Süddeutsche Zeitung

Heimat im Kopf

Zwei Frauen stehen vor Ota Dětáks Haus und wollen etwas von ihm. Ihr Deutsch versteht er nicht. Aber er weiß, dass hier, in seinem Haus, früher einmal Deutsche gewohnt haben. Da gibt es noch ein altes Mathebuch. Zeugnisse. Und ein Schreibheft. Alles auf Deutsch.

Děták lebt und arbeitet in Prag. Er kommt nur ab und zu am Wochenende hierher nach Srní, in dieses kleine Dorf im Erzgebirge, das früher einmal Boxgrün hieß. Nun steht er also vor zwei Frauen, und die wollen, so stellt sich heraus: Erde. Erde für ein Grab in Deutschland.

Eine der beiden Frauen wurde hier, in Dětáks Haus, geboren. Auch die andere, ihre Schwägerin, hat sudetendeutsche Wurzeln. Sie gehört zu einer Gruppe Deutscher, die jedes Jahr durch Tschechien wandert. Fast 30 Jahre ist die Begegnung vor Dětáks Haus nun her und die Deutschen kommen noch heute nach Tschechien, schauen sich die Landschaft an, besuchen ihre Geburtsorte. Die Orte, die sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verlassen mussten.

Vor 70 Jahren, im Mai 1945, begann die Vertreibung, bei der knapp drei Millionen Sudetendeutsche ihre Heimat verloren, als Vergeltung für die Verbrechen der Nazis. Die meisten, die heute noch leben, waren damals Kinder. Trotzdem fühlen sich einige von ihnen mit dem Land ihrer Eltern und Großeltern verbunden, fahren immer wieder dorthin. Warum?

Vor fast 30 Jahren eine zufällige Begegnung, heute ein Stück deutsch-tschechischer Verständigung: Ota Děták trifft sich immer wieder mit der Wandergruppe aus Deutschland.

Ota Děták weiß zumindest eine Antwort: „Sie interessieren sich einfach sehr für ihre Heimatorte.“ Auch er selbst tut das. Er erforscht die deutsche Geschichte von Srní, sammelt Dokumente und Erinnerungen. Und aus der Begegnung mit den Deutschen, die Erde aus seinem Garten wollten, ist ein kleines Stück deutsch-tschechische Verständigung geworden.

Ein paar Jahre später lud Děták die ganze Gruppe Deutscher in sein Wochenendhaus ein. Seither trifft er sie regelmäßig bei ihren Wanderungen. „So gut wie jedes Jahr fahre ich mit meiner Frau in irgendein Gasthaus irgendwo in Tschechien, um einen Abend mit ihnen zu verbringen“, sagt Děták. Mit einem hat er sich besonders angefreundet: Gerhard Tschapka. Sie schreiben sich, tauschen Fotos und Dokumente aus; ab und zu besuchen sie sich gegenseitig.

Faszination für das Herkunftsland

Tschapka wuchs in Český Krumlov auf, einer Stadt in Südböhmen, die früher Böhmisch Krumau hieß. Als er acht Jahre alt war, wurde seine Familie vertrieben. An die Vertreibung hat Tschapka fast keine Erinnerungen mehr, an die Zeit davor auch nicht.

Wenn jemand Gerhard Tschapka fragt, woher er kommt, dann sagt er: „Daher, wo die Welt am schönsten ist. Aus dem Böhmerwald.“ Er sagt auch, dass er stolz ist auf das Land seiner Ahnen. „Wenn ich dorthin zurückfahre, dann ist das anders, als wenn ich nach Österreich oder Italien fahre.“ Inzwischen war er bestimmt schon sechzigmal in Tschechien. Trotz dieser Faszination für sein Herkunftsland – seine Heimat, sagt Tschapka, ist Deutschland. „Ich bin hier aufgewachsen, wir haben hier unsere Kinder großgezogen.“

Als junger Mann war Tschapka in der Sudetendeutschen Jugend, der Jugendorganisation der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Als er dafür zu alt wurde, schloss er sich der „Jungen Generation“ an, einer Gruppe von Sudetendeutschen, die die Vertreibung als Kinder erlebt hatten. Die Gruppe gibt es bis heute und Tschapka ist seit vielen Jahren ihr Vorsitzender. In die Landsmannschaft wollte er damals nicht. Dort saßen die Alten, die Generation seiner Eltern. Und die hatte ganz andere Ansichten.

