Ein wadenlanger blauer Mantel mit großen silberfarbenen Knöpfen. Schwarze Lederstiefel. Ein schwarzer Hut mit blauem Hutband. Richard Šulko steht im Heimatmuseum von Nečtiny – und wirkt selbst wie aus einer anderen Zeit. Der 54-Jährige trägt eine Nachahmung einer historischen Tracht; so einer, wie sie Männer im Egerland Ende des 19. Jahrhunderts getragen haben. Heute hat er sie angezogen, weil er hier, im früheren Netschetin, für eine Besuchergruppe aus Deutschland singen will: ein Volkslied, im Egerländer Dialekt.
Das Egerland (tschechisch: Chebsko) ist eine Region im Westen Tschechiens. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wohnten dort überwiegend Deutsche. Seit seiner Kindheit ist Šulko mit der Region und ihrer deutschen Kultur eng verbunden. „Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater kam aus der Slowakei. Mit ihnen habe ich nur Tschechisch gesprochen“, erzählt er. „Aber an den Wochenenden und in den Ferien war ich bei meiner Urgroßmutter auf dem Land. Und die hat Egerländerisch mit mir geredet.“ Das ist der deutsche Dialekt, der früher in Chebsko benutzt wurde.
Šulkos Urgroßvater durfte nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie in der Tschechoslowakei bleiben, weil er beweisen konnte, dass er Sozialdemokrat war. Insgesamt entgingen etwa 250.000 von mehr als drei Millionen Sudetendeutschen der Vertreibung. Unter ihnen waren vor allem Antifaschisten wie Šulkos Urgroßvater und Facharbeiter, die im Bergbau oder in der Textilindustrie gebraucht wurden. Auch wer mit einem Tschechen oder einer Tschechin verheiratet war, durfte in der Regel bleiben.
Die letzten noch lebenden Verbliebenen bilden heute zusammen mit ihren Nachkommen die deutsche Minderheit in Tschechien. Ein großer Teil dieser Minderheit lebt noch immer in den Grenzgebieten im Westen des Landes. Dort sind die Spuren der einstigen deutschen Bewohner bis heute sichtbar: Auf Friedhöfen tragen die meisten Grabsteine deutsche Inschriften. In Kirchen stehen deutsche Sätze auf Wänden und Statuen. Und es gibt Menschen wie Richard Šulko, die die deutsche Kultur mit ihren Trachten, Volksliedern und Volkstänzen bewahren wollen.
Doch auch die Auswirkungen der Vertreibung kann man noch immer deutlich spüren, gerade in den Grenzgebieten: In vielen Dörfern stehen Häuser leer. Friedhöfe und Kirchen verfallen. Die deutsche Kultur verschwindet nach und nach, weil die junge Generation sich immer weniger mit ihrer deutschen Vergangenheit verbunden fühlt. In der jüngsten Volkszählung im Jahr 2011 gaben nur noch 18.658 Menschen die deutsche Nationalität an. Das entspricht einem Anteil von 0,2 Prozent der gesamten tschechischen Bevölkerung. Zehn Jahre zuvor hatten sich immerhin noch knapp 40.000 Menschen und damit etwa 0,4 Prozent der Bevölkerung als deutsch bezeichnet.
Erwin Scholz kreuzt bei den Volkszählungen noch immer die deutsche Nationalität an. Der 87-Jährige steht auf dem Balkon seiner Hochhaus-Wohnung und betrachtet die Stadt zu seinen Füßen. „Nach 1945 war es verboten, die deutschen Namen zu verwenden. Wir durften die Stadt nicht mehr Reichenberg nennen“, erzählt er. „Stattdessen mussten wir den tschechischen Namen Liberec benutzen.“ Scholz wurde in einem Dorf in der Nähe von Liberec geboren. 1944 wurde er noch eingezogen; während der letzten Kriegsmonate kämpfte er für die Wehrmacht.
