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Kapitel 2

Amerikas vergessenes Atommülllager

Von Jan Hendrik Hinzel, Coleen Jose und Kim Wall

Die Reise in das Königreich von Brooke und Mores dauert drei Tage. Die Wellen des Pazifiks werfen die Lady E von einer Seite auf die andere. Katzen kreischen hilflos in ihren Käfigen, Hunde jaulen. Und die Marshaller, deren Vorfahren sich einst rühmten, die größten Seefahrer der Welt zu sein, halten sich mit aller Kraft an der Reling fest, während sie über Bord kotzen.

Es gibt in ihrer Sprache ein Wort dafür, sagt Brooke: pelok. Auf dem Meer verloren sein - davontreiben, um zu sterben – wörtlich und im übertragenen Sinne. Das will sie ihren Kindern ersparen: Sie sollen auf dem Land ihrer Vorfahren aufwachsen. Doch der Großteil des Reichs, das sie ihren Kindern vererben werden, ist mit Plutonium verseucht.

Eniwetok war genau das, was das amerikanische Militär für ihre Atomtests gesucht hatte: mitten im Pazifik und dünn besiedelt, nahe einer US-Militärbasis und weit von den wichtigen Schifffahrtsrouten entfernt. Zwischen 1948 und 1958 zündeten die Amerikaner 43 Atombomben in der azurblauen Lagune und auf den winzigen Inseln des Atolls.

Nur drei Mal im Jahr fährt die Lady E die Strecke zwischen Majuro, der Hauptstadt der Marshallinseln, und Eniwetok. Viele nehmen das Schiff, um die Insel für immer zu verlassen. Brooke und Mores kommen nun, nach sieben Jahren, zurück. Weil sie wollen, dass ihre Kinder eine Verbindung zu ihrer Heimat haben. Und weil Mores in Majuro pelok war. Er vermisste seine Heimat, hatte nur Gelegenheitsjobs und trank zu viel. Auf Eniwetok, sagt Brooke, kann ihr Mann er selbst sein. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum Brooke und Mores nun mit ihren Kindern auf ihr Atoll zurückkommen. Sie wollen ein Zeichen setzen, dass ein Leben auf ihrem Land noch möglich ist. 

Das Empfangskomitee für Brooke und Mores Takala Abraham wartet am Kai. Frauen hängen ihnen Blumenkränze um den Hals. Die Polizisten tragen ihre Uniformen trotz der tropischen Hitze bis oben zugeknöpft. Calypso-Klänge dröhnen aus Lautsprechern. Herzlich willkommen auf dem einzigen wiederbesiedelten nuklearen Ground Zero der Welt.

Brooke kam vor acht Jahren als Lehrerin aus den USA, um hier für ein Jahr zu unterrichten. Eine Romanze war das letzte, was sie suchte. Doch dann traf sie Mores, den Prinzen und künftigen Häuptling des Enjebi-Stammes mit dem „Bad Boy“-Image, der immer mit dem Motorrad die Insel auf und ab fuhr. Bald war Brooke schwanger mit Ahti. Vier Jahre später kam Aapo.

Die beiden sehen jetzt zum ersten Mal das Land ihrer Eltern und Vorfahren. Ihr Atoll hat die Atombomben irgendwie überstanden. Doch nun bricht die nächste Katastrophe herein. Und schon jetzt ist klar: Den Klimawandel wird Eniwetok nicht überstehen. Lange Dürreperioden und schwere Stürme setzen den Bewohnern zu. Und irgendwann wird der Ozean kommen und die weißen Sandstrände, die Kokospalmen und die Brotfruchtbäume verschlucken, lange bevor das Plutonium aufgehört hat zu strahlen. Das wissen auch Brooke und Mores. Ihr Land ist ein Mahnmal für die Zerstörungskraft des Menschen.

