hervorstechendste Merkmal des Lebens unserer Zeit ist zweifellos sein Tempo – das, was wir seine Eile nennen könnten, die Geschwindigkeit, in der wir uns bewegen, der Hochdruck, unter dem wir arbeiten.“

William Rathbone Greg, 1877

Mit der beschleunigten Gesellschaft ist es wie mit der ungezogenen Jugend: Jede Generation bemerkt sie aufs Neue. Alles sei jetzt „ultra“, schrieb Johann Wolfgang von Goethe 1825 in einem Brief. „Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen.“

Urteile wie die von Goethe und dem englischen Sozialphilosophen William Rathbone Greg füllen heute ganze Regale in Kiosken und Buchhandlungen. In Ratgebern lesen wir von Burn-outs, der Rushhour des Lebens und der Sehnsucht nach Entschleunigung. Sollten unsere Ur-Ur-Enkel je diese Texte zu Gesicht bekommen, werden sie sich darüber wundern, so wie wir uns über Goethe oder Greg wundern.

Das Leben wird dank technischer Fortschritte tatsächlich immer schneller. Aber das ist keine Besonderheit des 21. Jahrhunderts. Warum gewöhnen sich die Menschen so schwer an die zunehmende Geschwindigkeit der Welt? Gibt es dieses Phänomen überall? Und wovon hängt es ab, ob unser Tempo uns schnell oder langsam vorkommt?

Wer sich mit der Wissenschaft des Zeitempfindens beschäftigt, erfährt, warum reiche Menschen sich gestresster fühlen als arme, wie unsere Wahrnehmung der Zeit mit unserer Atmung zusammenhängt und dass ausgerechnet jene Momente, die viel zu schnell vergehen, sich im Nachhinein besonders lang anfühlen.

SCHON IMMER SCHNELLER

Drei Monate nachdem Goethe seinen Brief verfasste, fuhren in Nordengland erstmals Menschen mit einer Dampflokomotive. Die Spitzengeschwindigkeit: 24 Stundenkilometer. „Alles wird zu Streifen; die Getreidefelder werden zu großen gelben Strähnen“, schrieb noch zehn Jahre später der französische Autor Victor Hugo, nachdem er in einer Eisenbahn die rasante Geschwindigkeit von 30 Stundenkilometern erlebt hatte. Damit war Hugo viermal so schnell wie bislang in einer Postkutsche. Und heute? Heute fliegen wir 27 Mal so schnell, wie Hugo fuhr. Wie sehr das unseren Horizont verändert, zeigt ein Klick auf die Symbole.

Die Postkutsche

Reisen im 18. Jahrhundert muss eine langsame Angelegenheit gewesen sein: Es gab ja nur Postkutschen. Die Straßen waren schlecht und so legten die Kutschen nicht mehr als vier Kilometer pro Stunde zurück. Johanna Schopenhauer, die Mutter des Philosophen Arthur Schopenhauer, klagte über die „unbeschreibliche Langsamkeit“ der „ordinären Postkutsche“. Erst ein besseres Straßennetz nach der Jahrhundertwende beschleunigte die Postkutsche auf bis zu zehn Stundenkilometer.

Die Dampflok

Als die Eisenbahn erfunden wurde, kam das einer Temporevolution gleich. Der „Adler“ war die erste Dampflokomotive, die in Deutschland eingesetzt wurde. Chronisten zufolge erlebten die Passagiere bei der Jungfernfahrt einen regelrechten Geschwindigkeitsrausch – dabei schaffte der „Adler“ kaum 28 km/h. Die Beschleunigung des Eisenbahnzeitalters kommentierte der Dichter Heinrich Heine mit den Worten: „Die Eisenbahn tötet den Raum, es bleibt nur noch die Zeit übrig.“

Das Auto

Das Automobil brachte keinen wirklichen Temposchub. Gefühlt war es trotzdem eine Beschleunigung, da sich nun der Einzelne der Geschwindigkeit hingeben konnte. Das erste moderne Auto war der „Mercedes“ von Daimler. Mit bis zu 75 km/h beherrschte es die Rennszene um 1900. Nicht alle wollten dieses Tempo wahrhaben: „Das Auto ist eine vorübergehende Erscheinung. Ich glaube an das Pferd“, soll der letzte deutsche Kaiser, Wilhelm II., gesagt haben.

