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Kapitel 3

Für immer verloren

Von Jan Hendrik Hinzel, Coleen Jose und Kim Wall

A

n diesem Nachmittag ist das Meer vor Kili so ruhig, dass Bonita Johnson den Warnungen nicht mehr glauben mag. Sie entscheidet sich, in die Kirche zu gehen. Natürlich hat sie die Geschichten von der großen Flut in Majuro gehört. Aber die Hauptstadt der Marshallinseln liegt fast 300 Kilometer entfernt. Hier auf Kili, sagt sich Bonita, hier wird nichts passieren. Sie betet.

Wenn die Flut kommt, kommt sie nicht in einer gewaltigen Welle. Der Meeresspiegel steigt langsam an, als füllte jemand eine Badewanne. Das bemerkt Bonita auf dem Heimweg von der Kirche. Zwanzig Minuten später reicht das Wasser bis zu den Knöcheln, noch mal eine halbe Stunde später bis zu den Knien. Der Ozean, grau und voller Müll, bahnt sich seinen Weg an Orte, die er noch nie erreicht hat. Entlang der Straßen dringt er in die Häuser und schluckt alles, was er zu fassen bekommt. Bonita stürzt ins Wohnzimmer, um ihre Habseligkeiten zu retten, bis ihr Mann sie aufs Dach in Sicherheit bringt. Dort stehen sie und fühlen sich wie auf einem Schiff. Überall um sie herum nur Wasser.

Die Bewohner der Marshallinseln leben schon immer auf Meereshöhe. Ihre Vorfahren überquerten vor Jahrtausenden den Pazifik und besiedelten ein Atoll nach dem anderen. Heute, mehr als 3000 Jahre später, bedroht es die Zukunft der Bewohner - und die Existenz der Inseln.

Überschwemmungen gab es auf den 29 Atollen und drei Inseln, die zusammen diesen winzigen Pazifikstaat ergeben, schon immer. Ebbe und Flut sind ein täglicher Bestandteil des Lebens. Und alle paar Monate, wenn Sonne und Mond besonders nah an der Erde sind, wiederholt sich ein Phänomen, das hier „King Tide” genannt wird, die Königsflut. Dann steigt das Wasser höher als sonst. Mit dem Anstieg des Meeresspiegels wird das zum Problem. Die Königsflut, die Bonitas Haus im März 2014 verwüstet hat, war eine der schlimmsten, an die sich die Menschen hier erinnern können.

Überflutete Bäume
Die KönigsFlut im März 2014 zerstört die Insel Kili.

Derzeit leben 800 Menschen auf Kili. Seit 2011 wurde ihre Insel jedes Jahr von einer Königsflut überschwemmt. 2015 sogar zwei Mal. Die meisten Pflanzen sind mittlerweile tot oder am Sterben, alle Frischwasserquellen versalzen - und weitere Flutwellen werden kommen. Ihre Insel, das weiß Bonita, wird unbewohnbar werden.

Nun trifft sich die Weltgemeinschaft in Paris, um über ein neues Klimaabkommen zu verhandeln. Das erklärte Ziel: Die Erde soll sich - im Vergleich zur vorindustriellen Zeit - nur um zwei Grad erwärmen. Steigt die Durchschnittstemperatur über diesen Wert, befürchtet der Weltklimarat schon in wenigen Jahrzehnten unabsehbare und unumkehrbare Folgen.

Die Bewohner der Marshallinseln haben so gut wie nichts zur Erderwärmung beigetragen, aber sie sehen die unumkehrbaren Folgen schon jetzt vor ihrer Haustüre. Sie sehen, wie der Ozean das knappe Land vom Ufer frisst und die Fundamente ihrer Häuser untergräbt. Sie sehen, wie sein Salz die Böden zerstört und die Brotfruchtbäume vertrocknen lässt. Sie ahnen, dass ihre Heimat spätestens in ein paar Jahrzehnten unbewohnbar sein wird.

