Süddeutsche Zeitung

Verschwundenes Sudetenland

Ein verlassenes Zimmer. Teppichboden, Schrank, eine Couch. Dahinter zwei Fenster. Durch das eine sieht man die Beine einer jungen Frau. Sie baumeln in der Luft. Auf dem Pflaster darunter: leblose kleine Körper, eng aneinandergeschmiegt; so, als wollten sie sich gegenseitig wärmen.

Die Beine gehören Anna Pautsch, einer deutschen Kindergärtnerin aus dem Adlergebirge (tschechisch: Orlické hory). Am 26. Mai 1945 wurde Pautsch zuerst verprügelt, dann erhängt. Das Foto ist Teil der Serie „The Art of Killing“ von Lukáš Houdek. Auf 25 Bildern stellt der tschechische Fotograf Verbrechen dar, die während der Vertreibung an Deutschen begangen wurden. Seine Quellen: historische Dokumente, Tagebücher und das Internet. Seine Protagonisten: Barbiepuppen. Warum? „Weil die aussehen wie Menschen“, sagt Houdek. „Wenn du die Fotos aus der Ferne betrachtest, glaubst du, dass die Szenen echt sind.“ Mit „The Art of Killing“ möchte der 31-Jährige dokumentieren, was damals niemand dokumentiert hat – oder heute niemand mehr zeigt. Es ist sein Versuch, sich mit der Vergangenheit seines Landes auseinanderzusetzen.

Lange Zeit hatte Houdek nichts über diese Vergangenheit gewusst. Erst als er einen alten Friedhof im ehemaligen Sudetenland besuchte, um die Porträts auf den Grabsteinen zu fotografieren, begann er, Fragen zu stellen. „Da war so viel zerstört“, erzählt Houdek. „Und man konnte fühlen, dass es mit sehr viel Hass zerstört worden war.“ Nach und nach fand er heraus, was nach dem Zweiten Weltkrieg passiert war. „Ich war entsetzt, weil ich von alledem nie etwas gehört hatte. Ich fühlte mich betrogen.“ Als er „The Art of Killing“ zum ersten Mal öffentlich zeigte, überrollte Houdek eine Welle der Kritik von seinen Landsleuten; sogar als Landesverräter wurde er bezeichnet.

Entsetzt von der Zerstörung: Als Lukáš Houdek die Porträts auf alten Gräbern im ehemaligen Sudetenland fotografierte, begann er, Fragen zu stellen.

Eine kritische Auseinandersetzung mit der Vertreibung fand in Tschechien lange Zeit nicht statt. Im Kommunismus wurde das Schicksal der Sudetendeutschen entweder verdrängt oder für Propaganda-Zwecke benutzt. Schulbücher zum Beispiel enthielten nur ein paar Sätze zum Thema. Meistens hieß es, alle Deutschen seien Nazis gewesen, die 1938 zusammen mit Hitler in die Tschechoslowakei gekommen seien. Sie wurden für die Zerschlagung der Ersten Tschechoslowakischen Republik und für die Schrecken des Zweiten Weltkriegs verantwortlich gemacht. Sie nach dem Krieg wieder wegzujagen, wurde deshalb als legitim dargestellt.

Seit einigen Jahren bemühen sich vor allem junge Tschechen darum, diese Ansicht zu ändern und eine kritische Aufarbeitung der Vergangenheit in Gang zu bringen. Zum Beispiel der Verein Antikomplex. 1998 gegründet war Antikomplex eine der ersten Initiativen in Tschechien, die sich aktiv mit der Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte. „Wir hatten das Gefühl, dass die tschechische Gesellschaft dieses Thema sehr unkritisch sieht“, sagt Matěj Spurný, Historiker und Mitbegründer von Antikomplex. „Dass die meisten Leute darüber gar nicht sprechen wollen oder auch gar nichts wissen. Und wenn sie etwas wissen, dann verfechten sie in der Regel nationale Narrative. Das heißt, sie sind der Meinung, dass eigentlich die Tschechen immer Opfer waren und dass das, was nach dem Krieg passiert ist, in Ordnung war, weil davor so viel Schlechtes geschehen ist. Wir hatten da eine andere Sicht.“

„Wir haben auch uns selbst geschadet“

Antikomplex entstand aus einer Gruppe Studenten, die sich Ende der 1990er Jahre in Prag traf. Alle haben eine enge persönliche Bindung zum ehemaligen Sudetenland. Spurný zum Beispiel wuchs in einem Haus im Riesengebirge (tschechisch: Krkonoše) auf, das früher Deutschen gehört hatte. „Mein Vater hat immer mit großem Respekt über die Leute gesprochen, die da früher gelebt haben. Er hat gesagt, dass sie sich auskannten, und dass sie gute Arbeit geleistet und viele Sachen hergestellt haben, die wir immer noch benutzen“, erzählt der 36-Jährige. „Die Deutschen waren nicht nur Gewalttäter. Sie haben schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg in den Grenzgebieten gelebt. Sie haben die Region gepflegt und ihre Identität geformt.“

Heute organisiert Antikomplex Ausstellungen, plant Exkursionen, gibt Bücher und Unterrichtsmaterialien heraus. Das wohl bekannteste Projekt trägt den Titel „Das verschwundene Sudetenland“: In einer Fotoausstellung und einem begleitenden Bildband zeigt Antikomplex, wie sich die Grenzgebiete Tschechiens durch die Vertreibung der Sudetendeutschen verändert haben, welche Dörfer verfallen und welche vollständig verschwunden sind. „Wir wollen der tschechischen Bevölkerung bewusst machen, dass wir auch uns selbst geschadet haben“, sagt Spurný. „Was nach dem Krieg passiert ist, hat viele Narben hinterlassen, in der Landschaft und in der Gesellschaft.“