Das Propellerflugzeug

Für heutige Verhältnisse gemütlich ging es bei den ersten Linienflügen über Deutschland zu. Mit 120 km/h reisten Passagiere 1926, im Gründungsjahr der Deutschen Lufthansa AG. Damals setzte man Propellermaschinen ein. Bereits 1914 hoffte der englische Flugpionier Claude Grahame-White: „Zuerst wird Europa, dann der Globus durch das Fliegen verbunden. (…)Was Eisenbahnen für die Nationen getan haben, werden Flugrouten für die Welt tun.“

Der Hochgeschwindigkeitszug

Eine neue Tempo-Epoche begann mit dem Intercity-Express (ICE): 1991 fuhr er 250 km/h und verkürzte die Reisezeiten vielerorts enorm. Auf der ICE-Strecke Nürnberg-München sind Reisende seit dem Ausbau etwa 40 Minuten schneller unterwegs als zuvor. Frankreich baute den Train à Grand Vitesse (TGV). Die neuen Hochgeschwindigkeitszüge rückten Europa so nah zusammen wie noch nie.

Die moderne Luftfahrt

Eben noch München, eine Stunde später Rom: Das ermöglicht die moderne Luftfahrt. Heutige Passagierflugzeuge erreichen Geschwindigkeiten von 830 km/h, wenn sie nach dem Start ihre Reiseflughöhe erreicht haben. Eigentlich könnten die meisten auch noch schneller fliegen – das wäre aber weniger energieeffizient. Das Tempo moderner Flugzeuge verbindet Städte auf der ganzen Welt.

Der Hochgeschwindigkeitszug

Reisen im 18. Jahrhundert muss eine langsame Angelegenheit gewesen sein: Es gab ja nur Postkutschen. Die Straßen waren schlecht und so legten die Kutschen nicht mehr als vier Kilometer pro Stunde zurück. Johanna Schopenhauer, die Mutter des Philosophen Arthur Schopenhauer, klagte über die „unbeschreibliche Langsamkeit“ der „ordinären Postkutsche“. Erst ein besseres Straßennetz nach der Jahrhundertwende beschleunigte die Postkutsche auf bis zu zehn Stundenkilometer.

Die Eisenbahn und das Flugzeug, aber auch die Waschmaschine und die Tiefkühlpizza, das Fax und das Smartphone: Ein großer Teil der Dinge, die der Mensch in den vergangenen Jahrzehnten erfunden hat, sollte uns Zeit sparen und uns das Leben erleichtern. Noch dazu dauert unsere Arbeitswoche meist kaum 40 Stunden pro Woche, nicht mehr 60 oder gar 80 wie bei unseren Vorfahren im 19. Jahrhundert. Warum erscheint uns unsere Zeit trotzdem so knapp?

Weil mit dem technischen Fortschritt auch unsere Ansprüche gestiegen sind, schreibt der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Standardwerk „Beschleunigung“. Er zitiert Studien aus den 60er und 70er Jahren, denen zufolge die Zeit, die Menschen mit dem Haushalt verbringen, mit der Zahl der Haushaltsgeräte eher steigt als sinkt. Das Schreiben einer E-Mail mag zwar schneller gehen als das Schreiben eines Briefes, aber wir schreiben auch mehr Mails und erwarten schnellere Antworten. Und als man noch nicht in zwei Stunden von Hamburg nach Berlin kam, wäre es auch kaum jemandem eingefallen, diese Strecke zu pendeln.