Der Meeresspiegel steigt schon jetzt Jahr für Jahr um mehr als drei Millimeter. Bis zum Jahr 2100 können es mehr als 80 Zentimeter sein, befürchtet der Weltklimarat. Für die Marshallinseln wäre das schon viel zu viel. Bei 62 Zentimetern lägen weite Teile der Hauptstadt unter Wasser.

Überflutungskarte Überflutungskarte

Andere Forscher halten die Schätzungen des Weltklimarats für viel zu optimistisch. James Hansen zum Beispiel. Er war einer der ersten Wissenschaftler, der eindringlich vor den Gefahren des Klimawandels warnte. 1988 trat Hansen vor den US-Senat und erklärte: Der Klimawandel hat begonnen und der Mensch ist mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit dafür verantwortlich.

Daran zweifelt inzwischen kein ernsthafter Wissenschaftler mehr. Der Mensch bläst jedes Jahr mehr als 30 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Luft. Das Treibhausgas sammelt sich in der Atmosphäre und sorgt dafür, dass die Erde sich aufheizt. Gewöhnlich wird das an der Erwärmung der Temperatur auf der Erde abgelesen.

Aber der größte Teil der zusätzlichen Energie, etwa 90 Prozent, fängt der Ozean auf. 2014, das Jahr der großen Flut von Kili, war das Wasser der Weltmeere an der Oberfläche so warm wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen.

Was die Klimamodelle laut Hansen bislang zu wenig berücksichtigt haben: Das immer wärmer werdende Wasser der Ozeane könnte das Eis in Arktis und Antarktis viel schneller schmelzen lassen als bislang angenommen - und damit den Anstieg des Meeresspiegels dramatisch beschleunigen. Sollten die Industriestaaten aus Nordamerika und Europa und die aufstrebenden Schwellenländer wie China, Indien oder Brasilien die Kohlendioxid-Emissionen nicht deutlich senken, prognostiziert Hansen für das Jahr 2100 einen Anstieg des Meeresspiegels von mehreren Metern.

Für die Bewohner der Marshallinseln spielen diese Berechnungen keine Rolle mehr. Bonita weiß, dass sie ihr Land verlieren werden. Schon wieder.

In Gottes Hand

Bonitas Großmutter war zwölf Jahre alt, als sie zusammen mit weiteren 166 Bewohnern des Bikini-Atolls ins Exil vertrieben wurde. Kommandant Ben H. Wyatt wartete an jenem Sonntag im Februar 1946, bis die Kirche vorbei war. Dann versammelte er die Bewohner des Atolls, um ihrem König Judo die alles entscheidende Frage zu stellen: Sind sie, die Bewohner von Bikini, bereit, ihr Atoll zu verlassen? Wyatt wählte seine Worte mit Bedacht. Er verglich die gläubigen Ozeanier mit den Kindern Israels, die Gott ins gelobte Land führte. Er versprach, alles geschehe „zum Wohl der Menschheit und um alle Kriege der Welt zu beenden”. Der König antwortete: „Alles ist in Gottes Hand.”

Wenige Monate später drückten die Amerikaner den roten Knopf und die größte Wasserstoffbombe der Amerikaner detonierte vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Mehr als einhundert Reporter dokumentierten den Moment, in der Bonitas Großmutter ihre Heimat für immer verlor.

Auf der anderen Seite des Pazifiks waren die Atomtests ein wichtiger Erfolg im Wettrüsten der Supermächte. Es gab Kuchen in Atompilzform, „Miss Atomic“-Schönheitswettbewerbe und eine skandalöse Badebekleidung, die nach dem Testgelände benannt wurde. Nach diesen Tagen des Ruhms gerieten die Marshallinseln und ihre Bewohner schnell in Vergessenheit.