In den vergangenen Jahren haben immer mehr Menschen eine kritische Sicht auf die Nachkriegsgeschichte Tschechiens entwickelt: Zwischen 2002 und 2013 stieg der Anteil der Tschechen, die die Vertreibung der Sudetendeutschen als ungerecht bezeichnen, von 26 auf 36 Prozent. Das geht aus regelmäßigen Umfragen des Forschungszentrums CVVM hervor. Die Umfragen zeigen allerdings auch, dass viele Tschechen noch immer anders denken: Bis heute glauben 40 Prozent der Befragten, dass die Vertreibung gerecht war. Dabei gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Altersgruppen. Der CVVM-Studie zufolge betrachten weniger als ein Drittel der Menschen unter 30 Jahren die Vertreibung als gerecht; bei den über 60-Jährigen sind es etwa 50 Prozent.

Matěj Spurný bestätigt diese generationenbedingte Spaltung der tschechischen Gesellschaft – und ergänzt regionale Unterschiede: In den Grenzgebieten sei das Narrativ von der Vertreibung als gerechte Vergeltung für die Naziverbrechen oft noch besonders fest verankert, sagt er. „Es ist irgendwo im Unterbewusstsein, dass der Besitz, den die Menschen da haben, früher mal deutscher Besitz gewesen ist.“ Nicht alle Tschechen gehen damit so entspannt und aufgeschlossen um wie Ota Děták, der gleich eine ganze Wandergruppe aus Deutschland in seinem Wochenendhaus beherbergt hat. Viele fürchten: Wer die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg nun relativiert oder als ungerecht einstuft, der stellt auch ihren Besitz heute infrage.

„Geschichte einfach ausgelöscht“

Anna Kušičková ist nahe der Grenze zu Bayern aufgewachsen. Da, wo früher das Sudetenland begann. Über die Vertreibung habe man dort viele Jahre lang überhaupt nicht gesprochen – und tue es bis heute kaum, sagt die 21-Jährige. „Die Generation meiner Eltern weiß eigentlich gar nicht, was da passiert ist. Das wundert mich immer: Wie kann das passieren, dass diese Geschichte einfach ausgelöscht ist?“ Kušičková hat in der Schule zum ersten Mal etwas über die Vertreibung gehört; seitdem beschäftigt sie sich intensiv mit dem Thema. Sie ist langjähriges Mitglied und seit 2012 Vorsitzende der tschechischen Jugendorganisation Sojka. Die unterhält eine enge Partnerschaft mit der Sudetendeutschen Jugend (SdJ), der Jugendorganisation der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Dreimal im Jahr organisieren Sojka und die SdJ zusammen zweisprachige deutsch-tschechische Zeltlager.

Am Anfang spielte die gemeinsame Geschichte der beiden Länder eine wichtige Rolle in diesen Lagern. Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert: „Jetzt konzentrieren wir uns mehr auf Pädagogik und auf die Arbeit mit Sprache“, sagt Kušičková. Die Organisatoren wollen, dass die Kinder und Jugendlichen ihre Nachbarn kennenlernen. „Unser Hauptziel ist es, Vorurteile zu überwinden.“

Privat

Um ein Lagerfeuer sitzen und Lieder singen – Anna Kušičková (2.v.r.) ist überzeugt, dass Freundschaften zwischen Tschechen und Deutschen viel verändern können.

Trotzdem ist die sudetendeutsche Thematik immer präsent: „Wir wissen, dass wir die Geschichte nicht vergessen können und auch nicht vergessen sollen. Wir müssen aus den Fehlern lernen, die gemacht wurden“, sagt Kušičková. Für sie persönlich spielt noch ein anderer Aspekt eine Rolle: „Wenn wir die Vergangenheit kennen, können wir mehr verstehen: unsere Nation, unsere Geschichte, unsere Familien. Und ein bisschen auch unsere eigene Identität.“

Wenn Kušičková sich mit Gleichaltrigen unterhält, stellt sie oft fest, dass viele immer noch nicht genügend über die tschechoslowakische Nachkriegsgeschichte Bescheid wissen. Ihrer Meinung nach hat das tschechische Schulsystem hier große Defizite: Seit dem Ende des Kommunismus werde die Vertreibung im Geschichtsunterricht zwar durchaus thematisiert. Nach wie vor sei aber kaum Raum für eine ausführliche Beschäftigung damit; über die Konsequenzen zum Beispiel werde meist überhaupt nicht gesprochen, sagt Kušičková. Sie selbst hatte Glück: Ihr Geschichtslehrer am Gymnasium war engagiert, er diskutierte mit ihnen über die Vertreibung, überlegte sich Seminararbeiten. Solche Aktionen von einzelnen Lehrern gibt es immer wieder, auch außerhalb des regulären Unterrichts.

Vereine, Jugendlager, Schul- und Kunstprojekte – viele Initiativen, die sich kritisch mit der Nachkriegsgeschichte Tschechiens beschäftigen und Vorurteile überwinden wollen, werden von tschechischen Bürgern gestartet, nicht von der Regierung oder anderen offiziellen Stellen. „Das muss von innen kommen“, sagt Matěj Spurný, der Mitbegründer von Antikomplex. „Wenn es von außen kommt, fühlen sich die Leute angegriffen.“ Die Tschechen hinterfragen ihre eigene Geschichte zusehends. Spurný hofft, dass es bald noch mehr werden.