„Mir scheint, Tempo bietet das eine wirklich moderne Vergnügen“
Aldous Huxley, britischer Autor, 1931

Rosas zweite Erklärung: Wir haben heute mehr Optionen denn je, was wir mit unserer Lebenszeit anfangen – welchen Beruf wir erlernen, wohin wir in den Urlaub fliegen, ob wir abends ein Buch lesen oder lieber ins Kino gehen. Unter einem guten Leben, schreibt Rosa, verstehen wir üblicherweise ein erfülltes Leben, in dem wir „möglichst viel von dem, was die Welt zu bieten hat, auskosten“. Mit der zunehmenden Zahl an Alternativen verschlechtert sich das Verhältnis der „realisierten“ zu den „realisierbaren“ Möglichkeiten.

Und wenn wir uns dann für das Kino entschieden haben, geht es weiter: Welchen Film wollen wir sehen? In welchem Kino? Wann und in welcher Sprache? Je mehr Möglichkeiten wir haben, desto mehr Zeit kostet auch das Entscheiden.

WIR UHR-MENSCHEN

In Jonathan Swifts Roman „Gullivers Reisen“ durchsuchen Beamte des Kaisers von Lilliput den gestrandeten Gulliver. Die kleinen Männer klettern in seine Taschen und notieren die Dinge, die sie darin finden: Kamm, Rasierer, Tabakdose und die „wunderbare Maschine“, die an einer silbernen Kette aus seinem Knopfloch hängt – seine Uhr. Die Beamten halten die Uhr für seinen Gott, weil Gulliver sagt, er „tue selten etwas, ohne jenes Ding um Rat zu fragen“.

Der amerikanische Psychologe Robert Levine hat versucht herauszufinden, wie unterschiedliche Kulturen mit Zeit umgehen. Er unterscheidet zwischen Kulturen, die sich nach der „Erlebniszeit“ richten, und solchen, die nach der „Zeit der Uhr“ leben. Die Lilliputaner gehören zur ersten Kategorie, Gulliver zur zweiten. Das Gefühl der Beschleunigung, von dem Hartmut Rosa spricht, kennen Levine zufolge nur die Uhr-Menschen, die Gullivers. Während bei ihnen das Mittagessen bis 13 Uhr dauert, weil um 13.30 Uhr der nächste Termin ansteht, dauert das Essen bei Erlebnis-Menschen so lange, wie es eben dauert. Für Uhr-Menschen kann das irritierend sein. Unser Zeiterleben bestimme unser ganzes Wesen, schreibt Levine: „Wie wir uns in der Zeit bewegen, ist letztendlich die Art, wie wir unser Leben leben.“ Wie das im Alltag aussehen kann, zeigen vier Geschichten aus Japan, Indien, Mauretanien und Deutschland.

Deutschland

Deutschland

„In München fühlt sich das Warten viel länger an als in Sizilien, wo ich bis Februar gelebt habe. Hier weiß man immer, wie lang man wohin braucht. Wenn ich also mit drei Minuten Wartezeit auf die U-Bahn rechne, aber zehn Minuten warten muss, ist das ein unvorhergesehener Zeitverlust, eine Enttäuschung. In Palermo gibt es keine Busfahrpläne. Du gehst zur Haltestelle und bist darauf eingestellt, so lange zu warten, wie du eben warten musst. Du kannst also nicht so stark enttäuscht werden. Dieser Unterschied ändert die ganze Art, wie du deinen Tag planst. Hier beginnt man sich zu ärgern, wenn jemand zehn Minuten zu spät dran ist. In Sizilien erst nach einer halben Stunde.“