Explosion der Atombombe Castle Bravo
Amerikas Atombombe gezündet "zum Wohl der Menschheit"

Die Flüchtlinge wurden erst auf einem Atoll verstaut, wo die Fische im Riff verseucht waren; dann in Zelten neben der Start- und Landebahn eines amerikanischen Militärstützpunkts. Erschöpft, verloren und von Heimweh geplagt, kehrten 139 von ihnen 1972 kurzzeitig auf ihr nuklear verseuchtes Atoll zurück. Entgegen der Beteuerungen der Amerikaner war die Strahlung höher als zulässig, und sie mussten erneut fliehen - auf die bis dato unbewohnte Insel Kili. Hier mussten die Einwohner Bikinis keine Rücksicht auf geltende Landrechte anderer Stämme nehmen. Der Nachteil: Kili ist nicht wie Bikini ein Atoll, das aus mehreren Inseln besteht. Kili ist eine einzige Insel. Ohne Lagune. Mitten im Ozean.

„Wir haben von unseren Eltern gehört, Kili sei nur vorübergehend unsere Heimat und dass wir eines Tages woanders hinziehen würden“, sagt Bonita. Sie haben die Insel nie verlassen. Ihre Großmutter, inzwischen 84 Jahre alt, ist nie nach Bikini zurückgekehrt. Sie erinnert sich an das Leben in einem Paradies, in dem niemand über verspätete Lebensmittellieferungen oder zu hohe Mieten grübeln musste. Das Atoll war ein Schlaraffenland, ein sich selbst versorgendes System, in dem die Vorräte niemals ausgingen: manche Inseln waren voller Vögel und Eier, die man sammeln konnte, andere voller Schildkröten und Kokoskrebse. Brotbäume und Palmen wuchsen im Überfluss.

Bonita – die auf Bikini Land besitzt, das sie noch nie gesehen hat – ist aufgewachsen mit Märchen aus dem Paradies und mit importierten Lebensmitteln aus Amerika: Dosenfleisch, Reis und Corned Beef.

Frau
BonitA Johnson weiss, dass sie Kili verlassen muss.

Das Atoll wird langsam sauberer. Das radioaktive Spaltprodukt Caesium, das Bikini vor allem belastet, hat eine Halbwertszeit von 30 Jahren. In 60 bis 80 Jahren könnte es wieder sicher sein, auf Bikini zu leben. Und doch gibt es für die Vertriebenen von damals keine Chance auf eine Rückkehr. Bevor das Bikini-Atoll wieder bewohnbar ist, wird es unbewohnbar unter Wasser liegen.

Nun sitzen die Bikini-Flüchtlinge und ihre Nachfahren auf Kili und erkennen, dass sie schon wieder fliehen müssen. „Wir hätten nie gedacht, dass wir irgendwann weg von hier müssen. Bis jetzt, jetzt passiert es tatsächlich”, sagt Bonita. Ihre Familie versucht sie zu überzeugen, in die USA auszuwandern. Aber Bonita will nicht. Noch nicht. “Wir sind hier aufgewachsen. Kili ist die einzige Heimat, die wir haben.“

Der Inselrat von Bikini hat den US-Kongress nun darum gebeten, eine Umsiedlung der Bewohner von Kili anderswo auf die Marshallinseln oder in die USA zu finanzieren. Kili ist nicht mehr sicher.

Im Ozean

Milner Oakney kennt sich aus mit Migration. Erst war er selber Migrant. Aber Amerika, das war nichts für ihn. Zurück auf den Marshallinseln fand er einen Job, der ihm gefiel: Er sollte Migration verhindern. Die Regierung wollte das Bildungssystem auf den äußeren Atollen verbessern, damit junge Familien dort bleiben. Milner koordinierte die Projekte, aber das Geld verpuffte, weil die Familien sich dann doch dazu entschieden, ihre Kinder in die Städte Majuro und Ebeye zu schicken, wo die Schulen besser ausgestattet sind. Oder weil sie gleich in die USA auswanderten.