Nach zweieinhalb Jahren in amerikanischer Kriegsgefangenschaft kehrte Scholz 1947 schließlich nach Liberec zurück. „Ich habe mich darüber gewundert, dass es in der Stadt so geschäftig zuging“, erzählt er. „Die Straßenbahn fuhr, Autos fuhren, die Kinos spielten, das Theater spielte. Und ich habe mir gedacht: Wie ist denn das möglich? Ich habe keinen einzigen Kumpel mehr hier. Mein ganzes Dorf ist leer. Und in der Stadt herrscht reger Betrieb.“
Als Scholz zurückkam, war Liberec bereits mit Tschechen und anderen Neuankömmlingen bevölkert. Außerdem waren einige diskriminierende Maßnahmen, die sich gegen Deutsche richteten und kurz nach dem Krieg eingeführt worden waren, schon wieder abgeschafft worden. Die Deutschen wurden nicht mehr dazu gezwungen, die weiße Binde mit dem N für „Němec“ zu tragen. Öffentliche Verkehrsmittel durften sie wieder benutzen. „Man hat die Deutschen nicht mehr auf den ersten Blick erkannt“, sagt Scholz.
Doch die Verbliebenen litten weiterhin unter den Beneš-Dekreten, die als Rechtsgrundlage für die Vertreibung verwendet worden waren: Sie hatten keine Staatsbürgerschaft, keine politischen Rechte und keinen Besitz. Darüber hinaus mussten sie 20 Prozent ihres monatlichen Einkommens als Reparationssteuer abgeben. Die Kinder hatten Schwierigkeiten, eine weiterführende Schule zu besuchen; die Erwachsenen verloren ihre akademischen Titel und manchmal ihren Beruf. Erwin Scholz durfte nach dem Krieg nicht mehr als Rechtsanwaltsgehilfe arbeiten. Stattdessen musste er eine Anstellung als Hilfsarbeiter in einer Möbelfabrik annehmen.
Viele der verbliebenen Deutschen wurden Opfer der sogenannten inneren Vertreibung: Sie wurden aus ihren Heimatorten weggeschickt, um woanders zu leben und zu arbeiten. Ziel dieser Maßnahme war es, die Landwirtschaft im tschechischen Inland zu stärken. Gleichzeitig sollten die übriggebliebenen deutschen Gemeinschaften in den Grenzregionen geschwächt werden.
Und es gab noch ein Problem: „Wir haben nichts mehr verstanden. Alles war in Tschechisch“, sagt Scholz. Die Verbliebenen mussten die neue Sprache erst lernen; vor allem den Älteren fiel das schwer. In der Öffentlichkeit Deutsch zu sprechen, war nach dem Krieg verboten. Auch die deutsche Kultur pflegten viele aus Angst nicht weiter – zumindest nicht öffentlich. Hinzu kamen die Widrigkeiten des kommunistischen Regimes.
Vielen erschien es als der einzige Ausweg, die Tschechoslowakei zu verlassen. Bereits in den frühen 1950er Jahren wanderten zahlreiche Deutsche aus, vor allem in die Bundesrepublik Deutschland und in die DDR. Als die Ausreisebestimmungen in den 1960er Jahren gelockert wurden, kam es zu einer regelrechten Auswanderungswelle.
Richard Šulko brach 1989 auf. „Ich habe hier keine Zukunft gesehen“, sagt er. Zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern fuhr er nach Miltenberg in Unterfranken – dorthin, wo seine Großmutter schon 1966 ausgewandert war. Dann kam Ende 1989 die Samtene Revolution. Šulko wollte ein Teil dieser Bewegung sein, kehrte in die Tschechoslowakei zurück. Nachdem die Revolution erfolgreich zu Ende gegangen war, beschloss er, zu bleiben.
„Wenn ich zurückblicke, war es die richtige Entscheidung“, sagt Richard Šulko heute. Er lebt noch immer in seinem Heimatdorf Plachtín, das zu Nečtiny gehört. Šulko sagt auch, dass er mehr Tscheche ist als Deutscher. Er kann sich mit der tschechischen Mentalität besser identifizieren als mit der deutschen, mag die Art, wie man in Tschechien lebt und miteinander umgeht, die Gastfreundschaft und Nähe zwischen den Menschen. Während er erzählt, spricht er Deutsch. Doch immer wieder hält er inne, zieht sein Smartphone aus der Hosentasche, googelt die Übersetzung eines Wortes. Er benutzt die tschechische Sprache einfach häufiger als die deutsche, sagt er.