Gaetano, 28
Indien

Indien

„Wenn ich hier am Bahnschalter Schlange stehen muss, stresst mich das kaum noch. Zehn Minuten warten? Da bin ich anderes gewohnt. In Delhi musste ich mich als Ausländer um ein Zugticket „bewerben“: Formulare ausfüllen, den Pass kopieren, die genaue Verbindung angeben. Das an sich dauert schon. Dann zieht man eine Nummer und wartet auf Bewilligung. Hier in Deutschland hätte ich bis dahin vielleicht gelesen oder mich geärgert über die Zeit, die vergeht. In Indien hab ich mich mit den Menschen unterhalten können, da ist es normal, mit Fremden zu quatschen. Ärgerlich waren am Ende also nicht die drei Stunden, die ich warten musste. Ärgerlich war, dass ich kein Ticket mehr bekommen hab – der Zug war schon voll.“

Clara, 25
Japan

Japan

„Die Kollegen in meiner Firma in Japan haben immer vor dem Computer zu Mittag gegessen. Am Anfang meines Praktikums konnte ich sie einmal zu einer Mittagspause überreden: Wir haben unsere Bento-Boxen aufs Dach des Firmengebäudes mitgenommen. Meine Idee war, dass wir in Ruhe an der frischen Luft essen und ein bisschen runterkommen. Aber die Kollegen haben ständig auf ihre Uhren geguckt, sie wollten möglichst schnell aufessen und zurück an die Arbeit. Wenn meine Kollegen einmal krank waren, sind sie nicht zuhause geblieben, sondern haben eine Grippeschutzmaske aufgesetzt, um die anderen vor Ansteckung zu schützen, und sind in die Arbeit gefahren.“

David, 29
Mauretanien

Mauretanien

„Sieben Stunden mussten wir 2005 warten, um die Grenze von Westsahara nach Mauretanien zu überqueren. Wir haben uns zu den Einheimischen auf die Straße gesetzt, uns mit ihnen unterhalten und Tee getrunken. Die Zeit ist uns schnell vergangen. Hinter uns standen zwei Deutsche um die 30 mit ihrem Geländewagen, die waren hypernervös und wollten unbedingt möglichst schnell durchkommen. Passiert ist das Gegenteil: Im Niemandsland zwischen den beiden Grenzposten ist ihr Auto im Sand steckengeblieben, weil sie vom Weg abgewichen sind. Die Einheimischen mussten sie rausziehen. Sie sind vollkommen fertig zwei Stunden nach uns am Campingplatz in Mauretanien angekommen.“

Christian, 31

Ende der 90er Jahre liefen Levines Studenten mit Stoppuhren durch Städte in 31 Ländern der Welt. Sie stoppten, wie lange Fußgänger brauchten, um eine bestimmte Distanz zurückzulegen, und wie lange sie am Postamt auf eine Briefmarke und Rückgeld warten mussten; und sie notierten, wie exakt die öffentlichen Uhren gingen. Manche Kollegen kritisierten Levines Messmethoden als willkürlich, seine Ergebnisse werden trotzdem bis heute zitiert. Levine erstellte aus den Daten ein Länderranking. Das Ergebnis: Am schnellsten waren Schweizer, Iren und Deutsche, am langsamsten Mexikaner, Indonesier und Brasilianer. Der britische Psychologe Richard Wiseman wiederholte einen Teil des Experiments im Jahr 2006. Länder wie China und Brasilien, die in der Zwischenzeit reicher und industrialisierter geworden waren, waren seiner Studie zufolge auch in der Rangliste der schnellsten Länder aufgestiegen.

„Zeit ist nicht die Hauptsache. Sie ist das Einzige“
Dem US-Jazzmusiker Miles Davis (1926-1991) zugeschrieben

Robert Levine schloss aus seinen Ergebnissen auf fünf Faktoren, die das Tempo einer Kultur prägten: Je wohlhabender und industrialisierter ein Land, je kühler sein Klima und je individualistischer seine Gesellschaft, desto höher sei das Tempo, schreibt Levine; und in Städten gehe es schneller zu als auf dem Land.