Obwohl es verboten war, konnte Gerhard Tschapkas Familie einige Wertgegenstände nach Deutschland schmuggeln. Darunter Tschapkas blaues Geburtsglas, ein Geschenk zur Taufe.

Noch heute streiten manche Sudetendeutsche darüber, wie sie mit ihrer Vergangenheit umgehen sollen. Das zeigt das aktuelle Zerwürfnis innerhalb der Landsmannschaft. Unter den Mitgliedern tobt eine Auseinandersetzung über die politische Ausrichtung der Gruppierung – und über die Frage: Soll in der Satzung der Landsmannschaft von „Wiedergewinnung“ der Heimat die Rede sein? Anfang März stimmte die Bundesversammlung über den Antrag ab, den umstrittenen Begriff zu streichen und durch eine unverfänglichere Formulierung zu ersetzen. Eine klare Mehrheit war dafür.

Vertreter des rechten Flügels der Landsmannschaft können sich mit dem Votum allerdings nicht anfreunden. In einem Brief des Witikobundes, einer als rechtsextrem geltenden Gruppierung innerhalb des Vertriebenenverbands, die früher vom Verfassungsschutz beobachtet wurde, ist von einer „Kastration“ der Satzung die Rede. Und in einem Rundschreiben warnte der Bund seine Mitglieder davor, dass damit ein „Schlussstrich unter das Sudetenland“ gezogen werden könnte.

Die Liberalen sind in der Überzahl

Wolfgang Schwarz, Historiker und Politologe, beschäftigt sich schon lange mit der Vertreibung und den deutsch-tschechischen Beziehungen. Er sagt, dass mit der Auseinandersetzung um die Satzungsänderung nun ein Konflikt offen ausgetragen werde, der schon lange im Hintergrund schwelte – ein Konflikt zwischen den reformorientierten Sudetendeutschen auf der einen Seite und denjenigen, „die eigentlich alles beim Alten lassen wollen“ und auf die Rückgabe von Eigentum bestehen, auf der anderen Seite. Schwarz sagt auch, dass das Stimmenverhältnis von etwa 70 zu 30 Prozent die generelle Stimmung in der Landsmannschaft wiedergebe: Ein größerer Teil der Mitglieder sei fortschrittlich und bereit, auf die tschechische Seite zuzugehen; ein kleinerer vertrete immer noch radikale Ansichten.

Die Landsmannschaft repräsentiert aber bei Weitem nicht alle Sudetendeutschen. Zwei weitere Verbände wollen die Interessen der Vertriebenen wahren: die sozialdemokratische Seliger-Gemeinde und die katholische Ackermann-Gemeinde. Dazu kommen kleinere Gruppen und Heimatkreise. Und es gibt Sudetendeutsche, die sich überhaupt nicht organisieren. Schwarz zufolge ist das die Mehrheit. Interesse für die eigene Vergangenheit sei bei vielen aber da, sagt Schwarz. „Ich denke, dass die eigenen Wurzeln, die Heimat, wenn man so will, in den allermeisten Fällen nicht aus dem Kopf wegzukriegen sind.“

Aus dem Kopf von Manfred Baumgartl sicher nicht. Baumgartl war erst viereinhalb Jahre alt, als seine Familie gezwungen wurde, ihr Heimatdorf im Erzgebirge zu verlassen. Trotzdem kann er sich noch ziemlich genau erinnern. „An einem Abend – es war 1946, der Vater war schon zurück – kamen zwei Tschechen und ein russischer Soldat. Sie haben gesagt: Morgen früh um neun Uhr ist das Haus versiegelt und ihr seid draußen.“ Bepackt mit dem Nötigsten musste Baumgartl zusammen mit seinen Eltern und vier Geschwistern zu einem Sammellager laufen, das ungefähr zehn Kilometer von seinem Heimatdorf entfernt lag. Dort blieb die Familie einige Wochen lang; Baumgartls Eltern und seine älteren Geschwister mussten auf tschechischen Bauernhöfen mitarbeiten. Dann begann die Zugfahrt in Richtung Westen.