Nun arbeitet Milner in einem Supermarkt in Majuro und fragt sich, wie es weitergehen soll. „Was passiert mit uns, den Letzten, die noch hier sind?“ Er steht im Haus seiner Tante und blickt aufs Meer. Wellen brechen über die Felsen. Sie haben schon einen großen Teil der Fassade zum Einsturz gebracht. In einem der Zimmer rauchen Teenager Zigaretten und Marihuana, während Männer rein- und rausschlendern, um zu rauchen und zu trinken, manche von ihnen noch verkatert vom vorherigen Abend.

Er war ein kleiner Junge, als seine Tante anfing, das Haus zu bauen. Damals war es ein Rückzugsort von den überfüllten Zimmern seines Elternhauses. Heute ist es Zeuge von drei verheerenden Fluten. Die Flut 2008 hat Milner am eigenen Leib erfahren. Er schlief draußen, als er vom kalten Wasser des Pazifiks geweckt wurde. Es folgten zwei weitere zerstörerische Überschwemmungen 2010 und 2014. 

Die einzige Hoffnung für die Bewohner Majuros sind Dämme. Ein Nachbar hat 3000 Dollar investiert, doch die nächste Flut machte aus dem Damm ein rechteckiges Becken, dass die Kinder nun als provisorischen Swimmingpool nutzen. Die meisten hier können sich aber nicht einmal die Baumaterialien leisten. Und wer es schafft, ein paar tausend Dollar zu sparen, investiert sie meist in Flugtickets nach Amerika. „Der Plan A für viele ist, nach Arkansas zu ziehen und dort ein besseres Leben zu haben“, sagt Milner.

Er steht auf einem Felsvorsprung und zeigt auf den Friedhof. Knapp zehn Meter Land sind hier schon verlorengegangen und nur ein kleiner mit Sand aufgeschütteter Wall trennt den Ozean von den Toten. Mit jeder Flut muss er neu aufgeschüttet werden. Und mit jeder Flut kommt die Angst, dass ein weiteres Grab ins Meer erodiert. Dann treiben die Knochen weg - in den Ozean, zwischen Müll und Tierkadavern.

Nicht mal im Tod dürfen die Marshaller an einem Ort bleiben.

Die Flüge, die das Land verlassen, sind seit Wochen ausgebucht. Seit die Amerikaner auf den Atollen Atombomben getestet haben, dürfen die Bewohner der Marshallinseln in die USA auswandern. Das Bürgerbüro in Majuro, das die notwendigen Reisepässe ausstellt, ist völlig überlastet. Aber wer endlich einen Pass, ein Ticket und einen Platz im Flieger hat, der hat die Chance auf einen Neuanfang.

Für die Bewohner anderer Atoll-Staaten wie Tuvalu oder Kiribati ist das schwieriger. Im Gegensatz zu Flüchtlingen, die Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen, genießen Menschen, die vor dem Klimawandel fliehen, kein Recht auf Asyl. Wie groß das Problem der Klimaflüchtlinge werden kann, lässt sich nur schwer abschätzen. Etwa 100 Millionen Menschen leben weniger als einen Meter über dem Meeresspiegel. Zum Vergleich: Weltweit sind nach UN-Schätzungen derzeit 60 Millionen Menschen auf der Flucht.

Migration ist tief in der ozeanischen Kultur verwurzelt. Jahrhundertelang haben die Inselbewohner den Pazifik durchquert, um ihren Horizont Atoll für Atoll zu erweitern. Die Seefahrer waren stolz, die besten Kanus zu besitzen - aus Baumstämmen geschnitzte Boote mit Segeln aus Palmblättern - und von Sternen geleitet die Meere zu erkunden.

Doch was hilft ihnen das bei der Herausforderung, die nun vor ihnen liegt? Wie sollen die stolzen Seefahrer leben, wenn ihre Inseln untergehen? Und wo? Mehr als ein Viertel der gesamten marshallesischen Bevölkerung lebt schätzungsweise bereits in den USA. Viele von ihnen weit weg vom Meer in Arkansas, um Hühnchen und Truthähne zu schlachten.

Für Milner ist das keine Option. Er will bleiben, solange es geht.