KOPF MACHT TEMPO

In einem Land wie Deutschland – wohlhabend, industrialisiert, individualistisch und eher kühl – herrscht demnach ein relativ hohes Lebenstempo, in deutschen Großstädten ein noch höheres. Mancher empfindet das als stressig und überfordernd, manch anderer als angenehm oder aufregend. Wer gestresst ist und wer nicht, hängt dabei eher nicht von den Faktoren ab, an die wir spontan denken würden. Die alleinerziehende Supermarkt-Verkäuferin fühlt sich nicht unbedingt gestresster als das reiche Töchterchen, wie zwei Studien zum Thema gezeigt haben.

In einer davon protokollierten Menschen ihre Tagesabläufe und wurden nach ihrem Zeitdruck befragt. Es zeigte sich, dass der Zusammenhang zwischen tatsächlichem Zeitmangel und gefühltem Stress sehr schwach ist: Rentner fühlten sich schon unter Stress, wenn sie durchschnittlich vier Stunden und 45 Minuten am Tag beschäftigt waren, Landwirte erst bei mehr als zehn Stunden.

Die andere Studie kam zu dem Schluss, dass Menschen umso mehr Zeitmangel beklagen, je reicher sie sind – unabhängig von ihren Arbeitszeiten. Die Erklärung dafür weist auf die Thesen des Soziologen Hartmut Rosa zurück: Wer mehr Geld hat, hat mehr Möglichkeiten und leidet darunter, dass er wegen seiner endlichen Lebenszeit nicht alle umsetzen kann.

Generell halten wir uns als Gesellschaft für gestresster als wir es sind: Vier von zehn Befragten sagten in einer Studie, sie litten unter Stress, aber acht von zehn hielten „die meisten Menschen in Deutschland“ für gestresst.

„Eine Stunde kann im menschlichen Geiste auf das Fünfzig - oder Hundertfache ihrer Uhrenlänge gedehnt werden; andererseits kann sie darin akkurat durch eine einzige Sekunde wiedergegeben werden.“
Virginia Woolf, britische Schriftstellerin, 1928

Der reale Zeitdruck ist also nur einer von vielen Faktoren, die beeinflussen, wie schnell wir das Verstreichen der Zeit erleben.Bei jedem einzelnen Menschen schwankt das Zeitempfinden massiv. Ein Phänomen, das jeder kennt: Beim Essen mit den besten Freunden vergehen Stunden wie Minuten, im Wartezimmer beim Arzt scheint sich der Uhrzeiger gar nicht zu bewegen. Je größer die Ablenkung, desto schneller vergeht die Zeit. Das belegt auch ein kleines Experiment:

Die Tetris-Ablenkung hat funktioniert: Beim Zeichnen haben unsere Versuchspersonen schon nach durchschnittlich 62 Sekunden „Stop“ gesagt, beim Spielen erst nach 78 Sekunden.

Wie aber kommen wir überhaupt zu diesen Einschätzungen? Wie misst unser Körper die Zeit, was passiert dabei im Gehirn? Es gibt kein Sinnesorgan, das für das Zeiterleben verantwortlich ist. Unser Gehirn, vermuten Forscher, nutzt andere Signale im Körper, um die Zeit einzuschätzen – etwa unseren Herzschlag oder unseren Atemrhythmus. Im Gehirn gibt es eine Art Zähler, ähnlich dem Stromzähler in unserer Wohnung, der den Takt dieser Signale misst.

Zwei Faktoren bestimmen, wie schnell die Zeit für uns vergeht: Erstens der Takt der Körpersignale selbst. Wenn der Zähler mehr Signale bekommt – etwa weil wir Fieber haben und unser Herz daher schneller schlägt –, dann kommt unser innerer Stromzähler früher bei der Zahl 60 an als sonst. In den selben realen Zeitraum passen mehr gefühlte Minuten, die Zeit scheint sich zu dehnen.

Der zweite Faktor ist die Aufmerksamkeit. Liegt sie bei unserem Körper und der vergehenden Zeit, bemerkt unser Gehirn jedes hereinkommende Signal. Die Zeit vergeht langsam. Sind wir hingegen abgelenkt, entgeht ihm ein Teil der Signale. Die Zahl 60 ist später erreicht als sonst, in den selben realen Zeitraum passen weniger gefühlte Minuten, die Zeit rast.