Trotzdem widmet er den Großteil seiner Freizeit der Bewahrung der deutschen Kultur und Sprache, ist Vorsitzender des Bundes der Deutschen - Landschaft Egerland. Der Verband versucht, die Interessen der Deutschen im Egerland zu vertreten und die deutsche Kultur zu pflegen. Das ist nicht einfach. Zwar gewährt der tschechische Staat heute Minderheitenrechte, doch die deutsche Minderheit ist inzwischen so klein, dass sie aus diesen Rechten kaum etwas machen kann. Das beste Beispiel dafür sei die Bildung in der Muttersprache, sagt Erwin Scholz: Die deutsche Minderheit könne zwar deutsche Schulen gründen, hätte das aber kaum getan, „weil niemand in eine deutsche Schule gehen will“.
Dafür gibt es zwei Gründe: Diejenigen, die wie Šulko nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, sehen sich meist nicht mehr als Deutsche, sondern sind ganz selbstverständlich Tschechen; viele sprechen auch nicht mehr gut Deutsch. Und diejenigen, die sich wie Scholz noch deutsch fühlen, sind inzwischen häufig zu alt und deshalb nicht mehr bereit, Zeit und Mühe in die Bewahrung der deutschen Kultur zu investieren. Manche würden auch bis heute mit den schlechten Erfahrungen der Vergangenheit hadern, meint Šulko.
Šulko selbst muss bei seiner Arbeit immer wieder mit Widerständen kämpfen. Als das Heimatmuseum in Nečtiny geplant wurde, unterstützte er Initiativen, die auch die Geschichte der deutschen Bevölkerung des Ortes darstellen wollten, inklusive Vertreibung. Doch einige Tschechen protestierten, verunglimpften das Museum als „Nazi-Museum“. Am Ende musste der Umfang des Ausstellungsteils über die Vertreibung reduziert werden; heute gibt es einen Schaukasten zum Thema. Als dann die Eröffnung des Museums anstand, wollte Šulko mit seiner Volkstanzgruppe auftreten. Doch er durfte nicht, „weil das negative Emotionen wecken würde bei den Mitbürgern“, so die Befürchtung der Organisatoren.
Für Šulko sind die Erfahrungen mit dem Museum symptomatisch für die Art und Weise, wie mit der deutschen Minderheit in Tschechien umgegangen wird – vor allem auf dem Land. „Wir werden geduldet. Wir leben ein normales Leben wie die Tschechen. Aber wenn wir unsere Trachten tragen und unser deutsches Kulturerbe aufleben lassen, dann wird es manchmal schwierig.“
Auch im Verhältnis zu den Vertriebenen gibt es hin und wieder Spannungen, deuten die Erzählungen von Šulko und Scholz an. So sind manche Vertriebene zum Beispiel der Meinung, dass die Verbliebenen es besser haben, weil sie zu Hause bleiben durften. „Manchmal werfen sie uns sogar vor, dass wir keine richtigen Deutschen seien, weil sie uns sonst auch rausgeschmissen hätten“, sagt Šulko. Umgekehrt fühlen sich manche der Verbliebenen im Nachteil, weil sie die Widrigkeiten von Nachkriegszeit und Kommunismus durchleben mussten. „Ich habe meine ausgesiedelten Kumpel immer beneidet, weil sie in relativ freiheitlichen Bedingungen leben konnten“, sagt Scholz. „Aber dass es so gekommen ist, dafür konnten weder die was noch ich.“ Wenn sie zum regelmäßigen Heimattreffen zusammenkämen, versuchten sie, politische Themen zu vermeiden.
Bei solchen Treffen und Gesprächen beobachte er immer wieder, dass die Vertriebenen bis heute Heimweh quäle, erzählt Scholz: „Der Verlust der Heimat, das ist das Problem, nicht der Verlust des Eigentums.“ Ein guter Freund zum Beispiel habe bei seinen Anrufen immer zuerst gefragt, was der Jeschken mache. Der Jeschken (tschechisch: Ještěd), das ist der Hausberg der Stadt Liberec. Von Scholz‘ Balkon aus ist er gut zu sehen.