Rajja El-Saadi schaut in die Vergangenheit
Früher, sagt Rajja El-Saadi, lagen in den Büschen vor ihrem Friseursalon immer die Spritzen von Heroinabhängigen herum. Einmal, so erzählt man sich, habe ein Junge sich mit einer Spritze in den Finger gestochen, als er einen Fußball aus dem Gebüsch holen wollte.
Über das verwahrloste Pallasseum der achtziger und neunziger Jahre wird viel erzählt. In den Treppenhäusern und auf den Fluren des Plattenbaus wurde gedealt. Obdachlose und Fixer hausten regelrecht in den endlosen Gängen des Gebäudes. Überall stank es nach Urin und Kot. Die Einrichtung war kaputtgeschlagen. Die Berliner Zeitungen nannten den Sozialpalast Ende der neunziger Jahre einen Slum.
Was damals wirklich hier passiert ist, lässt sich heute jedoch nur schwer ermitteln. Die Berliner Polizei will sich zur Kriminalgeschichte von einzelnen Gebäuden nicht äußern, um sie nicht zu stigmatisieren. Deshalb ist man angewiesen auf die Geschichten der Anwohner und Ladenbesitzer, die diese Zeit erlebt haben. Sie können am besten erzählen, wie sich das Pallasseum gewandelt hat.
Der Friseurladen von Rajja El-Saadi ist dafür eine gute Adresse. Seit 30 Jahren betreibt die 51-Jährige den "Salon Chanel" im Pallasseum. Seit 30 Jahren schaut sie beim Haare schneiden aus dem Fenster auf die Straße. Auf dieser Bühne hat sich die Geschichte des Pallasseums live vor ihren Augen abgespielt. Im Grunde, sagt sie, habe sie immer gern hier gearbeitet. Aber Rajja El-Saadi hat im Pallasseum auch fünf Kinder großgezogen. Und als Mutter machte sie sich oft Sorgen.
Gewohnt hat sie mit ihrer Familie dort zwar nie, aber den Großteil des Tages verbrachte sie im Pallasseum. Nach der Schule kamen die Kinder immer zu ihr in den Laden. Ihre Söhne spielten dann Fußball vor dem Friseursalon. Direkt neben den Büschen, in denen die Spritzen lagen. "Mein Mann und ich, wir mussten immer auf sie aufpassen", sagt Rajja El-Saadi.
Rajja El-Saadi holt ein Fotoalbum unter der Ladentheke hervor. Auf einem Bild sieht man ihren Sohn Hamudi im Deutschlandtrikot vor den Büschen. Auf einem anderen, wie die Brüder im Innenhof Fangen spielen. Die Hosen und Hemden frisch gewaschen und gebügelt. Die Bilder zeigen, wie sich die El-Saadis bemühten, ihre Kinder trotz des schlechten Umfelds behütet aufwachsen zu lassen.
Besonders schlimm mit den Fixern, sagt El-Saadi, sei es im Winter gewesen. Die Ersten tauchten dann schon gegen 16 Uhr vor dem Friseursalon auf, sobald es dunkel wurde. Wie ein Wachhund habe sie in dieser Zeit ständig auf die Straße geschaut. Und wenn sie jemanden sah, der vor ihrem Laden rumlungerte, nahm sie den Besen und verjagte ihn.
Rajja El-Saadi ist schlank, fast zierlich, trotzdem traut man ihr zu, dass sie ihren Laden resolut verteidigen kann. Um 18 Uhr, als die Geschäfte schlossen und die El-Saadis nach Hause fuhren, waren die Fixer aber wieder da, und die Dealer machten die Ladenzeile am Pallasseum dann doch zu ihrer Geschäftsmeile.
Fragt man Bewohner, die gerade erwachsen geworden sind, erzählen sie, dass Kinder im Pallasseum damals zwangsläufig mit Drogen in Kontakt kamen. Sie erzählen, dass die Jüngeren sich daran gewöhnten, nicht in die Ecken des Hofes zu gucken, wenn die Fünfzehn- bis Sechzehnjährigen dort ihre ersten eigenen Geschäfte abwickelten. Dass Straßengangs darüber bestimmten, wer die Anlage überhaupt betreten durfte. Das Pallasseum und die Umgebung – Nord-Schöneberg - waren das Revier der "30 Kings" und der "Barbaren". Kamen Jugendliche aus anderen Berliner Bezirken zum Pallasseum, wurden sie verjagt oder mussten ohne Turnschuhe nach Hause gehen.
Hamudi El-Saadi kennt viele, die auf diese Weise ihre Karriere als Drogenhändler begannen. "Wenn du hier aufgewachsen bist, hast du automatisch solche Leute kennengelernt. Irgendwann tickten auch deine Freunde oder Cousins plötzlich Drogen." Er habe dann versucht, sich so gut es ging fernzuhalten. Ein Traum half dabei: "Der wollte Fußballprofi werden wie alle anderen", sagt seine Mutter etwas spöttisch dazu.
Seit fünf Jahren hilft der 28-Jährige Hamudi nun im Laden. Und seit zwei Jahren arbeitet auch Haschem El-Saadi, 20, im "Salon Chanel". Rajja El-Saadi kümmert sich inzwischen nur noch um die Frauen. Auf der linken Seite des Ladens frisieren ihre Söhne junge Männer mit Elektrorasierern. Seitlich die Haare ganz kurz. Oben länger. Die Scheitel mit Gel gefestigt.
Das Pallasseum, sagt Hamudi El-Saadi, habe sich schrittweise verändert. Im Grunde sei der Wandel aber recht schnell gegangen. Eine Rolle haben dabei auch die architektonischen Veränderungen gespielt. Zwischen 2001 und 2003 wurde das Gebäude saniert. In den Eingangsbereichen wurden Kameras installiert und eine Hausmeisterriege war fortan immer vor Ort. Den Obdachlosen, Fixern und Dealern wurden so die Rückzugsbereiche genommen. Wenn sich doch jemand in das Gebäude verirrte, der so aussah, als könnte er etwas mit Drogen zu tun haben, riefen die Anwohner sofort die Polizei.
"Heute ist das hier eine Familienzone", sagt Rajja El-Saadi. Auf die Straße guckt sie inzwischen, um sich zu entspannen. Büsche stehen dort keine mehr. Wenn sie müde ist, setzt El-Saadi sich auf den Stuhl vor ihrem Laden. Immer wieder wird sie dann gegrüßt. "Das ist jetzt wie auf dem Dorf. Jeder kennt jeden. Um sein Kind muss man keine Angst mehr haben."
Ihre Söhne glauben aber nicht, dass die Dealer und Fixer völlig verschwunden sind. Das Pallasseum, mit den vielen Kindern, die hier spielen, sei jetzt eben tabu, sagt Haschem El-Saadi. Er habe aber jede Menge Bekannte, die weiterhin in Schöneberg Drogen verkaufen. "Die sind nur ein paar Ecken weitergezogen. Wenn ich Drogen haben wollte, hätte ich das Zeug in zwei Minuten."
Rajja El-Saadi weiß nichts von den Dealern. Aber wenn einer hier stehen und Stoff verkaufen würde, den würde sie sofort verpfeifen, sagt sie. "Das wäre mir völlig egal, wer das ist." Zur Not würde sie ihren Laden auch wieder mit dem Besen verteidigen.