„Für uns Kinder war das wie Abenteuer“

„Ich weiß noch genau, wie wir in den Viehwagen eingestiegen sind und die große Tür zugeschoben wurde“, sagt Baumgartl. Der Zug setzte sich in Bewegung, rumpelte über die Schienen. Im Wagen stank es, weil die Kinder in die Hose machten. Was genau da mit ihnen passierte, verstand Baumgartl damals nicht: „Wir Kinder hatten keine Angst. Für uns war das wie Abenteuer. Ich habe immer durch die Schlitze in den Wänden rausgeschaut, um zu gucken, wo wir waren.“

Als der Zug zum ersten Mal anhielt, hatten sie die Grenze zu Deutschland schon überquert. „Ich weiß nicht mehr genau, warum wir angehalten haben. Aber ich erinnere mich daran, wie die Türen aufgegangen sind und frische Luft in den Wagen kam. Die älteren Leute haben ihre weißen Armbinden mit dem N darauf heruntergerissen und aus dem Zug geworfen.“ In manchen Regionen der Tschechoslowakei mussten die deutschen Bewohner nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges solche Armbinden tragen. Das N stand für „Němec“, was übersetzt „Deutscher“ heißt.

Die Reise endete schließlich in Bayern. Dort hat Baumgartl den Großteil seines Lebens verbracht. Trotzdem fühlt er sich noch immer mit seinem Geburtsort verbunden: „Ich fühle mich dort heimisch, wo ich gelebt habe. Und im Erzgebirge habe ich einen Teil meiner Kindheit erlebt. Heimat möchte ich nicht unbedingt sagen, aber dort sind eben meine Wurzeln“, sagt er. „Ich freue mich immer, wieder dorthin zu kommen.“

Vor 70 Jahren hätte Manfred Baumgartl jetzt inmitten seines Elternhauses gestanden. Heute sind nicht einmal mehr die Grundmauern übrig.

Knapp 70 Jahre später steht Baumgartl wieder im Erzgebirge, in seinem Heimatdorf Rolava, das früher Sauersack hieß. Baumgartl nennt es noch immer so. Er lässt seinen Blick über das Hochplateau schweifen, hebt seinen rechten Arm, beschreibt einen großen Kreis – so, als wolle er das ganze Gelände umarmen. Sauersack sei ein großes Dorf gewesen, erzählt er. Vor dem Krieg hatte es mehr als Tausend Einwohner.

Heute deutet fast nichts mehr darauf hin, dass der Erzgebirgshang vor weniger als einem Jahrhundert noch voller Häuser stand. Nur ein einziges ist übrig geblieben: dunkelrote Holzverkleidung, graues Schieferdach. Früher war hier das Postamt. An einigen Stellen ducken sich ein paar Mauerreste ins Gras, halb überwuchert von Unkraut und Blumen. Wer genau hinsieht, findet hier und da auch ein Loch im Boden, das in ein altes Kellergewölbe führt.

Das alte Haus, die Mauerreste, die Löcher im Boden – sie alle zeugen von Manfred Baumgartls Familie und all den anderen Deutschen, die bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in der Tschechoslowakei lebten. Nach der Vertreibung wurden ihre Häuser und Dörfer entweder von Tschechen und anderen Neuankömmlingen besiedelt, oder – wie im Fall von Rolava – verschwanden vollständig.

Für Manfred Baumgartl liegen hier im Erzgebirge aber noch immer seine Erinnerungen. Vor vielen Jahren kam er zum ersten Mal zurück, suchte die Grundmauern seines Hauses – und fand sie. Er wollte das Grundstück seiner Eltern sogar zurückkaufen. Seine jüngste Tochter Annette hat ihn damals begleitet. Sie hat sich angeschaut, woran sich ihr Vater noch erinnern kann: den Wassergraben, in dem seine Eltern früher die Wäsche gewaschen und die Ziegen getränkt haben. Die Sandgrube, in der er mit seiner Zwillingsschwester gespielt hat. Und den schmalen Weg zur Grenze nach Sachsen, den er entlanggelaufen ist, wenn ihn seine Mutter zum Schwarzbeeren-Pflücken geschickt hat.

Was ihr Vater erzählt, interessiert Annette auch heute noch. Warum er so sehr an diesem Stück Land hängt, das versteht sie aber nicht. Sie gehört zur nächsten Generation. Für sie ist die Vertreibung ein Teil der deutschen Geschichte.