Mores war das erste Baby, das nach den Atomtests auf Eniwetok geboren wurde. Wenige Tage nach der Rückkehr seiner Eltern kam er 1980 in jenem Haus zur Welt, in das seine Familie jetzt zurückkehrt. Mit dem Anbau, in dem Mores' Schwester früher eine Billardhalle und ein Ramen-Restaurant betrieben hat, ist es immer noch eines der größten Häuser der Insel. Der Beton bröckelt und das Dach ist undicht, aber Brooke hat mit Geduld und blauer Wandfarbe ein gemütliches Heim für ihre Familie geschaffen. Sie trägt ein traditionelles Guam, wie alle Frauen hier. Verwandte und Nachbarn gehen ein und aus, tratschen, essen, trinken.

Brooke ist schnell angekommen. Aber was noch wichtiger ist: Ahti und Aapo erleben die idyllische Insel-Kindheit, die Brooke sich für sie erträumt hat. Sie spielen draußen, von morgens bis abends, schwimmen in der Lagune und schleppen fast täglich neue Tiere an. Und sie bauen eine Beziehung auf zu ihrem Land. Irgendwann, wenn es ihr Atoll nicht mehr gibt, sollen sie dafür sorgen, dass Eniwetok nicht vergessen wird.

EU-finanzierte Solarzellen versorgen den Flachbildfernseher. Kinder aus der Nachbarschaft scharen sich auf Matratzen, um Zeichentrickfilme zu schauen. Doch die Idylle trügt. Nur 22 Kilometer entfernt, auf der anderen Seite der Lagune, tickt eine Zeitbombe.

Das Grab

Der Runit Dome ragt aus dem Boden wie ein gestrandetes und dann vergessenes Raumschiff. Kletterpflanzen wuchern auf der gewaltigen Kuppel, Seevögel haben im zerbrochenen Beton ihre Nester gebaut. Wenige Meter weiter brechen die Wellen an einem halb zerfallenen Damm. Der Gipfel liegt nur wenige Meter über dem Meeresspiegel, markiert von einer kryptischen Inschrift: „1979“. An den weißen Stränden gibt es keine Krabben, nur Ratten, die angeblich für Strahlenexperimente importiert worden waren.

Die Amerikaner gaben Runit den Namen Yvonne und ließen 14 der 43 Atom- und Wasserstoffbomben von Eniwetok – allesamt mit niedlichen Spitznamen wie „Feige“, “Rose” und “Nektar” - hier detonieren. Die Kuppel erhebt sich an der nördlichen Spitze der Insel, aus einem 107 Meter breiten Krater, den die Bombe „Kaktus“ hinterlassen hat. Und unter dem Betondeckel liegt Amerikas Vermächtnis des Kalten Kriegs, 101 498 Kubikmeter radioaktiv verseuchter Schutt und abgetragener Boden.

Karte von Enetewak Karte von Enetewak

Plutonium ist einer der giftigsten radioaktiven Stoffe mit einer Halbwertszeit von bis zu 24 000 Jahren. Und es ist kein Geheimnis, dass der Runit Dome leckt. Niemand weiß genau, wie viel radioaktiv verseuchtes Material schon nach draußen gelangt ist, in die Lagune, den Pazifik, die Weltmeere. Laut einem Bericht des US-Energieministeriums, das die 358 Betonplatten evaluiert, macht das aber keinen Unterschied – die Ablagerungen außerhalb der Kuppel sind sowieso noch verseuchter als das, was aus der Kuppel herauskommt. Doch was passiert, wenn der Meeresspiegel noch weiter steigt?

Ein Wort für Strahlung haben die Marshaller nicht. Sie sprechen vom Gift. Strahlung kann man nicht riechen. Man kann sie nicht fühlen und auch nicht schmecken. Die Gefahr verblasst in der Wahrnehmung. Aber sie ist noch da. Einheimische graben im verseuchten Boden auf Runit in alten Militäranlagen nach Kupfer und atmen verstrahlten Staub ein. Anders kann man hier kein Geld verdienen.