Auch in Gefahrensituationen vergeht die Zeit unendlich langsam– wer schon einmal einen Unfall hatte, kennt das Phänomen.

Anders sieht die Sache aus, wenn wir auf ein Ereignis zurückblicken. Dann erscheinen uns genau die Momente, in denen die Zeit davongerast ist, besonders lange; die Wartezeit beim Arzt hingegen haben wir sehr kurz in Erinnerung. Der Psychologe Marc Wittmann nennt dieses Phänomen das „Zeitparadox“: Die „prospektive“ Wahrnehmung, also die in der Gegenwart, unterscheidet sich von der „retrospektiven“ Wahrnehmung, dem Rückblick. Experimente haben gezeigt, dass sich die Wahrnehmung von schnell oder langsam vergehender Zeit im Rückblick ins Gegenteil verkehrt. Der Grund laut Wittmann: Wenn wir viel erlebt haben und die Zeit daher schnell verging, haben wir auch viele Erinnerungen an den fraglichen Zeitraum. Haben wir nichts erlebt, hat unser Gedächtnis keine Erinnerungen abgespeichert. Und je mehr Erinnerungen wir an eine bestimmte Zeitspanne haben, desto länger erscheint sie uns im Rückblick. Schätzen Sie doch mal, vor wie vielen Minuten Sie diesen Artikel geöffnet haben.

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Die retrospektive Wahrnehmung dürfte auch der Grund dafür sein, dass für uns die Zeit im Alter immer schneller vergeht. In Umfragen etwa gaben ältere Menschen deutlich häufiger als jüngere an, dass die vergangenen zehn Jahre für sie nur so dahingeflogen seien. Bei Zeiträumen von Wochen oder Monaten gab es keinen solchen Effekt. Wissenschaftler erklären sich den Unterschied beim Rückblick auf die vergangenen zehn Jahre ebenfalls dadurch, dass die rückblickende Zeitwahrnehmung auf der Zahl der Erinnerungen beruht. „In der Kindheit, der Jugend, dem jungen Erwachsenenalter ist alles neu, alles passiert zum ersten Mal und wird daher besonders abgespeichert“, sagt der Psychologe Wittmann. Im Laufe der Zeit würden wir dann „auch im Leben immer routinierter“. Selbst wenn wir uns bemühen, immer wieder Neues auszuprobieren: Die grundsätzliche Neuartigkeit unserer ersten Lebensjahre können wir nicht wieder erleben. Die vorangegangenen zehn Jahre haben weniger neue Reize und damit weniger neue Erinnerungen gebracht als etwa unsere Teenagerzeit – sie scheinen schneller vergangen zu sein.

Vielleicht trägt dieser Effekt auch zu unserem Gefühl bei, dass die Gesellschaft immer schneller wird. Wir alle werden schließlich älter, niemand wird jünger. Auch wenn das Tempo der Außenwelt konstant bleiben würde, hätte jeder Einzelne von uns allein durch die zunehmende Lebensroutine den Eindruck, dass es steigt. Diese gefühlte Beschleunigung schreiben wir aber nicht unserer Psyche und unserer Lebensroutine zu, sondern der Außenwelt.

Und so haben wir das Gefühl, die Welt drehe sich immer schneller.

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Süddeutsche Zeitung Sueddeutsche.de
"Wie wir ticken" ist ein Projekt der Volontäre der Süddeutschen Zeitung.

Text:
Ruth Eisenreich
Mitarbeit:
Gianna Niewel
Video:
Laura Terberl, Lukas Ondreka
Illustration & Animation:
Yinfinity
Titelbild:
Sonja Marzoner
Projektmanagement & Entwicklung:
Maximilian Salcher

Unser besonderer Dank geht an Wolfgang Jaschensky und an die Teilnehmer unseres Experiments