Manchmal machen Teenager Ausflüge nach Runit und laufen barfuß auf der Kuppel herum oder schlafen auf dem Gipfel - wegen des kühlen Windes. Für sie war die Kuppel immer schon da. Brooke betritt Runit zum ersten Mal. Tränen laufen über ihre Wangen. Die Atemschutzmaske der Bootscrew trägt sie nicht. „Was würde das bringen? Ich habe das Gift schon in mir.“ 

Der Bau des Runit Domes war der Schlusspunkt einer gewaltigen Säuberungsaktion. Zwischen 1977 und 1980 stellten die Amerikaner tausende Soldaten ab, um drei der 40 Inseln für die Neubesiedlung vorzubereiten (zwei Inseln sind von Bomben komplett weggesprengt worden). Sie trugen tausende Kubikmeter verseuchten Boden ab, um den einst evakuierten Bewohnern des Atolls die Rückkehr zu ermöglichen. Der Dreck wurde teilweise einfach in die Lagune gekippt oder eben in den Krater, über den sich heute die Kuppel spannt.

Als die Amerikaner fertig waren, führten sie die Einheimischen über ihre Inseln, zeigten ihnen die atomaren Rückstände und fragten, ob sie wirklich zurück wollten oder nicht doch ein sauberes Stück Land auf Hawaii vorziehen würden. Die Atollbewohner stimmten fürs Bleiben.

Runit ist von einer Reihe radioaktiver Isotope verseucht, aber Brookes Geigerzähler, das Abschiedsgeschenk eines Freundes, bleibt still, als sie damit über Runits Pflanzen und Steine fährt. Es ist ein altes Gerät, eines der analogen, die piepen, aber wahrscheinlich funktioniert es noch, auch wenn es jetzt keinen Ton von sich gibt. Die Alphastrahlung, die von Plutonium ausgeht – Eniwetoks größtes Problem – ist zu kurzwellig, um vom Zähler wahrgenommen zu werden. Sie gelangt primär über Atemwege und verstrahlten Staub in den menschlichen Körper, setzt sich in Lunge, Leber und Skelett ab, und zerstört so die Zellen. Am besten kann man die Substanz in Boden- und Urinproben nachweisen.

Bunker am Strand
Gasmaske
Überreste aus Eniwetoks Atomzeitalter

Der steigende Meeresspiegel droht, die Kuppel innerhalb der kommenden Jahrzehnte zu überschwemmen. Ein Taifun könnte die Außenhaut jederzeit aufreißen – das steht sogar in einem alten Bericht des US-Energieministeriums. Wie soll das Problem gelöst werden? Ein Wissenschaftler, der im Auftrag der US-Regierung den Runit Dome untersucht, empfiehlt eine kosmetische Reparatur der Risse, um die Bewohner zu beruhigen.

Damit will sich Brooke nicht abfinden. „Liegt es nur daran, dass wir so weit weg von allem sind, dass es den USA so gut gelungen ist, das unter der Decke zu halten?“ Für Brooke ist die Heimat ihres Mannes das vergessene Atoll.

Hinter der Kuppel senkt sich die Sonne und färbt den Himmel blutrot. Ein Schnellboot fährt zurück, und in der Weite der Lagune scheint das Meer so tief, dass man nicht sagen kann, wo der Pazifik aufhört und wo der Himmel beginnt. Es ist stockdunkel, bis Brooke die schwach mit Solarenergie beleuchtete Küste erreicht – ein Glimmen menschlicher Existenz inmitten giftiger Inseln.

Bis zur letzten Fahrt

Der Empfang für Brooke und Mores war nicht der einzige Grund, warum die Menschen am Kai standen: Eniwetok hungert seit Wochen. Die Bewohner konnten sich nur noch von Kokosnüssen, Mehl und - hin und wieder - Fisch ernähren. Die Kinder haben geschwollene Bäuche, die Erwachsenen haben rissige Lippen und Ausschlag.

Die Lady E ist vor allem ein Versorgungsschiff der Regierung. Mit ihr kommen die Lebensmittel auf das Atoll, ohne die hier niemand überleben könnte. Vor den Atombomben war Eniwetok ein sich selbst versorgendes Ökosystem. Auf jeder Insel gab es für die Einheimischen etwas zu holen: Früchte, Krabben, Eier.

Das US-finanzierte Landwirtschaftsprogramm sollte traditionelle Pflanzen wieder einführen, aber nach 35 Jahren ist klar, dass die Insel sich nie wieder wird selbst versorgen können. Nur drei Inseln wurden gereinigt und das Abtragen des Bodens hinterließ nur wenige Zentimeter fruchtbarer Erde - zu karg für Ackerbau. Und dann ist da natürlich die Frage, was die Strahlenbelastung mit den Pflanzen macht. Der zuständige Mitarbeiter hat schon alles mögliche dokumentiert: klumpige Brotfrucht, seltsam lange Kokosnüsse, in denen kein Fleisch, sondern nur Öl zu finden war; tropfenförmige Wassermelonen. Eine Folge der Dürre? Oder der Strahlen?

Weil die Regierung Geld sparen muss, werden die Lebensmittelpakete, die mit der Lady E kommen, immer kleiner. Als Brooke 2007 hierhergezogen ist, gab es Saft, Gemüse und frisches Hühnchen. Heute enthält ein Paket eineinhalb Säcke Reis, einen halben Sack Mehl, drei Dosen Corned Beef, drei Dosen Fleisch, eine Dose Makrele, zwei Dosen Thunfisch, eine Sojawurst, drei Dosen Ananas, drei Dosen Pfirsiche, eine Packung Kondensmilch und zwei Packungen Müsli. Das muss für drei Monate reichen. Und wenn die Lady E, so wie dieses mal, ihre Abfahrt immer wieder verschieben muss, dann müssen die Menschen auf Eniwetok eben hungern.

Männer entladen Container
Geöffnete Kokosnuss
Eine Retterin namens Lady E: Männer bringen Lebensmittel vom Schiff.

In Eniwetok gibt es ein Auto, fünf Pick-up-Trucks, einen Bus und einen Wasserwerfer. Das Dorfzentrum besteht aus einer Wohnwagensiedlung und Wellblechbaracken. Die Bewohner nennen diesen Teil ihrer Insel "lab”, benannt nach dem “Enewetak Radiation Laboratory” dem strahlend weißen Labor des amerikanischen Energieministeriums. Es ist verlassen. Die meisten Marshaller wohnen auf der Insel verteilt in hundert nahezu identischen zweistöckigen Betonhäusern, die die Amerikaner für die Wiederbesiedelung gebaut haben.

Etwa 500 Menschen leben heute auf der Hauptinsel. An Weihnachten können es auch 700 sein. Die extra 200 wechseln sich auf der Rückfahrt mit der Lady E beim Schlafen ab, so eng ist es dann auf dem Schiff.

Das Atoll ist offiziell pleite. Die vierteljährlichen Zahlungen aus dem Treuhandfonds, den die Amerikaner zur Kompensation für die Atomtests eingerichtet haben, werden immer kleiner. Aktuell sind es 98 Dollar für Brooke, Mores und die Kinder. 

Haus in der Nacht
Leben in Eniwetok: Das Geld ist schon lange veschwunden.

Das war nicht immer so: Mores ist auf einer Insel aufgewachsen, die in Geld schwamm. Das Land seiner Vorfahren kannte er nur aus Erzählungen der Älteren. Sie hatten Tausende Dollar für den Verlust von ihres Landes bekommen. Für eine Gesellschaft, die erst so kurz vorher, und nur mit halbem Herzen, auf ein monetäres Wirtschaftssystem umgestiegen war, hatte der Reichtum verheerende Auswirkungen. Jeder hatte ein Auto, es gab Geschäfte und es wurde gespielt. Als Kind gewann Mores 2000 Dollar beim Billiardspielen im Restaurant seiner Schwester. Niemand sparte auch nur einen Cent.

Das Geld ist schon lange veschwunden. Mores' Schwester hat Land auf Hawaiis Big Island gekauft und ist dorthin gezogen. Brooke hat ihren Billiardraum in ein Wohnzimmer umfunktioniert. „MORES“ ist immer noch in den Zementboden geritzt, kindliche Großbuchstaben. Alle, mit denen er aufgewachsen ist, sind schon weg. Alle, die es sich irgendwie leisten konnten, sind längst woanders hingegangen.

„Eines Tages wird das Boot hier anlegen, und vielleicht 50 von uns werden noch hier sein“, sagt Mores. „Und am Ende bleibt keiner hier, in keinem einzigen der Häuser.“ Er zeigt auf die Gebäude um ihn herum.

„Alle werden die Türen hinter sich zuziehen und gehen.”

Und dann wird alles leer sein.